Hybris der Medizin

Zu ICSI, PID und PND

(ICSI = Intracytoplasmatische Spermieninjektion / PID = Präimplantationsdiagnostik / PND = Pränatale Diagnostik)

Medizin ist Allegorie eines ewigen Fortschrittsglaubens und Wunschdenkens geworden, aber auch Allegorie der Rat- und Orientierungslosigkeit, ewiger Unzufriedenheit, der Verdrängung. Hochmut und Realitätsverlust – "… wird nicht eben schliesslich eine Grenze erreicht, wo der Mensch erkennen muss, dass gottähnlich nicht gottgleich bedeutet?"1 Die medizinische Wissenschaft hat vieles hervorgebracht, das Bewunderung ausgelöst und sich bald als problematisch und zerstörerisch erwiesen hat. Eine schwierige Thematik, der man sich mit grosser Sensibilität nähern soll. Mit der Reproduktionsmedizin befinden wir uns unvorbereitet auf einer ethischen Gratwanderung. Das Begehen gefährlicher Pfade muss reflektiert und vorbereitet sein. Rechnen wir dabei auch mit dem Göttlichen? Die Medizin ist ein sozio-kulturelles System. "Die Geistesverwandtschaft von Medizin und Theologie ist begründet in Jesus Christus selbst, der durch seine Menschwerdung irdisches und ewiges Heil verbunden hat. Er ist unser ‹Heiland› geworden, er heilt uns – an Leib und Seele. In ihm fallen auch Gottes- und Nächstenliebe zusammen, da Gott selbst unser Nächster geworden ist. Alle Kirchenväter sahen in dem barmherzigen Samariter, der die Wunden des schwer Verletzten verbindet, ein Bild dieses uns heilenden Herrn, unseres Arztes."2 Der Beitrag ist kein Plädoyer für eine rückwärtsgewandte Medizin. Geschichte lehrt relativieren und bewahrt vor rückwärtsgewandten wie vorwärtsgerichteten Utopien. Historiker verweisen uns auf die Verpflichtung, Vergangenes zu reflektieren und zu kontextualisieren, um Neues verstehen zu können. "Die Medizin ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften verwurzelt. Diese stellen Heils-Konzepte (lat. salus, Heil) vor heilende (lat. reparare)."3

"Genitum non factum"

Zeugen – Testen – Töten? Ein "Tritonus" unserer Zeit? Eine provozierende Einleitung zu einem komplexen Problemkreis. Dieser beginnt schon bei der ICSI, nicht erst bei der genetischen Testung (PID). PID huldigt dem Perfektionismus, ihr Leitbild ist der somatisch makellose Mensch. Gesundheit ist jedoch weit mehr als Abwesenheit von Krankheit. Die sich abzeichnende Entwicklung macht in unserer radikal säkularisierten Welt eine Zusammenschau mit Ethik, Philosophie und Theologie und den interdisziplinären Dialog notwendig. Es geht um das beladene Schiff Medizinethik.4 Das uralte "Hippokratische Dreieck" verweist auf die komplexe soziokulturelle Wechselbeziehung zwischen Arzt, Krankheit und Patient. Die Medizin muss widersprüchlichsten Anforderungen aus Wissenschaft und Gesellschaft gerecht werden. Meine Entfaltungen sind lediglich ein fragmentarischer Beitrag auf der Suche der "Wahrheit" und nach ethisch verantwortbaren Lösungsansätzen.

Die Medizin, aus Barmherzigkeit und Helferwillen geboren, durfte im Laufe der Jahrhunderte segensreiche Erfolge verzeichnen, seitdem sie die Wege angewandter Naturwissenschaft verfolgt, doch zunehmend begeben sich gewisse Spezialfächer auch auf eine ethische und religiöse Gratwanderung, da sie den Menschen "verdinglichen" und damit auch Ärgernis erregen. Und sie induzieren damit auch Wünsche und Forderungen. Beispiele sind die Reproduktionsmedizin und die Pränataldiagnostik. Dem Arzt ist von Gott ein Leben anvertraut, kein Werkstück, sondern ein Mensch, der begleitet werden will, in seiner Obhut gesunden, Heilung erfahren soll. Heute leben wir in einer Zeit des "Optimierungswahns" und der Umwertung aller Werte. Aber: "Kein Mensch ist in der Lage, eine Grenze zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben zu finden."5

