Mariastein - Ein Wallfahrtsort mit Geschichte und Zukunft

Der Wallfahrtsort Mariastein existiert bereits seit dem 15. Jahrhundert und geniesst bis heute über die Landesgrenzen hinaus eine grosse Anziehungskraft. Doch die Zeichen des gesellschaftlichen Wandels werden zunehmend auch hier sichtbar. Katholische Gruppenwallfahrten, einst organisiert durch Pfarreien und Vereine, finden nur noch vereinzelt statt. Dagegen hat die Zahl der unterschiedlichsten Individualbesucher und der Wallfahrten katholischer Migrantengemeinden zugenommen. Eine bunte Schar von Menschen findet sich tagtäglich ein, Einheimische und Personen mit Migrationshintergrund, Menschen mit verschiedenen religiösen Prägungen und Menschen mit nichtreligiösen Bedürfnissen. Dabei fällt auf, dass die Mehrheit der Besucher den älteren Generationen angehört.

Ausgangslage

Seit geraumer Zeit verfolgen die Benediktiner die Veränderungen vor Ort und machen sich Gedanken darüber, wie sie den Wallfahrtsort in die Zukunft führen können. Die Klostergemeinschaft hat schon vor Jahren eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich um ein zukunftsfähiges Wallfahrtsleitbild bemüht. In diesem Zusammenhang wurde das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) in St. Gallen beauftragt, eine empirische Studie zu den verschiedenen Besuchergruppen und ihrer jeweiligen Wallfahrtspraxis durchzuführen. Im November 2014 konnten die Projektverantwortlichen, Dr. Eva Baumann-Neuhaus und Simon Foppa, nach einer längeren Feldstudie die Resultate vorlegen.*

Alte und neue Besucherprofile

In Mariastein präsentiert sich ein etwas anderes Bild, als man von den Ortskirchen gewohnt ist. An Sonn- und Feiertagen, aber auch während der Woche besuchen zahlreiche katholische Gläubige die Messe in der Klosterkirche, und die Felsengrotte mit ihrer Marienstatue erweist sich als Anziehungspunkt sowohl für Gläubige unterschiedlicher religiöser Traditionen als auch für alternativ Spirituelle und nichtreligiös orientierte Menschen. Die meisten verbinden mit dem Wallfahrtsort gute Erinnerungen und positive Gefühle.

Dabei finden nicht nur Katholiken aus dem Dreiländereck, die nach wie vor den grössten Teil der Besucherschaft ausmachen, hier eine religiöse Heimat. Auch viele Personen mit Migrationshintergrund unterschiedlicher religiöser Prägung finden in Mariastein Vertrautes, an das sie mit ihrem Glauben anknüpfen können.

Das rege Treiben vor Ort scheint den religionssoziologischen Befunden zur Lage der Religion in der Schweiz geradezu zuwiderzulaufen, denn hier sind nicht so sehr religiöse Distanzierung und Entfremdung, sondern ein hohes religiöses Interesse und eine vitale religiöse Praxis zu beobachten. Doch auf den zweiten Blick zeigen sich auch in Mariastein die Auswirkungen der gesamtgesellschaftlichen Trends hin zu Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung.

Generationenwandel bei den einheimischen Katholiken

Unter der traditionellen Besucherschaft, den einheimischen Katholiken aus der Nordwestschweiz, dem Elsass und dem südbadischen Raum finden sich heute verhältnismässig wenige Junge. Die Kluft zwischen institutionalisierter und individualisierter Religiosität, die sich generell im Umfeld traditioneller Religion abzeichnet und die zu einer wachsenden Entfremdung der jüngeren Generation von Kirche und Tradition führt, zeigt sich also auch hier im Umfeld der katholischen Wallfahrt.

