Migration – ein Gewinn für die Kirche

Das Thema Migration ist heute in Öffentlichkeit und Medien sehr präsent. In vielen Debatten zeigt sich allerdings, dass Teile der Bevölkerung der Schweizer Migrationspolitik mit Skepsis oder Unverständnis begegnen.

Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass ein Informationsdefizit darüber besteht, warum die Politik ein gewisses Mass an Migration befürwortet und welche Bevölkerungsgruppen genau zuwandern. So ist heute selbst vielen Katholiken gar nicht bewusst, dass die Religionsgemeinschaft, die zahlenmässig bisher am meisten von der Migration profitiert hat, ihre eigene ist.

Die drei treibenden Kräfte1

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass die Zuwanderung immer dann ihren Höhepunkt erreichte, wenn es der Wirtschaft gut ging. Die erste grosse Zuwanderungsbewegung erlebte die Schweiz bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein bedeutender Grund dafür lag im Wirtschaftsaufschwung, der die zweite industrielle Revolution begleitete und die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Nachbarstaaten begünstigte.

Eine zweite grosse Migrationsbewegung begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge des europäischen Wiederaufbaus. Auch hier löste eine günstige wirtschaftliche Entwicklung eine hohe Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften aus. Um diese Nachfrage zu decken, schloss die Schweizer Regierung mit verschiedenen Staaten bilaterale Verträge zur Rekrutierung von «Gastarbeitern» ab, die vor allem in der Industrie, der Landwirtschaft und der Baubranche aushelfen sollten.

Zunächst war es gar nicht vorgesehen, diese «Gastarbeiter» strukturell oder kulturell in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Vielmehr sollten sie nach einem temporären Arbeitseinsatz wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Erst Mitte der 1960er-Jahre wurde der Politik und Wirtschaft bewusst, dass der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften kein temporäres Phänomen darstellte, sondern ein strukturelles Phänomen moderner Wirtschaften war. Aufgrund dieser Erkenntnis rückte man schrittweise von der Gastarbeiter-Politik ab und versuchte stattdessen, die Zuwanderer in die Gesellschaft zu integrieren.

Während der Wirtschaft die Rolle des Motors der Zuwanderung zukommt, nimmt die Schweizer (Stimm-)Bevölkerung eher die gegenteilige Funktion ein. Immer wenn die Zuwanderungszahlen ein gewisses Ausmass erreichten, regte sich in der Bevölkerung Widerstand. Ende des 19. Jahrhunderts entlud sich dieser Widerstand teilweise noch in Form von gewaltsamen Ausschreitungen gegen Ausländer2, ab den 1960er-Jahren führte er eher zur Entstehung politischer Initiativen3.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kam mit der wachsenden Bedeutung internationaler Abkommen eine dritte Kraft hinzu, die sich auf die Migrationspolitik auswirkte. Internationale Verpflichtungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention und die bilateralen Verträge mit der EU gaben zunehmend den politischen Rahmen vor, der der Schweiz zur Verfügung stand, um die Migration zu steuern.

Als Kompromiss zwischen diesen drei Kräften – den Bedürfnissen der Wirtschaft, der Bevölkerung und den internationalen Verpflichtungen – führte die Schweiz in den 1990er-Jahren ein Migrationssystem ein, das die Zuwanderungsbedingungen an die Herkunftsländer der Migranten koppelte. Seit dem Jahr 2002 können Personen aus dem EU-/EFTA-Raum dank der Personenfreizügigkeit ohne grosse Hürden in die Schweiz ziehen, sofern sie hier eine Arbeitsstelle finden. Von ausserhalb des EU-/EFTA-Raumes wird die Zuwanderung stark eingeschränkt. Aus diesen Ländern ist mit wenigen Ausnahmen keine Zuwanderung vorgesehen.4

Die Schweizer Migrationsbevölkerung

Mitte des 20. Jahrhunderts sah sich die Schweiz – wie viele andere westeuropäische Staaten auch – mit der Aufgabe konfrontiert, dass sie für ihren wirtschaftlichen Bedarf Arbeitskräfte aus anderen Ländern rekrutieren musste. Während die ehemaligen Kolonialmächte Grossbritannien, Frankreich und Spanien Arbeiter aus ihren ehemaligen Kolonien heranzogen, schloss die Schweiz 1948 zunächst ein Rekrutierungsabkommen mit Italien ab. Später wurden ähnliche Abkommen auch mit Spanien, der Türkei, Griechenland, dem damaligen Jugoslawien und mit Portugal getroffen. Die Schweiz bemühte sich, die Herkunftsländer der Zuwanderer zu diversifizieren, damit die Arbeiter unter erhöhtem Konkurrenzdruck standen und keine politischen Forderungen stellen konnten.