Die Präimplantationsdiagnostik gehört zu den Manipulationen am Lebensanfang. Sie führt uns mitten in das Spannungsfeld ethischer Fragen. Wie äussern sich unter uns lebende behinderte Mitmenschen, Lahme und Blinde zu dem sich abzeichnenden "Selektionsautomatismus" im Labor? "Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück" (Joseph Ratzinger).6

Manipulationen am Lebensanfang

Die Episoden von Beginn und Ende, aus denen das Leben besteht, sind menschlichem Handeln zugänglich geworden. Das Geheimnis der Menschwerdung ist bedroht. Der Mensch ist zum Produktionsobjekt geworden: Samenspende, In-vitro-Fertilisation (IVF), Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), Präimplantationsdiagnostik (PID), Pränatale Diagnostik (PND). Und bald auch das Geschäftsfeld der Eizellenspende. IVF und ICSI haben zu einer Erweiterung der Definition des Begriffs "erwünschter" oder "tolerierter" Fortpflanzung für Frauen über 35 Jahre und Männer mit Infertilität geführt. Pränatale Medizin: Apokalypse oder Segen?7 Wie bereits gesagt huldigt die PID dem Perfektionismus. Ihr Ziel ist der somatisch makellose Mensch. Doch inmitten der Machbarkeit und Planbarkeit gibt es immer wie der auch Unerwartetes, Unverhofftes. Im Banne der Wissenschaft unserer Tage haben wir die Ehrfurcht verlernt. Die "Evidence-based"-Medizin hat uns das Staunen vernebelt. Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik und Gentechnologie sind Manipulationen an der "Kette des Lebens". Wir werden dabei an den Turmbau zu Babel erinnert: "Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen" (Gen 11,6). Sie machen in unserer radikal säkularisierten Welt eine Zusammenschau mit Ethik, Philosophie, Theologie notwendig.

Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ermahnt uns: "Selbst wenn die Eltern ein Kind ‹machen›, geht der Vorgang des Zeugens und Empfangens weit über ein biologisches Verfertigen hinaus: Auch Eltern müssen das Kind in seiner ihm eigenen Lebendigkeit erst kennenlernen; es ist gerade nicht ihr gezieltes ‹Produkt›. Selbst In-vitro- Fertilisation, selbst Klonen bedient sich schon vorhandener lebendiger Materialien. Die Kette des Lebens reicht durch die Generationen hindurch, wird nicht jeweils von ihnen aus neu installiert. Leben ist Vor-Gabe, selbst unbegriffen, unbegreiflich."8

Das Kind ist nicht etwas Geschuldetes, sondern ein Geschenk

Die wissenschaftlichen Bezeichnungen IVF ("in vitro fertilisation") oder "Retortenbaby" sind medienwirksame Begriffe für Anspruchsdenken, Machbarkeit und Wunscherfüllung. Wir stehen im Vorfeld einer Volksabstimmung über die Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin. Sperma und Eizellen sind die Rohstoffe der Fabrikation. Manche unter uns sind beunruhigt. Es entsteht der Eindruck, dass der Mensch zur beliebig manipulierbaren "Biomasse" geworden ist, zum Beschäftigungsobjekt hochbegabter Labortechniker. Medizin ohne Grenzen. Für sie ist alles erlaubt und alles machbar oder darf zumindest erprobt werden, weil sie wähnen, dass das verdinglichte Manipulieren befruchteter Eizellen in einer Glasschale das Gleiche sei wie das leibhaft erlebte Werden des Kindes in der Gebärmutter einer Frau. Reproduktionsmedizin ist Entpersonifizierung, Verdinglichung des Menschen. Sie macht das Kind zum "erkauften Dienstleistungsprodukt" (Giovanni Maio).9

