Migration: Fremde - Gastfreundschaft

 

Die Arbeit «Transit 68626» (Bild) von Tyrone Richards beschäftigt sich mit der unvorstellbaren Anzahl von Menschen, die heute durch Krieg in Not geraten. Für jede Person, die 2016 in der Schweiz in einem Asylverfahren stand, hat er eine Bostitch-Klammer in die Wand geschlagen. 68 626 Mal wurde die weisse, makellose Wand unterbrochen: ein Akt, der ihn an den Rand der Erschöpfung brachte.
Ähnlich ist es mit der Fremde. Die Begegnung mit dem Fremden wird auf der einen Seite oft als solche Unterbrechung des Reinen empfunden. Auf der anderen Seite geht sie vielfach durch Schmerz und Erschöpfung. Ihre Schönheit erscheint beiden oft erst mit Abstand.

Denn Freundschaft setzt Fremdheit voraus. Wenn man schon immer eins ist und sich nie fremd war, kann man intime Gemeinschaften bilden, sich aber nicht freund sein. Freundschaft ist ein bedingungsloses «Ja» zur Andersheit des Anderen. Ein Freund ist der Blick eines Anderen auf mich, der mich herausfordert. Er fordert mich heraus, hinter meiner Maske hervorzutreten, und er lädt mich ein, zu sich, in sein Haus.

Gastfreundschaft meint dabei nicht nur die Beziehung zu Fremden, sondern ebenso die zur uns entfremdeten Natur, zum Fremden im Nächsten, zum fremd gewordenen Göttlichen.
In solcher Gastfreundschaft kommt der Gast nicht nur «zu mir», er überschreitet die Schwelle meines Hauses und tritt ein, tritt in mich. Hier befreit der gute Gastgeber den Gast von der Last seiner Fremdheit, ohne sie zu zerstören. Die Fremdheit will beschützt und gehütet werden, sonst macht der Gastgeber den Gast zu seinesgleichen. Umgekehrt fügt sich der Gast nicht ganz ein, sonst entzieht er dem Gastgeber sein Gastgeschenk: seine Andersheit. Es ist die mitgebrachte Andersheit, die die Existenz des Gastgebers erweitert, und es ist der demutvolle Empfang, der den Schmerz der dauernden Fremdheit des Gastes lindert.

In Momenten der Gastfreundschaft kann der Gastgeber auch zum Gast des Gastes werden: Vom Licht dessen, was als Fremdes zu ihm eingetreten ist, kann sich der Gastgeber selbst aufgenommen fühlen, wie wenn er beim Gast erst ganz zu sich selbst käme. Und auch der Gast: Im Aufgenommensein und im Aufnehmen des Gastgebers bei sich hat der Gast erfahren, dass er nicht nur der Fremde ist. Indem er am nächsten Tag in die Welt heraustritt, erkennt er, dass er überall in der Welt bei sich zu Hause sein und sie zu sich einlassen kann.

Doch diese Erzählung gelingender Gastfreundschaft handelt nicht von den Geschichten derjenigen der 68 626, die zu uns als Fremde kommen und fremd bleiben. Auch nur eine einzige ihrer Geschichten zu hören, wird oft wie eine Zumutung empfunden. Der Abstand zwischen jeder einzelnen ungehörten Geschichte und der erlebten Zumutung ist ein Mass der Spaltung unserer Gesellschaft.

Robin Schmidt*

 

*Robin Schmidt (Jg. 1973) studierte Philosophie und Kulturgeschichte, danach Erziehungswissenschaft/Erwachsenenbildung mit Philosophie als Lehrfach. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er sucht in seinem Blog unter www.exteriority.ch nach Bedingungen und Möglichkeiten einer Digitalmoderne.