Mit der zunehmenden Globalisierung der Migrationsströme ab den 1980er-Jahren hat sich auch das Migrationsregime leicht verändert. Doch da die Migrationspolitik europäischen Staatsangehörigen den Vorrang gab, blieb die aussereuropäische Migration bis heute auf einem niedrigen Niveau. So hatten 2016 lediglich 16 Prozent der in der Schweiz lebenden Ausländer eine aussereuropäische Staatsbürgerschaft (vgl. Abb. 1).5

Bedeutung für die katholische Kirche

Ein grosser Teil der in der Schweiz lebenden Migranten stammt aus Staaten, die aus historischen Gründen katholisch geprägt sind oder erhebliche katholische Minderheiten aufweisen. Dementsprechend hoch ist der Anteil der Katholiken unter den Migranten. Sie bilden mit 36,8 Prozent die grösste konfessionelle Gruppe unter den Migranten, gefolgt von den Konfessionslosen (29,3 Prozent), anderen christlichen Konfessionen (15,6 Prozent) und den Muslimen (13,4 Prozent).6

Damit ist die katholische Kirche also diejenige Religionsgemeinschaft, die zahlenmässig am stärksten von der Migration profitiert hat. Dies zeigt sich auch, wenn man die Entwicklung des Bevölkerungsanteils der Katholiken mit derjenigen der Evangelisch-Reformierten vergleicht (s. Abb. 2).

Beide Landeskirchen haben ähnliche Austritts- und Eintrittsraten. Da die katholische Kirche aber zahlenmässig mehr von der Migration profitieren konnte als die reformierte, hat sich ihr Anteil im Verlauf des 20. Jahrhunderts relativ stabil verhalten. Ohne die Zuwanderung wäre ihre Kurve ähnlich verlaufen wie diejenige der reformierten Kirche.
Für die katholische Kirche war die Migration also zahlenmässig ein grosser Gewinn, aber auch auf einer anderen Ebene: Katholische Migranten stammen oft aus weniger säkularisierten Kontexten und haben eine stärkere Bindung an die Kirche als viele Schweizer. Heute haben über 38 Prozent der Katholiken einen Migrationshintergrund7, und diese tragen viel zur Lebendigkeit der Kirche bei. Wer schon einmal eine Wallfahrt der tamilischen Mission in Mariastein oder das Frühlingsfest des Scalabrini-Säkularinstitutes besucht hat, kann dies bestätigen.

Auf der anderen Seite hat die katholische Kirche seit der Ankunft der ersten italienischen Arbeiter Ende des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle bei der Integration dieser Migranten gespielt. Als Teil der Weltkirche hat sie sehr gute Voraussetzungen, um Einheimische und Migranten zusammenzubringen. Damit dies aber auch in Zukunft geschehen kann, ist es wichtig, die Migrationsbevölkerung als integraler Bestandteil der katholischen Kirche der Schweiz zu sehen, und – sowohl in den fremdsprachigen Missionen wie auch in den Pfarreien – in ausgezeichnete Konzepte und Strukturen der Fremdsprachigen-Seelsorge zu investieren, um der zunehmenden Komplexität der Migration Rechnung zu tragen.

Simon Foppa

 

1 Quellen: Piguet, Etienne, Einwanderungsland Schweiz. Fünf Jahrzehnte halb geöffnete Grenzen, Bern 2006; Veuillemier, Marc, Art. Schweiz, in: Bade, J. Klaus u. a. (Hg.), Enzyklopädie der Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, 189–193; Bundesamt für Statistik BFS, Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz – Bericht 2008.

2 So z. B. im Käfigturmkrawall in Bern (1893) und im Italienerkrawall in Zürich (1896).

3 Beispiele hierfür sind die Schwarzenbach-Initiative (1970), die 18-Prozent-Initiative (2000) und die Initiative «gegen Masseneinwanderung» (2014).

4 Ausnahmen sind z. B. hochqualifizierte oder anerkannte Flüchtlinge.

5 Quelle BFS.

6 Ebd.

7 Ebd.
 


Simon Foppa

Simon Foppa (Jg. 1983) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut. Er hat in Basel und Freiburg i. Ue. Geografie, Ethnologie und Sozialwissenschaften studiert. Zurzeit promoviert er zu christlichen Migrantengemeinden.

 

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