40 Jahre Bildung und Begegnung

Propstei Wislikofen

Mit dem Motto «40 Jahre unglaublich befreiend» feiert die Römisch-Katholische Landeskirche im Aargau im Jahr 2016 das 40-jährige Bestehen der Propstei Wislikofen als Ort von Bildung und Begegnung und ihrer Fachstelle für Erwachsenenbildung. Nirgendwo sonst in der Schweiz leistet sich eine Kantonalkirche eine solch profilierte Bildungsarbeit und stellt dazu bereitwillig materielle Ressourcen zur Verfügung. Entstanden in der Aufbruchsstimmung des II. Vatikanischen Konzils und deren ortskirchlichen Umsetzungsbemühungen durch die Synode 72, fokussierte die kirchliche Bildungsarbeit im Aargau während vier Jahrzehnten «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen … besonders der Armen und Bedrängten aller Art» (Gaudium et Spes1). Sie ist Ort der persönlichen Sinnsuche, des Hörens auf die «Frohe Botschaft» und des gemeinsamen Reflektierens, ein Raum der theologischen und soziopolitischen Diskussion im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben des Kantons und des Bistums Basel, aber auch des Feierns der göttlichen Gegenwart unter den Menschen. Die christliche Praxis mit ihren aktuellen Herausforderungen sind dabei ebenso im Blick wie die Veränderungsprozesse in der kirchlichen Organisation oder die Vermittlung pastoralpraktischer Kompetenzen.

Wie kam es zu dieser engagierten, in der Praxis verwurzelten Bildungsarbeit? Wie veränderte sie sich durch die 40 Jahre hindurch? Welchen Beitrag leistet die Propstei Wislikofen und die Fachstelle für Kirche und Gesellschaft von Morgen? Das Jubiläum der Fachstelle «Bildung und Propstei» bietet Gelegenheit zur Rückschau auf den beschrittenen Weg und gleichzeitig zur Ausrichtung auf die Herausforderungen der Zukunft.

Langer Anmarschweg

1976 eröffnete die Römisch-Katholische Landeskirche in der Propstei Wislikofen, dem ehemaligen Benediktinerkloster und Aussenstelle des Klosters St. Blasien, ein Bildungshaus. Der Weg bis dahin war lang. Der Bericht und Antrag an die Röm.-Kath. Synode des Kantons Aargau über ein Kreditbegehren von 2,4 Mio. Schweizer Franken für die Errichtung eines Bildungszentrums in der Propstei Wislikofen liest sich wie ein Krimi.

Schon 1954 wurde über die Schaffung einer Stätte der Begegnung für Erwachsene diskutiert. Eine Arbeitsgemeinschaft nahm sich dieser Idee an und versuchte sie in die Tat umzusetzen. Leider lange Zeit vergeblich. 1963 wurde die Arbeitsgemeinschaft auf die alte, baufällige Propstei aufmerksam. Ein Antrag auf der Frühjahrssynode der Röm.-Kath. Landeskirche Aargau 1964 wurde jedoch abgelehnt. Das Konzil hatte vor allem in seinem Dekret über das Apostolat der Laien mehrmals auf die grosse Bedeutung der weltanschaulich-religiösen Weiterbildung hingewiesen. Das erwies sich den Befürwortern bald als kraftvolle Hilfe, und die Ablehnung des Projektes Propstei Wislikofen durch die Synode konnte neue Initiativen nicht verhindern. Im Frühjahr 1966 erhob die Synode den eingereichten Antrag zum Beschluss: Die Schaffung eines Bildungszentrums sei durch eine vom Synodalrat einzusetzende Kommission intensiv zu bearbeiten. Im Herbst 1966 nahm die Studienkommission ihre Arbeit auf. Im Frühjahr 1968 wurde der Antrag gestellt, eine Finanz- und Baukommission einzusetzen, die die Umsetzung des Bildungshauses in der Propstei Wislikofen vorantreibe. Die Kommission argumentierte im Antrag: «Innerhalb und ausserhalb der Kirche besteht heute die Überzeugung, dass weltanschaulich-religiöse Weiterbildung des katholischen Christen ein Erfordernis der Zeit und der Zukunft ist. Wir können und müssen uns dieser Aufgabe stellen. Sollten wir uns dieser unserer Pflicht entschlagen, so würden wir ungezählten Mitmenschen die so dringende erwünschte Möglichkeit zu tiefgreifenden Gesprächen und echter menschlicher Begegnung vorenthalten.» (Bericht der Studienkommission 1968)