Während die Vertreter der älteren Generationen, die noch selbstverständlich katholisch sozialisiert wurden, sich durch eine grosse Verbundenheit mit der katholischen Tradition und der kirchlichen Institution auszeichnen, gilt dies für die Jungen so nicht mehr. Die Sozialisierungsmechanismen in den Familien und Schulen, die einst für die Einführung und Eingliederung der Individuen in die Gemeinschaft der katholischen Kirche verantwortlich waren, brechen zusehends ab. Das religiöse Wissen schrumpft, und vertrauensbildende Erfahrungen mit der Kirche bleiben aus – diese bleibt fremd. Weil aber der Mensch seine in der frühen Lebensphase angelegte religiöse bzw. nichtreligiöse Identität im Laufe des Lebens kaum mehr grundlegend verändert, bleibt auch eine in dieser Phase eingespielte Distanzhaltung zu Kirche und Religion in der Regel ein Leben lang bestehen. Der Wandel in der religiösen Landschaft der Schweiz ist darum primär ein Wandel zwischen den Generationen.

Diese Entwicklung führt jedoch nicht zwingend in eine Areligiosität der Menschen. Sie kann auch in individualisierte Formen von Religiosität bzw. Spiritualität münden. Die Tendenz zur Individualisierung zeigt sich heute selbst unter denjenigen Katholiken, die sich selber als traditionell verstehen. Allein die Tatsache, dass auch sie in Mariastein zunehmend individuellen Interessen und Bedürfnissen folgen und seltener in Grossgruppen anreisen, weist darauf hin, dass der allgemeine gesellschaftliche Trend zu einer Wahl- und Konsumkultur auch ihr Verhalten prägt. Je jünger die Personen, desto stärker trifft dies zu. So hat etwa die Messe als kollektives Ritual für viele jüngere Katholiken ihren herausragenden Stellenwert weitgehend verloren. Wenn diese nach Mariastein kommen, dann um ihrem persönlichen Glauben Ausdruck zu verleihen, meist in der Stille, in der Introspektion und im persönlichen Gebet.

Orientierungshilfe für Menschen mit Migrationshintergrund

Im Unterschied zu den katholischen Besuchern aus dem Dreiländereck sind die Katholiken mit Migrationshintergrund durchschnittlich jünger. Sie kommen oft aus Ländern, wo die religiöse Sozialisation durch Familie und Kirche noch gut funktioniert. Ihre religiöse Identität ist darum oft stark ausgeprägt und mit dem Familienleben verknüpft. Die erste Einwanderungsgeneration kennt die Marienwallfahrt schon seit der Kindheit im Herkunftsland. Mariastein ist für sie darum ein Ort, an dem Erinnerungen und Gefühle an die Kindheit und die Familie wach werden. Diese Emotionen, aber auch das vertraute Ritual der Wallfahrt ermöglichen gerade unter den Bedingungen der Migration eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Herkunftsland und Residenzland. In Zeiten der Destabilisierung, wie sie oft von Angehörigen der ersten Einwanderungsgeneration erlebt wird, ermöglicht Mariastein den Menschen Momente der Selbstvergewisserung und der sozialen Teilhabe. Diese Erfahrungen erzeugen Gefühle von Kontinuität, Verbindung und Beheimatung.

Auch viele Angehörige der zweiten Einwanderungsgeneration kommen regelmässig nach Mariastein. Sie schätzen die Familientradition und finden ihren eigenen Zugang zum Ort. Da und dort zeichnet sich eine Bedeutungsverschiebung in der religiösen Einstellung und Praxis ab. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob diese Besuchergruppe mit der wachsenden Distanz zum Herkunftsland eine ähnliche Individualisierung und Distanzierung in Bezug auf Religion und Kirche erfährt, wie sie in der autochthonen Bevölkerung zu beobachten ist. Diese Frage kann zurzeit noch nicht mit Sicherheit beantwortet werden, denn es ist durchaus möglich, dass die starken familiären Bindungen und transnationalen Vernetzungen die intergenerationale Stabilität im Bereich der religiösen Tradierung in dieser Besuchergruppe nachhaltiger prägen als bisher angenommen.

