Missbrauch in Heimen - Ein katholisches Phänomen? (I)

In diesem ersten Teil stehen die Organisation und die interne Struktur der Heime im Zentrum: Dargestellt werden die Situation der Zöglinge sowie das Verhältnis zwischen dem (männlichen) leitenden Personal und den Schwestern.

Katholische Kinderheime wie Rathausen und Fischingen – um nur zwei der jüngsthin bekannt gewordenen «Fälle» zu erwähnen – gehören zu einem wenig erforschten Kapitel der jüngsten Schweizer Geschichte. Für beide Heime finden sich Berichte und Erzählungen von Heiminsassen, in denen sexuelle Übergriffe, Gewaltanwendungen und Lieblosigkeit erwähnt werden. Diese von ehemaligen Heimkindern berichteten Erfahrungen haben – zusammen mit dem «Verdingkinderwesen» – die Schweizer Öffentlichkeit schockiert.

Allerdings wäre es falsch, die kritisierten Zustände einzig in der Schweiz zu vermuten, vielmehr handelt es sich bei diesen in stationären Einrichtungen stattgefundenen Missbräuchen um ein «globales Phänomen». Denn Ähnliches wird auch aus anderen (katholischen) Heimen in entwickelten Ländern der nordischen Hemisphäre wie etwa Irland, Kanada und auch Deutschland berichtet. Zum Teil ist die Aufarbeitung dieser traurigen Vergangenheit aber in diesen Ländern weiter fortgeschritten.

Die Missbrauchssituation

Gleichzeitig fanden auch in religiös anders ausgerichteten Kinder- und Jugendheimen Missbräuche statt – wie zum Beispiel im thurgauischen Heim Kalchrain. Missbrauchssituationen waren also grundsätzlicher Natur und auf strukturelle Faktoren wie die wirtschaftliche und soziale Situation in einem Land zurückzuführen.1 Die Industrialisierung und ihre Folgen dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben, resultierte doch durch die Auflösung traditioneller Strukturen (Dorfgemeinschaften) sowie das Wirtschaftswachstum einerseits eine Bevölkerungszunahme und anderseits eine verstärkte Mobilität. Dazu erforderte die Einschliessung von Menschen in den Fabriken sowie deren Entwurzelung durch die Mobilität im Zeichen einer Förderung des Wirtschaftswachstums wiederum disziplinierende Massnahmen.

Diese globale Sicht ändert nichts an der Tragik des Einzelschicksals und darf auch nicht dazu führen, die zum Teil menschenverachtenden Situationen in den einzelnen Heimen zu relativieren. Aber eine globale Sicht kann vielleicht helfen, die Strukturen, welche missbräuchliches Verhalten begünstigten, etwas besser zu verstehen.

Heime – eine abgeschlossene Welt

Kennzeichen der Situation der Jugendlichen und Kinder in den Heimen der Zwischen- und Nachkriegszeit war – so geht aus den Berichten ehemaliger Heiminsassen hervor – ein Gefühl der Ausgeschlossenheit und der Entwertung. Konkret: «fehlende Zuwendung durch Bezugspersonen, ein Gefühl der Ohnmacht und des Alleingelassenseins; Gefühle der Diskriminierung und Zurücksetzung (…), die Erfahrung von Strafe und Gewalt, ebenso sexueller Missbrauch; die für viele erlebte Armut; der Stellenwert der Religion; die problematischen Seiten der Vormundschaftsbehörden; das Gefühl der Willkür und des Ausgeliefertseins; die abgeschottete Situation im Heim; der Stempel als Heimkind und die damit verbundene Zurücksetzung in Gesellschaft und Schule ausserhalb des Heims». Dies die Ergebnisse einer Forschung im Kanton Luzern, die weniger dem Einzelfall verhaftet war, sondern vielmehr die Situation der Kinder- und Jugendheime im Kanton beleuchtete und sie als Ganzes darzustellen versuchte. Diese Forschung wurde unter der Leitung von Markus Furrer im Auftrag des Gesundheits-und Sozialdepartementes Luzern erstellt. Auch die theologische Fakultät Luzern leistete einen Beitrag.2

Überforderung des Personals

Nimmt man diese Aussagen als Basis für eine erste Einschätzung, handelte es sich beim Heim um ein System, das zumindest teilweise ausserhalb der Gesellschaft stand und so auch anfälliger wurde für unkontrollierte, extreme Verhaltensweisen.

