Machtmissbrauch und Grenzverletzungen in der Seelsorge (II)

Gewalttätiges Verhalten und psychische Erkrankungen

Psychische Erkrankungen spielen bei Gewalt nicht selten eine Rolle. So haben z. B. an Schizophrenie erkrankte, unbehandelte Personen ein 8-fach höheres Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen, wie eine Untersuchung in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel UPK zeigt.8 Die höchste Rückfallquote von über 50% haben Menschen mit Störung der Sexualpräferenz (Pädosexuelle und Sadisten) sowie Persönlichkeitsgestörte mit Drogen- oder Alkoholproblemen. Bis zu 30% der Eltern, die psychisch krank sind, üben auch direkte Gewalt gegen ihre Kinder aus.

Die Differenzierung nach einzelnen Typen weisen auf Verhaltensweisen der Täter, wodurch die Einschätzung ihrer Gefährlichkeit möglich wird. Diese wichtige Grundlage für Fachpersonen verhilft zu prüfen, welche Interventionen, Massnahmen und Settings bei den entsprechenden Tätertypen hilfreich und deeskalierend und welche gar eskalierend wirken und deshalb gefährlich sein können. Besonders die Arbeit im Zweiersetting muss dahingehend geprüft werden. Die Kritik meint, dass Personen nicht auf bestimmte Merkmale reduziert werden können. Die Praxis zeigt jedoch, dass ein «Bauchgefühl» oder die «Erfahrung» keine ausreichende Ausgangslage für Entscheidungen in teilweise gefährlichen und hochkomplexen Situationen sein können.

Ambivalenz, Dilemma, «Überlebens-Bindung»

Ambivalenz und Abhängigkeit dienten lange als Erklärungen für den Verbleib der Opfer in der Gewaltbeziehung. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler definierte 1910 Ambivalenz als Nebeneinander von widersprüchlichen Gefühlen, Wünschen und Beurteilungen. Somit ist Ambivalenz als im Menschen selbst begründete Unentschiedenheit und innere Zerrissenheit zu verstehen. Ambivalenz erzeugt häufig einen Ambivalenzkonflikt. Betroffene sind aus verschiedenen Gründen nicht mehr in der Lage, sich zu entscheiden. Diese Ambivalenz übertragen Opfer teilweise auch auf Fachleute, indem sie ihnen misstrauisch begegnen und ihre Meinung und ihre Vorgehensweisen stetig wechseln. Nun gibt es auch «scheinambivalente Opfer». Diese verhalten sich zwar wie ambivalente Opfer, aber aus anderen Gründen. Sie verfügen eigentlich über genügend Ressourcen, sich zu trennen, tun es aber nicht. Diese Opfer befinden sich in einem existenziellen Dilemma und trennen sich deswegen nicht.

Im Gegensatz zur Ambivalenz charakterisiert sich das Dilemma durch eine Entscheidungssituation mit mindestens zwei Handlungsmöglichkeiten.9 Beide Möglichkeiten führen zu einem unerwünschten Resultat. In einem komplexen Dilemma ist es schwierig, die richtige Strategie zu finden. Diese Ausweglosigkeit wird als paradox und unlösbar empfunden. Die oben als «scheinambivalente Opfer» benannten Personen sind oft im Leben gefährdet und versuchen durch das für Aussenstehende nicht nachvollziehbare Verhalten ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder und weiteren Angehörigen zu schützen. Sie befinden sich in einer lebensbedrohlichen Dilemma-Situation. Opfer häuslicher Gewalt, die in derartigem Dilemma ausharren, befinden sich in einer «Überlebens-Bindung». Sie glauben zu Recht, dass das Verbleiben in der Gewaltbeziehung ihr eigenes sowie das Überleben der Kinder sichert und sie vor weiterer Gewalt schützt. Das Verbleiben in der Gewaltbeziehung erfolgt aus purer Angst und ist in diesem Sinne eine Überlebensstrategie und keine Abhängigkeit. Abhängigkeit ist für den Verbleib von Opfern in Gewaltbeziehungen keine Voraussetzung. «Überlebensbindungen» weisen auf pathologische Tätertypen hin. Diese gehören zur Hochrisikogruppe. Sogenannt scheinambivalentes Verhalten als Dilemma in einer «Überlebensbindung» zu erkennen und von «ambivalenten Bindungen» zu unterscheiden, ist deshalb von zentraler Bedeutung.