Der Wallfahrtsort bietet aber nicht nur katholischen Migranten Anknüpfungsmöglichkeiten im Migrationskontext, sondern auch orthodoxen Christen, Hindus, Aleviten und Muslimen anderer Denominationen. Wie die Katholiken haben auch viele von ihnen schon in ihrer Heimat Marienpilgerstätten aufgesucht. Der Besuch der Gnadenkapelle stellt für sie darum keine neue religiöse Praxis dar, sondern die Fortsetzung einer vertrauten Tradition. Die Bedeutung, die Maria dabei zugesprochen wird, variiert von Religion zu Religion und sogar von Individuum zu Individuum.

Oase der Ruhe und der Selbstverortung

Unter den Besuchern von Mariastein finden sich heute auch viele Protestanten, alternativ Spirituelle sowie nichtreligiös orientierte Menschen. Sie besuchen mit Vorliebe die Grotte. Selbst wenn sie keinen Zugang zur Maria finden, schätzen sie diesen Raum der Stille und Ruhe, der Kraft und der Begegnung mit sich selbst oder mit Gott. Mariastein erlaubt ihnen, ihren Glauben oder Nichtglauben auf individuelle Art und Weise zu artikulieren bzw. zu inszenieren. Daher finden neben religiösen Menschen zunehmend auch allerlei Sinnsuchende, Kulturinteressierte und Naturverbundene hier einen Ort, an dem sie das erfahren können, wonach sie suchen – Stille, Orientierung, Trost.

Umbruch und neue Chancen

Angesichts der Entwicklungen muss angenommen werden, dass die katholische Besuchergruppe aus dem Dreiländereck in den nächsten Jahrzehnten zunehmend wegerodieren werden und die traditionelle Wallfahrtspraxis weiter an Bedeutung verlieren wird. Vermutlich werden die katholischen Migrantenwallfahrten diese Verluste mittelfristig zu einem gewissen Teil kompensieren können. Über die langfristigen Veränderungen der Besucherschaft und der Wallfahrtspraxis kann zurzeit aber nur spekuliert werden. Als Wallfahrtsort wird sich Mariastein aber schon deshalb nicht erübrigen, weil er auf verschiedenste Menschen, religiöse und nichtreligiöse, alternativ spirituelle und suchende, aber auch kulturell interessierte und naturverbundene, eine grosse Anziehungskraft ausübt.

Gerade in Zeiten von Hektik, Unsicherheit und Unübersichtlichkeit, aber auch in Zeiten der Entwurzelung, der biografischen Brüche und Krisen sind solche Orte für die Menschen zunehmend wichtig, denn sie kommen ihrer Sehnsucht nach Ruhe, nach Beheimatung und Orientierung, aber auch nach Hilfe und Trost entgegen. Hier werden für einen Moment die Gesetzmässigkeiten der Alltagsrealität ausser Kraft gesetzt. Diese Erfahrung stiftet Hoffnung und gibt vielen neue Kraft.

Es ist interessant, dass dieser Ort traditioneller Religiosität auch von Menschen aufgesucht wird, die ihren Glauben nicht mehr an Kirche binden wollen. Das zeigt, dass auch die individualisierten Formen von Religiosität bzw. Spiritualität angewiesen bleiben auf religiös besetzte Räume, denn religiöse bzw. spirituelle Orientierungen entstehen und existieren nicht im luftleeren Raum. Sie müssen an bereits vorhandene Repertoires religiöser Kommunikation anknüpfen. Mariastein ist darum gerade auch für kirchlich distanzierte und sinnsuchende Menschen von grosser Bedeutung.