Am 28. Mai 1973 legte die Baukommission «Propstei Wislikofen» der Frühjahrssynode der Aargauer Landeskirche einen detaillierten und gut begründeten «Bericht und Antrag für die Errichtung eines Bildungszentrums in der Propstei Wislikofen» vor. Diesem wurde mit sehr grosser Mehrheit zugestimmt. Das jahrelange Seilziehen um ein Bildungszentrum der Aargauer Katholikinnen und Katholiken fand damit ein glückliches Ende. Der Arbeitsgemeinschaft von 1953, den Befürwortern trotz abschlägigen Synodenbescheids sowie den Mitgliedern der Studienkommission von 1966 gebührt noch heute grosser Dank für ihre Beharrlichkeit und Leidenschaft gegenüber der Berufung der Laien. Ihre Initiative war eine Bewegung von unten, die den Wert der Bildung im Kontext der kirchlichen Aufbrüche von Konzil und Synode 72 richtig einschätzte. Gleichzeitig lässt sich in der Errichtung des kantonalen Bildungszentrums Wislikofen ein sehr gelungenes Beispiel von produktiver Zusammenarbeit im dualen Kirchensystem der Schweiz entdecken, das bis heute segensreich für eine lebendige Kirche auf der Höhe der Zeit wirkt. Symbolisch stehen die Rettung der alten baufälligen Propstei und ihre Umnutzung zu einem Haus der Begegnung und Bildung für den Umbau der Kirche im Geist des Konzils, die sich als pilgerndes Volk Gottes versteht, sich den Menschen zuwendet und ihren Dienst in der Welt ernst nimmt.

Eröffnung und Öffnung

1976 wurde die Propstei als «Haus der Aargauer Katholiken» eröffnet, verbunden mit der Option, auch «Organisationen weltanschaulich neutraler Natur» offen zu stehen. Im kirchenpolitischen Aufwind des Zweiten Vatikanischen Konzils war die Propstei angehalten, zuerst Weiterbildungsveranstaltungen kirchlicher Organisationen und Verbände zu beherbergen und in zweiter Linie ein eigenes Weiterbildungsprogramm anzubieten. Drittens sollten auch andere Organisationen Platz in der Propstei erhalten. Erster Leiter des neuen Bildungszentrums Propstei Wislikofen wurde Dr. Martin Simonett.

Mit der Eröffnung nahm die Aargauer Landeskirche eine Vorreiterrolle in den kirchlichen Bildungsbemühungen im Bistum Basel ein, die in den Empfehlungen der Sachkommission 11 «Bildungsfragen und Freizeitgestaltung» der Synode 72 wie folgt formuliert sind: «Die katholischen Bildungszentren, die überregionale Aufgaben erfüllen, vermitteln der kirchlichen Erwachsenenbildung wesentliche Impulse. Die Gründung neuer Bildungshäuser ist in Zusammenarbeit mit den bestehenden Bildungszentren und den entsprechenden Fachgremien vorzubereiten. In der Gestaltung der Bildungsangebote sollen die modernen Methoden der Erwachsenenbildung angewandt und auch Experimente gewagt werden.»1

Innerhalb kurzer Zeit fanden kirchliche Verbände mit ihrer Orts- und Kantonalstruktur sowie Räte und Gruppen aus Pfarreien und Kirchgemeinden in der Propstei ihr liturgisch-spirituelles und pastoral-inspirierendes Zuhause. Die Begeisterung für eine Kirche, die sich als Volk Gottes und als Gemeinschaft auf dem Weg versteht, die Mitberatung, Mitverantwortung und Mitentscheidung der Laien fordert und fördert, gab dem Bildungshunger Nahrung. Die grosse Nachfrage führte zum Ausbau der Bildungsarbeit im Kanton. Vier regionale Stellen entstanden, die das Angebot des Bildungshauses ergänzen und unterstützen sollten. Grundkurse in den Regionen sollten durch Aufbaukurse im Bildungshaus ergänzt werden. Es gab von Anfang an die Option des prozesshaften Lernens sowie die Entscheidung, dass Bildung ein emanzipatorischer Prozess ist, der nachhaltig und vor Ort seine besten Ergebnisse zeitigt.