Allerdings ist die Geschichte der Heime bis heute noch nicht umfassend aufgearbeitet worden. Es ist daher unklar, ob die Heime, zu denen vertiefte Untersuchungen vorliegen, einen Extrem- oder den Normalfall darstellen und ob die bis heute bekannt gewordenen Fälle von Missbräuchen und Lieblosigkeiten in den beiden Kinderheimen Rathausen und Fischingen Ausnahmeerscheinungen sind.

Ergänzend zu diesen Untersuchungen wurde in jüngerer Zeit auch die Situation der Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen näher unter die Lupe genommen, wobei hier zum Teil Verhaltensmuster beschrieben werden, wie sie auch in Rathausen und Fischingen bestanden. All diese Untersuchungen geben einen Einblick in eine weitgehend abgeschottete Welt.3

Geprägt war dieses System von Überforderungen, die zum Teil auf einem religiösen Sendungsbewusstsein gründeten. Denn erst die Überzeugung, das Richtige zu tun, förderte die weitgehend bedingungslose perönliche Hingabe des Heimpersonals, ermöglichte die Bereitstellung all der Ressourcen (Geld, unentgeltliche Leistungen usw.), welche das Heimwesen am Leben erhielt, ja zum Teil sogar einen Ausbau in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit (Zwischenkriegszeit) ermöglichten. Die Heime dienten jeweils zur Darstellung der idealisierten christlichen Nächstenliebe im Schosse der katholischen Kirche. Der Benediktinerpater Gregor Jäggi beschreibt in seiner Geschichte des Bistums Basel die «Schaufensterfunktion» der in den Heimen tätigen Schwestern, die hier vorwiegend die schwierige und auszehrende Arbeit der Betreuung der Jugendlichen und Kinder leisteten: Dabei gaben sie – so Jäggi – «ein Beispiel christlicher Demut ab, das apostolischer wirkte als die Predigten der Pfarrer».4 Ohne die praktisch kostenlose Arbeit der Schwestern (Ingenbohl, Menzingen, Baldegger Schwestern usw.) wäre der Betrieb der Heime in der Zwischen- und in der Nachkriegszeit nicht möglich gewesen.

Patriarchale Betriebsstrukturen

Demut und Unterordnung unter männlicher Herrschaft waren ein konstituierendes Element der schwesterlichen Arbeit. Die Heime führten überwiegend Geistliche als Direktoren, denen je nach Grösse des Betriebes noch ein Präfekt oder auch weltliche Hilfskräfte (vorwiegend im Landwirtschaftsbetrieb und als Lehrer) beigegeben waren. Die eigentliche Erziehungsarbeit versahen Schwestern aus der Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen. In Fischingen waren es bis Ende 50er-Jahre jeweils rund 15 Angehörige der Menzinger-Gemeinschaft, während dem Heim ein Benediktinerpater vorstand. In Rathausen – mit 215 Plätzen das grösste Heim des Kantons Luzern – dienten jeweils 19 Ingenbohl- Schwestern.

Die Schwestern hatten zum Teil übermenschliche Arbeitspensen zu erledigen, da sie häufig Gruppen von bis zu zwanzig Kindern rund um die Uhr betreuen mussten und es für sie keine Ablösung gab – dies im Gegensatz etwa zu den Patres. 1947 beklagte sich die Generaloberin von Menzingen in einem Brief an den Abt von Engelberg, der jeweils die Patres, die dem Kinderheim vorstanden, bestimmte, dass die Schwestern «über ihre Kräfte arbeiten müssten auf Kosten ihrer Gesundheit». Bezeichnenderweise flüchteten nicht nur Heimkinder aus den Institutionen, sondern auch die sie betreuenden Schwestern.5

Das männliche, geistliche Führungspersonal setzte sich für seine Privilegien und Machtposition ein. In Rathausen zog beispielsweise der Direktor nach und nach die Austeilung und Ausführung von Strafen an sich und beschränkte so auch die Erziehungs-Kompetenzen der Schwestern. Und in Fischingen wirkte sich das hierarchische Gefälle bis auf die Nahrungsmittel aus, berichtete doch eine der Schwestern, dass die Patres besseres Essen gehabt hätten als sie.6 So widerspiegelten die Geschlechterverhältnisse in den Heimen auch die gesellschaftlich untergeordnete Position der Frauen.

