Malerei als höchste Philosophie

Leonardo da Vinci wird oft auf seine Bilder vom letzten Abendmahl oder der Mona Lisa reduziert. Der Universalgelehrte war aber auch Maler, Bildhauer, Ingenieur, Naturphilosoph und vieles mehr.

Leonardo da Vinci wurde von seinen Zeitgenossen als aussergewöhnlich begabter Maler, vor allem in Sachen Porträts, betrachtet. Seine über drei Jahrzehnte lang mit höchster Intensität betriebenen Naturforschungen galten der Aussenwelt hingegen als Marotte eines Exzentrikers; seine Entwürfe für Apparaturen und Maschinen verschiedenster Art, von Aufbrechmechanismen für Tresore bis zu Flugschrauben und Riesenkanonen, die ihm seit dem 20. Jahrhundert die problematische Etikettierung als erster Meisteringenieur und Technologiepionier eingebracht haben, wurden nicht einmal mit diesem irritierten Kopfschütteln zur Kenntnis genommen.

Rätselhafte Persönlichkeit

So machte und macht sich jede Zeit ihr Bild von dieser Ausnahmeerscheinung der Kulturgeschichte, und zwar gemäss dem jeweiligen Zeitgeist, seinen Trends und Moden. Diese Lizenz zum Zusammenfantasieren nach dem Muster «Mach dir deinen Leonardo, soll dir erst einmal jemand das Gegenteil beweisen» wird heute hemmungsloser denn je in Anspruch genommen, wie das bunte Angebot von «Deutungen» zum 500. Todestag im Mai 2019 zeigt. Leonardo scheint es, wie gesagt, selbst so gewollt, nämlich sich bewusst verrätselt zu haben: Warum fehlt in seiner (unvollendeten) Anbetung der Hirten der heilige Josef, warum bricht der Jesusknabe in der «Heiligen Anna selbdritt» dem Lamm das Genick, warum ist sein Johannes der Täufer kein asketischer Eremit, sondern ein geheimnisvoll lächelnder Verführer von androgyner Sinnlichkeit?

Bei diesem heftig tobenden Wettbewerb um die originellste und das heisst in der Regel abstruseste Leonardo-Deutung wird übersehen, dass sich der Mann aus Vinci in einem zentralen, doch meist übersehenen Ausschnitt seines immensen Œuvres mit mustergültiger Eindeutigkeit auszudrücken wusste: in den Notizen zu seinen Zeichnungen, die sich nicht selten von diesen ablösen und regelrechtes Diskursformat annehmen, aber auch in kurzen, doch kompakten literarischen Texten, überwiegend Rätsel, «Prophezeiungen» und Fabeln.

Der Natur eine Stimme geben

Als eher lieblos behandelter unehelicher Sohn eines wohlhabenden florentinischen Notars erhielt Leonardo nicht die eigentlich standesgemässe Ausbildung in den studia humanitatis, sodass ihm die Kenntnis des literarischen Lateins abging. Das kam einem Ausschluss aus der damaligen Gelehrtenwelt und von der humanistischen Textproduktion gleich. Leonardo musste also bei seinem Bemühen um Wissen und Welterkenntnis methodisch und sprachlich eigenständig, ohne anerkannte Vorbilder vorgehen; dabei entfernte er sich weit und schliesslich um Welten von allem, was um 1500 als unbestreitbare Wahrheit festzustehen schien, da es in der Bibel oder in den Schriften des Aristoteles verbürgt war. Mehr noch: Bei seiner empirischen, vom Gesichtssinn wahrgenommenen und in seinen Zeichnungen festgehaltenen Erforschung der Welt kehrte Leonardo sogar die Perspektive um. In seinen Fabeln und höfischen Ratespielen gewinnen die Lebewesen eine Stimme, die der Mensch in seinem wahnhaften Glauben, Krone der Schöpfung zu sein, skrupellos vernichtet und verzehrt: Lämmer, die zum Entsetzen ihrer Mütter zum christlichen Osterfest geschlachtet, zerstückelt, verspeist und verdaut werden, aber auch Pflanzen und selbst scheinbar unbelebte Materie wie Steine, die vom Menschen gleichermassen mit Füssen getreten werden. Der Mensch ist ein heilloses Wesen, da er nicht wie die Tiere aus reinen Überlebenszwängen, sondern auch aus Mordlust und anderen niedrigen Motiven tötet. Zu diesen zählt der Krieg, den die Adeligen der Zeit für das edelste aller Handwerke halten.

In seinem unvollendet zurückgelassenen und heute verschwundenen, doch aus seinen Vorzeichnungen rekonstruierbaren und von anderen Malern kopierten Fresko der «Schlacht von An- ghiari» hat Leonardo den Menschen in seiner zerstörerischsten Potenz, nämlich in höchster Kriegswut, als Zerfleischer seines Mitmenschen, dargestellt. Der Mensch ist zudem sterblich, nicht nur mit seinem Körper, sondern auch mit der Seele, die Leonardo bei seinen Schädelstudien in einer Kammer des Gehirns lokalisiert – stirbt dieses, so stirbt er auch, und zwar als unteilbares Ganzes.

Der Mensch ist aber auch erhaben, denn als einziges Produkt der Natur ist er in der Lage, deren Gesetzen auf die Spur zu kommen: mit Beobachtung und mithilfe einer Malerei, die damit zur höchsten Philosophie wird. Der Schöpfungsbericht der Genesis war für Leonardo damit ebenso abgetan wie die Erzählung von der Sintflut und das Weltalter von 6000 Jahren. Die Natur war für ihn ewig und ungeschaffen und von einer alles durchdringenden und belebenden Kraft erfüllt, der seine lebenslangen Studien galten. Diese Kraft manifestiert sich in seinen Zeichnungen von Pflanzen und Tieren, aber auch im strömenden Wasser und in den zerklüfteten Gipfeln seiner Bergszenerien, etwa im Hintergrund der «Mona Lisa», einer Studie über das unvorstellbar hohe Alter der Welt.
Empirische Belege dafür fand Leonardo in den versteinerten Fischen und Krustentieren auf den Gipfeln des Apennins. Dorthin konnten sie unmöglich durch eine kurzfristige Überschwemmung von vierzig Tagen gelangt sein, wie seine präzise Nachmessung der Bewegungsgeschwindigkeit von Muscheln im Meer ergab. Stattdessen waren die heutigen Gebirgstäler der Toskana vor Urzeiten Meeresarme gewesen, aus denen sich das Wasser später zurückgezogen hatte.

In der Spätphase seines Lebens wurde Leonardo am lange vorherrschenden Modell der Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos und den daraus abgeleiteten Analogien, etwa zwischen dem Wasserhaushalt der Erde und dem Blutsystem des Menschen, irre und gelangte, drei Jahrzehnte vor der bahnbrechenden Veröffentlichung des Kopernikus, zum Ergebnis, dass sich die Sonne nicht bewegt. Alle diese Erkenntnisse und Reflexionen hat Leonardo seinen Notizbüchern, doch nicht der Öffentlichkeit anvertraut. So blieb er vor Nachforschungen der Inquisition verschont, doch auch ohne Einfluss auf den Fortschritt der Naturforschung und ihre Entwicklung zur Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. Seine einzigartige Grösse mindert diese erratische Einsamkeit nicht, im Gegenteil.

Volker Reinhardt

 

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Volker Reinhardt

Volker Reinhardt (Jg. 1954) ist seit 1992 ordentlicher Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Freiburg i.Ue.