Migrationsland Schweiz

Die Diskussion über Migration verläuft oft in eingefahrenen Bahnen. Francesco Papagni las das Buch «Migrationsland Schweiz», das neue Anstösse vermittelt.1

Die Vorschläge atmen einen liberalen Geist. Walter Leimgruber schlägt vor, demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger auszuweiten, Martina Caroni will die rechtliche Stellung der Sans-Papiers verbessern. Margrit Osterloh und Bruno S. Frey entwickeln aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften ein Modell, mit dem Migration über Eintrittsgebühren gesteuert und damit legalisiert werden soll. Die Philosophin Anna Goppel stellt eine Grundannahme der Migrationsdebatte in Frage, nämlich das Recht jedes Landes, die Immigration selbst zu steuern. Sie stärkt die berechtigten Ansprüche der Migrantinnen und Migranten. Das ist kein konkreter Vorschlag, denn das Recht einer jeden Gesellschaft, selbst zu bestimmen, wen sie aufnehmen will (Ausnahme, die an Leib und Leben bedroht sind), wird im politischen Diskurs von keiner etablierten Partei bestritten. Als theoretischer Beitrag hat aber dieser Text seine Berechtigung.

Die politische Machbarkeit steht bei den Vorschlägen nicht im Fokus. So ist die Ausweitung der demokratischen Rechte auf Nicht-Staatsbürger in der Schweiz zurzeit kein Thema. In der römisch-katholischen Kirche des Kantons Zürich ist das Stimm-und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer aber Realität. Und in der EU ist die transnationale Staatsangehörigkeit ebenfalls Tatsache: Der Pass ist ein EU-Dokument und zugleich ein Dokument des jeweiligen Landes. Die Niederlassungsfreiheit in der ganzen EU stellt ein Recht dar, das aus dieser transnationalen Staatsangehörigkeit folgt.

Die Sans-Papiers-Frage

Martina Caronis Vorschläge, die Stellung der Sans-Papiers als heterogene Kategorie, in der abgewiesene Asylbewerber ebenso vorkommen wie langjährig in diesem Land Lebende, die in Privathaushalten gebrechliche Einheimische betreuen, zu verbessern, sind bedenkenswert, aber halbherzig. Die Lösung des gordischen Knotens, die Legalisierung der Sans-Papiers nach klaren Kriterien, verwirft sie als politisch nicht möglich. Dabei haben wir hierzulande nie eine Legalisierungsdiskussion geführt. Die Legalisierung jener, die stabil einer Erwerbsarbeit nachgehen und über eine angemessene Unterkunft verfügen, hätte einen wahren Steuer-und Abgabesegen zur Folge, welcher die klammen Kassen entlasten würde. Wichtiger noch ist ein grundsätzlicher Gedanke, der vorgebracht werden müsste: Der Rechtsstaat darf keine Zonen der Illegalität dulden.

Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik

Den weitestgehenden Vorschlag präsentieren Margrit Osterloh und Bruno S. Frey. Sie wollen wegkommen von der jetzigen Steuerung der Migration über Repression und Abwehr, da diese schreckliches Leid über die Migrierenden bringt und wenig wirksam ist. Migrationswillige müssten einen bestimmten Beitrag direkt an die Zielländer zahlen und könnten legal und sicher einreisen. Probleme wie z. B. das Schlepperwesen wären aus der Welt geschafft. Angenommen, dass sich Migration nicht verhindern lässt, könnten die Zielstaaten Migration steuern ohne die enormen Kosten, welche ein Grenzregime verursacht. Der Einwand, mit diesem Modell könnten nur relativ wohlhabende Personen migrieren, wird mit dem Hinweis gekontert, dass auch unter den gegenwärtigen Bedingungen nur Menschen mit Geld flüchten können. Ausgleich böte allenfalls eine Aufnahme von Flüchtlingen mittels Quoten. Sie würde parallel zur Migration unter dem ökonomischen Modell erfolgen. Dieser Paradigmenwechsel ist prüfenswert, zumal die jetzige europäische Migrationspolitik nicht nur zu grossem Leid, sondern auch zu immer schärferen Spannungen zwischen den Ländern Europas führt. Der Bestand der EU ist gefährdet, weil einige Staaten sich weigern, in Italien und Griechenland ankommende Flüchtlinge zu übernehmen. Man wird nicht lange in dieser Situation verharren können.

Grenzen des technokratischen Ansatzes

So anregend das Buch ist, so sehr schmerzt die Abwesenheit der historischen Tiefendimension des Phänomens. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kennt die Schweiz Arbeitsmigration. Namentlich Menschen aus Italien blicken auf kollektive Erfahrungen zurück, die 120 Jahre zurückreichen. Weiter zurück reicht der Wille des Staates, die Zuwanderung zu kontrollieren. Und in die 60er-Jahre reichen die Versuche von James Schwarzenbach, die «Fremdarbeiter» mittels eines Referendums zurückzuschicken. Wie ist es möglich, dass ein Buch mit dem Titel «Migrationsland Schweiz» der Geschichte keine Beachtung schenkt? Hat die neue Migration nichts mehr mit der alten zu tun hat? Dennoch: Dieses Buch verlässt die eingefahrenen Bahnen der helvetischen «Ausländerdiskussion» und zeigt, dass einiges besser gemacht werden könnte, wenn wir denn nur wollten.

 

1 Christine Abbt, Johan Rochel (Hg.): Migrationsland Schweiz. 15 Vorschläge für die Zukunft. Baden 2016.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.