Vom "Outsourcen" der Menschwerdung

Den Macher – "homo faber" – gab es zu allen Zeiten. "Outsourcen" dagegen gehört zu den Zeichen der Zeit von heute, von der Buchhaltung bis zur Elektronik, die "Clouds" anvertraut wird. Neu dazugekommen sind intime Dinge des Lebens, die zum Gegenstand der Gratiszeitungen geworden sind. Gemeint ist das "Outsourcen" von Spermien und Eizellen und der Befruchtung in das Reagenzglas bis hin zum "Outsourcen" der ganzen Schwangerschaft, zum Austragen des Kindes in einer Leihmutter. Leihmutterschaft ist in der Schweiz verboten, nicht aber in den USA. "Leihmutterschaftsverträge" mit Frauen, die ihr Kind nie sehen werden, treten an die Stelle der Natur. Ein "Wunschvater" spendet Samen. Und ein in den USA durch Kaiserschnitt geborenes Kind wird unter Umständen in die Schweiz gebracht.

Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)

Menschwerdung beginnt mit dem technischen "Zusammenfügen " von Spermien und Eizellen. Dann folgen Qualitätskontrollen, um als Mensch angenommen zu werden. Giovanni Maio plädiert "Für eine neue Demut im Umgang mit dem Ungeborenen ", damit das in der Geborgenheit des Mutterleibes heranwachsende unschuldige Kind nicht schon vor seiner Geburt Prüfungen ablegen und Tests bestehen muss, damit es am Leben gelassen und angenommen wird.10 Jedes Kind ein medizinisches Meisterwerk: getestet und mit Garantie den "Eltern " überreicht, um die Sozialhaushalte und die Krankenkassen nicht zu belasten. Um "makellose Kinder" zu gebären, unterliegen Schwangere einem "Perfektionsdruck".11 Pränatale Diagnostik induziert Erwartungen, Vorstellungen von Gesundheit. Wenn der Test positiv ausfällt, beginnt erst der Leidensweg: "Positiv" ist dann "negativ", wie der Berner Troubadour Jacob Stickelberger besingt. Der "Geburtshelfer" muss/kann helfen: Minimal invasiv, maximal destruktiv, selektiv. Reproduzierte Menschen werden auf dem Altar der Biomedizin (Frauen-"Heil"-Kunde) geopfert: Ein ultraschallgesteuerter Herzstich oder ein Laserstrahl, den man auch hier als "Therapie" einsetzen kann. Helfen und Heilen haben einen anderen Charakter als Abtreiben. Töten als "Therapie" zeugt von der Ambivalenz eines Konzepts von Ratlosigkeit.

Der Nationalrat sagt Ja zur Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin: "Die Mediziner sollen künftig so viele Embryonen mittels künstlicher Befruchtung herstellen dürfen, wie sie es für nötig halten, und diese vor der Implantation testen (PID) dürfen, selbst dann, wenn in der Familie anamnestisch keine schweren Erbkrankheiten, wie Trisomie 21 (Down-Syndrom) vorkommen."12 Wie wird die Zukunft aussehen? Soll menschliches Leben künstlich hergestellt, gesammelt, konserviert, kontrolliert (Chromosomen-Screening) und verwaltet werden dürfen, wie wir es aus der Veterinärmedizin kennen?

Zwei Lebenskreise berühren sich

Der Mensch ist mehr als die Summe seiner "Teile" und mehr als die Summe seiner Gene. Jede Zelle hat ein individuelles Muster. Die Eigenschaften der einzelnen Zellen sind nicht nur in den rund 23 000 Genen gespeichert. Man kennt bereits einen zweiten (epigenetischen) Code, der u. a. auch auf Umwelteinflüsse reagiert. Jeder Mensch ist einmalig, ein Individuum, eine Person mit Würde. Die Spermien und Eizellen, die bei der Befruchtung miteinander verschmelzen, enthalten mehr "Informationen" für das werdende Kind als nur die in ihnen enthaltenen Gene. Es gibt mehr, als blosse "Mechanismen" vermuten lassen. Schon der Keim ist ein Mensch, kein Fremdkörper. Der Keim ist imstande, schon vor der Implantation seine Umwelt – das Endometrium seiner Mutter – zu beeinflussen, um sich einnisten zu können. Der Berner Anatom Prof. Kurt Feremutsch schrieb im Jahr 1948: "Es sind zwei Individuen, die mit ihren eigenen Lebenskreisen sich berühren, wobei das eine auf die Anwesenheit des Andern zu reagieren vermag. Das bedeutet aber, dass jene ‹Potenzen› des Keimes, von denen man seit jeher zu sprechen gewohnt ist, sich nicht nur in einer Induktion, Regulation und Organisation manifestieren, sondern auch in einer weit tieferen Bedeutung gewahrt bleiben: in der Individualität in des Wortes weitestem Sinne."13

Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Menstruationszyklus sind nur einzelne Areale des Endometriums (Gebärmutterschleimhaut) zur Keimaufnahme bereit. Weshalb ist das so? Diese Areale zeichnen sich als präsumptive Implantationsfelder gegenüber anderen Bezirken der Uterusmukosa aus.14 Weshalb ist das so? Am Endometrium geschehen Vorbereitungen für eine Implantation, es wird in einen präimplantativen Zustand gebracht. Weshalb ist das so? Wunder über Wunder, die uns staunen lassen sollten. Die Gebärmutter, der "Mutterschoss", (hebr. "rächäm") ist der Ort des "Erbarmens", das Organ, das Ehrfurcht, Staunen und respektvollen Umgang verdient, nicht Ort beliebiger Verwüstung, Explantation und Implantation.

Überzählige Embryonen

Das Schweizerische Bundesamt für Gesundheit BAG informiert auf einer Internetseite über "Überzählige Embryonen" und gibt Antworten auf aktuelle Fragen.15 Eine statistische Erhebung ergab, dass im Jahre 2005 in der Schweiz ca. 1421 "überzählige" Embryonen anfielen. Man beachte die Sprache: Falls die schriftliche Einwilligung der Eltern vorliegt, dürfen überzählige Embryonen für Forschungszwecke "genutzt " werden, z. B. zur Gewinnung von Stammzellen. In der Schweiz ist es nicht erlaubt, Embryonen zu "konservieren". Die 1421 überzähligen Embryonen sind Menschen, nicht produzierte Artikel, die keine "User" gefunden haben. Was geschah mit ihnen?

Test, Information und Zustimmung

Am Anfang stehen "Tests". Heutzutage beginnt die Schwangerschaft mit einem "Test", und die Frau begreift die getestete Bestätigung der Einnistung eines Kindes mit dem Eintritt in einen neuen Zustand. An die Stelle leiblich erlebter, stiller adventlicher Erwartung sind Tests und Untersuchungen getreten. Wegen des nun in ihr ablaufenden natürlichen Prozesses der Schwangerschaft wird die Frau beratungs-, überwachungs-, und entscheidungsbedürftig. Es folgen weitere "Tests". Die Natur wird "objektiv" untersucht und erklärt und nicht mehr bloss subjektiv erlebt. Diagnostische Tests sind auch ein lukratives Geschäft.

Um "makellose Kinder" zu gebären, unterliegen Schwangere einem "Perfektionsdruck".16 Pränatale Diagnostik induziert Erwartungen, Vorstellungen von Gesundheit. Die genetische Pränataldiagnostik kann zur Ablehnung des Gegebenen und zur Blindheit für den Sinn des Ungeplanten führen. "Euer Leib ist nicht Euer eigen" (Tschuang-Tse).17

Auf die "Tests" folgen Information und Zustimmung, Einwilligung: "Informed consent". Die Schwangere wird mit Testergebnissen konfrontiert und befindet sich vielleicht in tiefer Not, "in einer Not, in der sie alleingelassen wird. Und in einer Not, in die sie so unvorbereitet hineingeschlittert ist."18 Bei der Pränataldiagnostik geraten wir in das Spannungsfeld ethischer Fragen am Lebensanfang. PID und PND könnten zu einem ethisch bedenklichen "Selektionsautomatismus" führen. Es geht um die Qualität des zu erwartenden "Produkts" Mensch. Welches Produkt hat eine annehmbare Lebensqualität? Hier taucht in anderem Gewand die uns allen aus naher Vergangenheit bekannte Frage über den Wert oder Unwert menschlichen Lebens wieder auf. Sollten wir Ärzte uns angesichts einer solchen Medizin nicht ernsthaft fragen, ob diese Medizin nicht gefährlicher ist als die "Krankheit", die sie bekämpft? Hier braucht es Gesetze. Macher orientieren sich eher am Gesetzesparagraphen als am Ethos.