Dilemma-Situationen finden sich auch in anderen Kontexten, z. B. bei Opfern von Machtmissbrauch in professionellen Beziehungen. Auch da finden sich Opfer, die teilweise aus reiner Angst über Jahre in einer Seelsorge verharren; z. B. aus Angst, die Gemeinde verlassen zu müssen und alles zu verlieren. Existenzielle Dilemmata und Überlebensbindungen können also auch in Abhängigkeitsbeziehungen vorkommen.

Wann ist Seelsorge möglich?

Will sich ein Opfer nach erlebter Gewalt rasch trennen, ist eine Seelsorge meistens möglich – vor allem, wenn das Opfer in Sicherheit ist. Gibt das Opfer dem Täter, der Täterin eine neue Chance, wird es kaum Seelsorge in Anspruch nehmen. Ist die Trennung bereits fortgeschritten und kommt ein erneuter Gewaltvorfall dazu, ist Seelsorge eher möglich. Voraussetzung ist aber eine spezialisierte Fachperson. Bei einer ambivalenten Bindung oder Überlebensbindung sind Beratungsangebote oder Seelsorge eher unmöglich. Dies jedoch aus unterschiedlichen Gründen – bei Ambivalenz aus der Unentschiedenheit des Opfers, bei der Überlebensbindung aus Angst des Opfers um sich selbst oder ebenfalls involvierter Dritter (bedrohte Kinder, Eltern, Fachpersonen). Seelsorgende müssen teilweise offensiv auf die Opfer zugehen und sie für eine Auseinandersetzung motivieren. Ausgenommen sind «Überlebensbindungen», wo Fragen von Schutz und Sicherheit Voraussetzung für eine deeskalierend wirkende Beratung sind.

Kinder und Jugendliche als Opfer und Täterinnen/Täter von Gewalt

In den letzten Jahren wurden durch die Medien verschiedene Fälle von Kindsmissbrauch in kirchlichen Organisationen thematisiert. Kinder sind in vielfältigen Beziehungskonstellationen und Kontexten von Gewalt besonders betroffen, sei es im sozialen Nahraum (Körperstrafe oder psychische Gewalt durch Eltern, Gewalt in der Elternbeziehung oder in partnerschaftlichen Jugendbeziehungen), in Organisationen (sexuelle Gewalt durch Lehrpersonen, Jugendlagerleiter oder Seelsorgende), in Form von organisierter Gewalt (Gewalt in der Peergruppe) und struktureller Gewalt. Bei teilweise ungenügender Rechtsgrundlage ist z. B. eine polizeiliche Wegweisung des gewaltausübenden Bruders bei Geschwistergewalt nur mit dem Einverständnis der Eltern möglich.

Einerseits erleben Kinder direkte Gewalt in verschiedenen Formen – physisch, psychisch und sexuell – andererseits sind sie bei Gewaltausübung von Erwachsenen und Minderjährigen (Geschwistern und Peers) häufig mitbetroffen oder mitinvolviert. So versuchen sie die Gewalt zu stoppen und die Opfer (Mutter oder Geschwister) zu schützen. Dies betrifft sowohl Kinder im sozialen Nahraum, Kinder in Organisationen (Schule, Lager, Heime) und auch in ihrer Peergruppe. Minderjährige üben selber Gewalt in verschiedenen Beziehungskonstellationen aus. Die Art des Vorgehens und die Gewalthandlungen unterscheiden sich teilweise von den Erwachsenen. Verschiedene Studien wurden auch in der Schweiz in den letzten Jahren durchgeführt.10 Kirchlich Mitarbeitende können in diesen Kontexten sowohl die VerursacherInnen des Machtmissbrauchs und der Ausnützung von Abhängigkeiten sein als auch erste und wichtige Vertrauenspersonen und Anlaufstellen für Schutz und Sicherheit. Kinder sind aufgrund ihres Alters für Grenzverletzungen besonders vulnerabel und gefährdet. Verschiedene Untersuchungen zeigen auch eine Korrelation zwischen erlebter (häuslicher) Gewalt in der Kindheit, späterer eigener Gewaltausübung und/oder wiederholter Opferwerdung.