Massenbetrieb

Ob es sich bei den Heimen mehrheitlich um «Königreiche» mit patriarchaler, geistlicher Führung oder um eigentliche Strafanstalten unter dem Schutzschirm der Kirche gehandelt hat, ist nicht immer klar auszumachen. Vor allem das immer wieder diskutierte Heim Rathausen zeichnete sich auch aus der Sicht zeitgenössischer Fachleute zumindest in den 40er-Jahren durch ein harsches Strafsystem aus, das auf einem nicht kindergerechten, militärisch organisierten Betrieb gründete. So berichtete etwa eine Untersuchungskommission im Jahre 1949: «Rathausen trägt mit Unrecht den Namen Heim. Es ist eine Anstalt alten Stils, ein Massenbetrieb, bei dem die individuelle Behandlung der Kinder zu kurz kommt und die pädagogische Haltung in einem undifferenzierten System festgehalten ist. An positiven Erziehungsmitteln wie Vergünstigungen, Pflege des Gemütes, der Wohnlichkeit, des Ästhetischen, ist recht wenig zu spüren, während die negativen Erziehungsmittel wie Strafen einen zu grossen Raum einnehmen. Die Strafen sind gemessen an den Vergehen zu hart und zu undifferenziert. Die Motive der einzelnen Vergehen werden zu wenig berücksichtigt, es scheint überhaupt nicht individuell gestraft zu werden. Die viel zu oft erteilten körperlichen Züchtigungen sind ausser einigen wenigen affektiven Überbordungen beim Personal mehr ungeschickt als brutal. Das Tatzengeben scheint an der Tagesordnung zu sein. Für das Fluchen beispielsweise läuft ein Ring (Fluchring) herum, den jedes Kind einem anderen Kind, das einen Fluch gesagt hat, weitergeben darf. An den Abend- und Wochenrapporten in den Abteilungen werden dann die Kinder, die im Besitze des Fluchrings waren, vom Direktor oder dem Präfekt mit einer Tatze bestraft. Wenn solche Strafen bei einer Zahl von ca. 200 Kindern sich immer wiederholen, so besteht die Gefahr der routinemässigen Erledigung und des Leerlaufes. Die an die Kinder gerichteten Warnungen moralistischer Art werden dabei nichts ändern.

Eine weitere verwerfliche Strafe ist das Einsperren in sog. «Bunker». Der «Bunker» ist eine Zelle mit sehr wenig Licht, eigentlich eine Dunkelzelle, die keinerlei Mobiliar enthält. Es soll vorgekommen sein, dass die Kinder ihre Bedürfnisse auf dem Boden verrichten mussten, weil man vergessen hatte, einen Topf in die Zelle zu bringen. Die verbreitetste Strafart ist die Strafarbeit. Sie wird so häufig erteilt, dass man den Eindruck erhält, Strafarbeit sei notwendig, um die Arbeiten in Haus und Hof überhaupt bewältigen zu können. Im Milchhof beispielsweise werden die Sonntagsarbeiten im Stall fast hauptsächlich als Strafarbeiten verrichtet. Man hat den Eindruck, dass diese primitiven Strafmassnahmen die hauptsächlichsten pädagogischen Handlungen darstellen. Die Strafe ist in Rathausen zu einer Gewohnheit, zu einem System geworden, auch sie ist ein Teil des in einer Schablone festgefahrenen Massenbetriebes.7

Nicht ein Gegner katholischer Institutionen verfasste diesen Bericht, sondern Johann Frei, Prälat und Direktor des Kinderheimes Iddaheim in Lütisburg, der sich hier als Erneuerer der Erziehung positionierte, indem er anstelle des Massenbetriebs eine Individualisierung propagierte. Frei war als Präsident des damals wichtigsten Verbandes für Heime der Kinder und Jugendlichen, dem «Schweizerischen Hilfsverband für Schwererziehbare» (heute Integras) und Ehrenpräsident des SKAV (Schweizerischer Katholischer Anstalten-Verband) die zentrale Figur für diese stationären Institutionen. Bereits in den 20er-Jahren hatte er für die Einrichtung von kleineren Einheiten in den Heimen («Familie» unter dem Vorsitz einer Schwester) plädiert. Aber die Durchsetzung dieses Familiensystems scheiterte an den fehlenden Ressourcen.