Wie äussern sich unter uns lebende behinderte Mitmenschen, Lahme und Blinde, Krüppel im Rollstuhl, die mit uns auf dem Pilgerweg des Lebens sind, zu dieser Frage und zu dem sich abzeichnenden "Selektionsautomatismus"? "Tolle, lege" (nimm und lies), soll eine zarte Kinderstimme den hl. Augustinus gemahnt haben, als er, von einer Glaubenskrise erschüttert, Gott um Hilfe bat. Was sagt uns diese Kinderstimme heute? Kaufe und lies: das Ferment- Heft "Lourdes – Verortete Sehnsucht" und du wirst dich diesem Geist nicht entziehen können.19 "Kein Mensch ist in der Lage, eine Grenze zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben zu finden, weil alles Leben lebenswert ist."20 Nicht alle medizinischen Fächer stehen mit ihren Therapien vor den gleichen "Wegkreuzungen" wie die Reproduktionsmedizin.

Umgang mit Unfruchtbarkeit

Unser Ego verleitet uns immer wieder zu Selbstbezogenheit und Selbstruhm, um "die eigenen Entscheidungen zu bestätigen mit dem, was zu den eigenen geistigen Schablonen passt", sagt Papst Franziskus.21 Es mag für Aussenstehende und für Nichtbetroffene einfach sein, den Katechismus zu zitieren. "Wie das Evangelium zeigt, ist körperliche Unfruchtbarkeit kein absolutes Übel. Eheleute, die, nachdem sie alle berechtigten medizinischen Hilfsmittel ausgeschöpft haben, weiterhin an Unfruchtbarkeit leiden, werden sich dem Kreuz des Herrn anschliessen, dem Quell aller geistlichen Fruchtbarkeit. Sie können ihren Grossmut zeigen, indem sie verlassene Kinder adoptieren oder anspruchsvolle Dienste an anderen erfüllen."22 Nicht unter die "berechtigten medizinischen Hilfsmitteln" fallen für die römisch-katholische Kirche Techniken, die das Einschalten einer Drittperson erfordern: Samenspende, heterologe Insemination, Leihmutterschaft. Diese Techniken verletzten das Recht des Kindes, von einem Vater und einer Mutter abzustammen, die es kennt.23 Es darf an dieser Stelle aber auch nicht verschwiegen werden, dass gerade auch ein "produziertes" und deshalb sehnlich erwünschtes Kind von seinen "Eltern" nicht selten mehr Liebe, Zuneigung, Fürsorge und Geborgenheit erfährt, als manche natürlich gezeugten Kinder. Wie weit sind die begehbaren Wege und "Hilfsmittel" der modernen Reproduktionsmedizin auch berechtigt? Im Evangelium steht auch: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!" (Mt 7,1–5). Und in einem anderen Kontext antwortete Jesus: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie" (Joh 8,7).

Was, wenn der Kinderwunsch mit oder ohne Reproduktionsmedizin nicht in Erfüllung geht? Sind da nicht noch andere Wege offen zur Sinnfindung, zu einer erfüllten Partnerschaft – "bonum fidei" ohne "bonum prolis" – oder zu einem erfüllten Familienleben? Die Adoption von Kindern, die nach Wasser und Nahrung und Liebe dürsten. Die Zahl der Adoptionen sinkt, nicht jedoch der Kinderwunsch "zu einem späteren Zeitpunkt". Auch adoptierte Kinder dürfen von ihren Eltern nicht selten mehr Liebe, Fürsorge und Geborgenheit erfahren als eigene Kinder.