Der Wallfahrtsort schafft ein Gefühl von Gemeinschaft. Menschen finden hier Gleichgesinnte, Menschen mit ähnlichen Schicksalen, Sorgen und Hoffnungen. Diese Gemeinschaft ist nicht vereinnahmend, aber trotzdem erfahrbar. Mit seinen vielen Anschlussmöglichkeiten ist Mariastein ein Ort der sozialen und religiösen Teilhabe, der unforcierten Begegnung zwischen unterschiedlichen Menschen, der Toleranz und Offenheit, des Gewahr-Werdens des anderen und damit des interkulturellen und interreligiösen Lernens. Die Bedeutung des Wallfahrtsorts für die Menschen in unserer pluralistischen Gesellschaft tritt aus all diesen Beobachtungen deutlich zutage.

Herausforderungen für die Zukunft

Die Ausstrahlung von Mariastein über die Landesgrenzen und die konfessionellen Grenzen hinweg ist gross, und die Besucher bleiben auch heute nicht aus, obwohl der schöne Ort etwas abgelegen liegt. Die Gründe für seine Beliebtheit sind einerseits in der religiösen, kulturhistorischen und touristischen Bedeutung des Ortes und andererseits in der Offenheit und Gastfreundlichkeit der Benediktiner zu suchen. Doch der gesellschaftliche Wandel macht die Betreuung der Besucher immer komplexer, denn diese zeichnen sich heute nicht mehr durch ein einheitliches kulturellreligiöses Profil oder ähnliche Interessen aus. Der generationenbedingte Wandel in der religiösen Landschaft der Schweiz verlangt auch nach einem Szenario für die Zukunft des beliebten Wallfahrtsorts.

Die Herausforderungen sind vielfältig, denn Innovationen bedeuten immer auch Investitionen. Sollen etwa neue Besuchergruppen angesprochen werden, sind zusätzliche zielgruppenspezifische Angebote erforderlich. Dafür braucht es personelle und finanzielle Ressourcen, die von der Klostergemeinschaft allein nicht mehr zur Verfügung gestellt werden können. Der mangelnde Nachwuchs und die Alterung der Gemeinschaft haben in den letzten Jahren zu einer kontinuierlichen Abnahme dieser Ressourcen geführt. Da das Kloster seit jeher ohne Kirchensteuern auskommen muss, ist die Gemeinschaft seit der Pensionierung vieler Ordensbrüder zunehmend auf Spenden angewiesen. Für die Zukunft des Wallfahrtsortes ist daher zu hoffen, dass die Benediktiner die nötige Unterstützung erhalten werden, die sie für die Weiterführung ihrer so wichtigen Arbeit brauchen.

Die Befunde der empirischen Studie haben vieles bestätigt, was die Mitglieder der Arbeitsgruppe seit Jahren beobachten. Die soziologische Einbettung der Beobachtungen in den grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang ermöglichen ihnen nun begründete und zukunftsgerichtete Entscheidungen bei der Überarbeitung ihres Wallfahrtsleitbildes. 

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* Langfassung: [datei13527]

 

 

Eva Baumann-Neuhaus / Simon Foppa

Dr. Eva Baumann-Neuhaus, die Projektleiterin der vorliegenden Studie, studierte in Basel Ethnologie und Kirchengeschichte und promovierte an die Theologische Fakultät der Universität Zürich in Religionswissenschaft. Seit 2010 ist Eva Baumann- Neuhaus wissenschaftliche Mitarbeiterin am SPI mit den Forschungsschwerpunkten Religionssoziologie und Religionsethnographie.

Der Projektmitarbeiter Simon Foppa studierte in Basel Ethnologie und Geographie. Seit 2010 ist er für einen interdisziplinären Master mit religionswissenschaftlichem Schwerpunkt an der Universität Freiburg i. Ü. immatrikuliert, wo er zurzeit eine Masterarbeit zu christlichen Migrationsgemeinden in der Schweiz schreibt. Seit April 2013 widmet er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am SPI den Arbeitsschwerpunkten Religion und Migration sowie der qualitativen empirischen Sozialforschung.