Zum Teil war der Mangel an Geld ideologisch bedingt. Denn entsprechend den Vorstellungen von «Caritas» wurde die Armut gepriesen. Ausreichend Geld für die Heime – vor allem von staatlichen Stellen – zu beschaffen, wurde lange als Ausdruck von verpöntem materiellem Denken empfunden. So meinte der Präsident des Katholischen Anstalten- Verbandes, Alois Fuchs, um 1944: «Es hängt bei der guten Anstalt nicht so sehr davon ab, wie die äussere Ausstattung ist, sondern in erster Linie hängt die gute Anstalt mit dem guten Geist der Anstaltsleitung zusammen. Da kann auch mit bescheidenen Mitteln vieles geleistet werden.»8

In den 1950er-Jahren wurde nun versucht, in Rathausen – ähnlich auch wie in dem in diesen Fragen aufgeschlossenen Iddaheim in Lütisburg – ein Familiensystem einzuführen. Aber auch hier fehlten die Mittel. Zudem blieb eine hierarchische Struktur bestehen, welche die Macht zunehmend beim Direktor konzentrierte. In Fischingen verlief die Entwicklung ähnlich: 1957 kündigte die Generaloberin der Menzinger Schwestern das Abkommen mit dem Heim St. Iddazell. An ihre Stelle traten die Benediktinerschwestern aus dem Kloster Melchtal. Auf die Krise und die daraus resultierende Kritik wurde mit einer Verhärtung reagiert: Die Hierarchie wurde verstärkt oder ausgebaut – dies zulasten der betreuten Kinder und Jugendlichen.9 Diese Entwicklung erfolgte wie in anderen Institutionen, in denen auf Schwierigkeiten vorerst nicht mit Reformen, sondern mit mehr Kontrolle und stärkerer Disziplinierung reagiert wurde.

Patriarchale Strukturen und das Armutsideal: Da an der Spitze der Hierarchie vorwiegend ein streng religiöses Leitbild vorgegeben wurde, erschwerte der hierarchische Aufbau innerhalb der katholischen Kirche eine zeitgemässe Anpassung der pädagogischen Arbeit auf der Basis der alltagspraktischen Erfahrungen. Es waren vor allem theoretische Überlegungen, welche das Leben in den Heimen prägte. 

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1 Vgl. dazu etwa Beobachter, 12. Oktober 2011.

2 Martina Akermann / Markus Furrer / Sabine Jenzer: Bericht Kinderheime im Kanton Luzern im Zeitraum von 1930 –1970. Schlussbericht zuhanden des Regierungsrats des Kantons Luzern unter der Leitung von Markus Furrer von 2012, 8.

3 Unabhängige Expertenkommission Ingenbohl (2013): Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen.

4 Gregor Jäggi: Das Bistum Basel in seiner Geschichte: Die Moderne. Strasbourg 2013, 118.

5 Thomas Meier u. a.: Kinderheim und Sekundarschule St. Iddazell. Historische Untersuchung. Bericht zuhanden des Vereins Kloster Fischingen, 123.

6 Ebd., 66.

7 Akerman-Furrer-Jenzer (wie Anm. 2), 114.

8 Wolfgang Hafner: Pädagogik, Heime, Macht – eine historische Analyse. (Integras) Zürich 2014, 112.

9 Meier u.a. (wie Anm. 5), 68 ff.

Wolfgang Hafner

Wolfgang Hafner

Wolfgang Hafner ist Wirtschafts- und Sozialhistoriker und arbeitete in unterschiedlichen wissenschaftlichen Projekten mit, u. a. mit Prof. Heinz Zimmermann über einen Mathematiker aus Triest, der ein frühes Modell zur Berechnung von Preisen für Börseninstrumente entwickelte, dazu auch Arbeiten zur Solothurner Regionalgeschichte. Seine Spezialität ist die Einbindung sozialer und kultureller Phänomene in einen zeitgeschichtlichen Horizont.