Epilog

Kein Arzt darf Zweifel haben am Leidensdruck, welcher Kinderlosigkeit für ein junges Ehepaar bedeuten kann. Psychisches Leiden an sich selbst, das vom persönlichen Ringen um Antworten geprägt ist. Der verhängnisvolle Machbarkeitsglaube ist das Resultat eines grenzenlosen Fortschrittsdenkens unter dem Deckmantel eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffs. Wo soll die Grenze zwischen Machbarkeit und Wunscherfüllung gezogen werden? Die beiden klassischen Formalprinzipien "salus aegroti suprema lex" (das Heil des Kranken ist das oberste Gesetz, Hippokrates) und "voluntas aegroti suprema lex" (der Wille des Kranken ist das oberste Gesetz) stehen seit der Antike in einem Spannungsverhältnis, das sich wohl nie ganz überwinden lässt. Verschiedene Positionen sind im liberalen Denken, in der Medizinethik, in der Rechtswissenschaft oder im Glauben verwurzelt.

Die Anwendung des Wissens verlangt Weisheit und Verantwortung. Wissenschaftliche Fortschritte sind Bestandteil menschlicher Systeme. Manche sind uns über den Kopf gewachsen und haben sich verselbständigt. Unsere Gesellschaft hat im Zeitalter der Postmoderne ihr gemeinsames Menschenbild und Kulturverständnis verloren. Schwangerschaft und Geburt, auch Abort, Sterilität, Unverfügbarkeit und Kinderlosigkeit gehören zu den Kontrasterfahrungen im Leben der Frau. Hier braucht es Schicksalsgemeinschaft, Empathie, Nächstenliebe, Mitmenschen die fragen: "Frau, warum weinst du?" (Joh 20,13). Diese Frage sollen wir nicht nur am Muttertag stellen. Leidende brauchen ein Gegenüber – ein Du –, das sie begleitet. Empathie, Begleitung und Dialog sind wesentliche Element der Heilung. Sie lassen Leidende ihre Identität spüren.

Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik haben ihre Herrschaft über den Ursprung des menschlichen Lebens und die Würde der Person errichtet. Techniken trennen die Menschwerdung vom Geschlechtsakt. "Das Leben und die Identität des Embryos wird der Macht der Mediziner und Biologen anvertraut."24 "Ein Mensch wird nicht Mensch, sondern ist Mensch (…) in jeder Phase seiner Entwicklung von der Befruchtung an."25 Die Gewinnung und Verwendung von Samenzellen, Eizellen und embryonalen Stammzellen löst fundamentale ethische und rechtliche Fragen nach dem "Status" des Embryos aus. Mit welchen Fragen werden unsere Enkelkinder konfrontiert? Werden für sie Genanalysen und Gentherapie selbstverständlich sein? Werden sie einen "Gen-Pass" mit ihrem Genprofil auf sich tragen und diesen vorweisen müssen, bevor sie vom Arzt oder Apotheker ein kassenpflichtiges Medikament bekommen? Aus der Geburts-Hilfe ist eine Geburts-Medizin entstanden. Zunehmend sind wir Frauenärzte mit dem Anspruch auf ein "gesundes Kind" konfrontiert, zu dessen Verwirklichung gegebenenfalls ein Schwangerschaftsabbruch in Kauf genommen und von Einzelnen gegenüber dem Arzt sogar im Sinne eines vermeintlichen Rechtsanspruches postuliert wird.

Der Mensch will "sich selbst" alles sein! Mit hochmütiger Selbstverständlichkeit wird das vorgeburtliche Leben gemessen und getestet, bevor man Ja zu ihm sagt. Aber: Es geht um den "Geist der Medizin ", um die ärztliche Ethik, um "die Ehrfurcht vor dem Leben selbst in seiner elendesten Form",26 zu der uns der Hippokratische Eid und der christliche Glaube verpflichten. Die hochspezialisierte und zunehmend technisierte Medizin ist dringend ergänzungsbedürftig geworden.27 Wir dürfen dem Wahn des Machbaren nicht unreflektiert unterliegen. 

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1 Hans Goldmann: Vom Geist der Medizin. Rektoratsrede. Berner Rektoratsreden. Bern,1965, 17.

2 Roland W. Moser: Jesus Christus, der Arzt. Freiburg Schweiz 2012, 13 (aus dem Geleitwort von Pater Dr. Benedikt Schwank OSB, Prof. em. für Neues Testament, Erzabtei Beuron).

3 Peter Stulz (Hrsg.): Theologie und Medizin. Ein interdisziplinärer Dialog über Schmerz und Leiden, Heilung und Heil. Zürich 2004, 9.