Fazit

Menschen nehmen ihre guten und schlechten Erfahrungen in ihre unterschiedlichen Beziehungen mit. Opfer von Gewalt oder Abhängigkeitsbeziehungen übertragen diese Erfahrungen oft auf Seelsorgende, denen sie mit grossen Heilserwartungen oder Misstrauen und Kontrollverhalten begegnen. Eine erfahrene und in der Thematik ausgebildete Fachperson kann auch diesen Menschen stützend beistehen. Umgekehrt sind diese Menschen auch besonders anfällig für neue Grenzverletzungen. Forschungen zu Machtmissbrauch und Grenzverletzungen im professionellen Kontext fehlen bis heute noch weitgehend. Auch darum lassen sich die hier ausgeführten Themen nicht in jedem Fall voneinander abgrenzen. Je komplexer das Problem, desto weniger sind schnelle Lösungen möglich und zielführend. Nicht nur waren oder sind TäterInnen möglicherweise gleichzeitig auch Opfer und umgekehrt, sondern ehemalige Opfer werden eher erneut zu Opfern. Dies macht sie in besonderem Masse anfällig für Grenzverletzungen von Fachpersonen.

Als Fachleute sind wir gefordert, uns im Umgang mit unserer und der Macht anderer mit den eigenen Grenzen und den Grenzen anderer kritisch auseinanderzusetzen, uns fachspezifisches Wissen anzueignen und mit anderen Fachpersonen und Organisationen zusammenzuarbeiten. Mitarbeitende der Kirche, in jeder Funktion und Hierarchiestufe, setzen sich für die dezidierte Aufdeckung und Verarbeitung von Machtmissbrauch und Grenzverletzungen ein. Sie wirken aufklärend in der Öffentlichkeit und nehmen – auch bei diesen Themen – ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr. Ein erweitertes Verständnis der Thematik Machtmissbrauch und Grenzverletzungen erachte ich als zentrale Voraussetzung für ein wirksames und nachhaltiges Vorgehen. Machtmissbrauch und Grenzverletzungen beinhalten jede Form der Integritätsverletzung. Die Kirche unterstützt und fördert die Sensibilisierung ihrer Mitarbeitenden und garantiert das dafür notwendige Wissen für die Praxis. Reglemente, ethische Richtlinien und Standesregeln formulieren Grundsätze und Vorgehensweisen für alle kirchlich Mitarbeitenden und ein professionelles Vorgehen bei Machtmissbrauch und Grenzverletzung von Drittpersonen und in anderen Kontexten.11

Bei Machtmissbrauch und Grenzverletzungen allein und ohne die nötigen Kenntnisse aktiv zu werden, ist nicht empfehlenswert. Das Beiziehen spezialisierter Fachleute oder Organisationen ist in diesen Fällen zwingend. Nur so kann das zentrale Ziel, der Schutz der Integrität aller betroffenen und beteiligten Personen, erreicht werden.

 

8 www.upkbs.ch/ueber-uns/medien/presseberichte/ PublishingImages/04_06_ SonntagsZeitung-Diagnose%20ungewiss.pdf

9 Ola W. Barnett: Why Battered Women Do Not Leave, Part 1: External Inhibiting Factors Within Society, in: Journal: Trauma Violence & Abuse – TRAUMA VIOLENCE ABUS, vol. 1, no. 4 (2000) 343–372; Deborah K. Anderson: Leaving An Abusive Partner, An Empirical Review of Predictors, the Process of Leaving and Psychological Well-Being, in: Trauma Violence Abuse April 2003/4, 163–191

10 Optimus-Studie 2012: www.optimusstudy.org und F. Greber: Wenn Minderjährige Häusliche Gewalt ausüben, 2007 und www.ist.zh.ch mit Informationen der Kantonspolizei Zürich Sicherheitsdirektion / Prävention.

11 F. Greber, C. Kranich: Häusliche Gewalt – Manual für Fachleute, 2013 www.ist.zh.ch sowie F. Greber, C. Kranich, H. Strub.: Hinschauen – wahrnehmen – handeln. Grenzverletzungen und Ausnützung von Abhängigkeiten in kirchlichen Kontexten, hrsg. v. Kirchenrat der Evang.-Ref. Landeskirche Zürich in Verb. mit der AGAVA, 2016.

Franziska Greber

Franziska Greber, M.A.
Psychotherapeutin, Psychotraumatologin, Coach & Supervisorin; eh. Co-Leiterin IST Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt des Kantons Zürich; Mitgründerin und Co-Leiterin der AGAVA Arbeitsgemeinschaft gegen die Ausnützung von Abhängigkeiten; Lehrtätigkeiten und Fachpublikationen u. a. im kirchlichen Kontext; eh. Mitglied der aws; Vertrauensperson der evang.-ref Landeskirche des Kantons Zürich.