4 Vgl. Roland W. Moser: Reproduktionsmedizin und Pränatale Medizin im Spannungsfeld zwischen Grösse und Gefährdung, in: Renovatio – Zeitschrift für das Interdisziplinäre Gespräch. 66 (2010), Heft 3/4, 59–65.

5 Max Thürkauf: Christuswärts. Glaubenshilfe gegen den naturwissenschaftlichen Atheismus. Stein am Rhein. 42000, 73.

6 Joseph Ratzinger: Werte in Zeiten des Umbruchs. Freiburg u. a. 2005, 85 f.

7 Vgl. Roland W. Moser: Pränatale Medizin: Apokalypse oder Segen?, in: Stimmen der Zeit 232 (2014), Heft 12, 806–814.

8 Hanna-Barbara Gerl- Falkovitz: Von der Gabe zum Geber. Nachdenken im Grenzgebiet von Philosophie und Theologie (Vortrag zum Herz-Jesu-Fest 2007), in: Korrespondenzblatt des Canisianums Heft 2, Jahrgang 140 – Wintersemester 2007/08, 3–11, hier 8.

9 Vgl. Giovanni Maio: Auf dem Weg zum Kind als erkauftes Dienstleistungsprodukt? Eine ethische Kritik der modernen Reproduktionsmedizin, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 54 (2010), 194–205

10 Giovanni Maio: Das Leben als Geschenk. Für eine neue Demut im Umgang mit dem Ungeborenen, in: Acta Medica Catholica Helvetica, 15 (2013), Heft 2, 18–20.

11 Ebd., 18.

12 Markus Brotschi / Anja Burri: Die Eizellenspende ist für Mediziner der nächste Schritt. Der Nationalrat sagt Ja zur Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin, in: Der Bund, 4. Juni 2014, 1.

13 Kurt Feremutsch: Der praegravide Genitaltrakt und die Praeimplantation. Revue Suisse de Zoologie 55 (1948), 569.14 Fritz Strauss: Die Implantation des Keimes, die Frühphase der Placentation und die Menstruation. Im Licht vergleichend-embryologischer Erfahrungen. Bern 1944, 912.

15 www.bag.admin.ch/themen/medizin/03301/03311/03349/03353/index.html

16 Maio, Das Leben als Geschenk (wie Anm. 10), 18.

17 Tschuang-Tse: Zu eigen haben, in: Tschuang-Tse: Reden und Gleichnisse. Hrsg. von Martin Buber. Zürich 2007, 150.

18 Maio, Das Leben als Geschenk (wie Anm. 10), 19.

19 Ferment-Magazin 3/2015: "Lourdes-verortete Sehnsucht".

20 Thürkauf, Christuswärts (wie Anm. 5), 73. 21 Papst Franziskus: Evangelii gaudium, Nr. 152.

22 Katechismus der Katholischen Kirche KKK (1993), § 2379.

23 KKK § 2376.

24 KKK § 2377..

25 Erich Blechschmidt: Wie beginnt das menschliche Leben: Vom Ei zum Embryo. Befunde und Konsequenzen. Stein am Rhein 72002, 31. Erich Blechschmidt (1904–1992), Professor für Anatomie, 1942–1973 Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Göttingen, untersuchte die frühen vorgeburtlichen Stadien des Menschen. Er hat die nach ihm benannte "Humanembryologische Dokumentationssammlung" in Göttingen aufgebaut und mit ihr die Humanembryologie morphologisch begründet. Diese Sammlung ist einzigartig.

26 Goldmann, Vom Geist der Medizin (wie Anm. 1), 14.

27 Vgl. Thierry Carrel / Roland Moser: Spiritualität in der hochspezialisierten Medizin: Luxus oder Notwendigkeit?, in: Spiritual Care – Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen 2 (2013), 44–54.

 

Roland W. Moser

Roland W. Moser

Dr. med. Roland W. Moser, Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, absolvierte nach seiner Pensionierung 2002 den Studiengang Theologie STh in Zürich. Er beschäftigt sich in Wort und Schrift mit Medizinethik und Spiritualität im Spannungsfeld von Wissen und Weisheit