Religiöse Bildung als Beitrag zur Subjektwerdung

Mit dem II. Vatikanum hat die katholische Kirche bewusst eine neue Rolle zur modernen Gesellschaft gesucht und diese Veränderung theologisch begründet. Der Soziologe und Theologe Karl Gabriel spricht von einer «konziliaren Umcodierung der christlichen Tradition»2: «Ohne sich an irgendeiner Stelle über definierte katholische Lehrinhalte hinwegzusetzen, codiert das Konzilsdenken von ‹Dissoziation› auf ‹Dialog› um. Es sucht einen eigenen Standort für die Kirche in der modernen Welt und akzeptiert deren Existenz als Ort eines ‹verheutigten› Glaubens. Es schlägt Brücken zu den Denkströmungen der Gegenwart und entdeckt in ihnen bereichernde Einsichten für die eigene Auseinandersetzung mit den ‹Zeichen der Zeit›. Es akzentuiert eine solidarische Zeitgenossenschaft mit allen Menschen, besonders mit den ‹Armen und Bedrängten aller Art›. Es legitimiert die Pluralität von sprachlichen und kulturellen Ausdrucksformen des Glaubens in der Liturgie. Es stellt sich in der Frage der religiösen Freiheit und Autonomie des einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt auf die Seite des Individuums und sagt sich von der Tradition des erzwungenen Glaubens los. Es betrachtet das Gewissen des einzelnen, das auch als irriges Gewissen seine Würde nicht verliert, als den ‹Knotenpunkt der Gemeinsamkeit zwischen Christen und Nichtchristen und damit als die eigentliche Drehscheibe des Dialogs (Ratzinger).»3

Im Kontext der Veränderungen in der Kirche bekommt auch deren Bildungsarbeit Anschluss an den emanzipatorischen Bildungsbegriff der Aufklärung, der Bildung als Beitrag zur Befreiung aus «selbstverschuldeter Unmündigkeit» (Kant) versteht. Theologisch rückt der einzelne Mensch als von Gott geliebtes Subjekt seines Lebens in den Mittelpunkt. Als Ebenbild Gottes kommt jedem Menschen eine unauslöschliche Würde als Person zu.4 Christlich-religiöse Bildungsarbeit muss also vor allen Dingen im Dienst der personalen Gottesbeziehung jedes Einzelnen stehen. Es geht also nicht einfach um das Transportieren von Glaubensinhalten, sondern um eine religiöse Bildung, die in einem ganzheitlichen Prozess Menschen in ihrer Gottes- und Sinnsuche befähigt und begleitet. An dieser Stelle zeigt sich auch die Differenz zu so manchen Weiterbildungsangeboten, die sich auf das funktionale Lernen bestimmter Techniken beschränken.

Lesen und Deuten der Zeichen der Zeit

 «Zur Erfüllung … (ihrer) Aufgabe obliegt der Kirche durch alle Zeit die Pflicht, die Zeichen der Zeit zu erforschen und im Licht des Evangeliums auszule­gen, so dass sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die beständigen Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach ihrem gegenseiti­gen Verhältnis antworten kann.»5

Im Laufe der 40 Jahre stand die Ausrichtung der Fachstelle immer wieder auf dem Prüfstand. Wie die Zeichen der Zeit aufgegriffen werden können und wie sie im Rahmen einer Bildungsorganisation deutlich und nachhaltig kommuniziert werden, stellt sich wiederkehrend in vier bis fünf Jahresrhythmen als Kernfrage. Aus diesen Wandlungsprozessen ent­wickelten sich neue Themenfelder. Am Anfang der Fachstelle stand im Nachgang des Konzils der kirch­liche Aufbruch im Fokus, getragen vom neuen Ver­ständnis der Kirche als Volk Gottes. Laien wurden zur Auseinandersetzung mit Theologie und Bibel eingeladen: Sie sollten aktiv das kirchliche Leben ge­stalten, pastorale Fragen partizipieren und am Ver­kündigungsauftrag der Kirche mittragen. Pfarreiräte wurden gegründet, ökumenische Fragen diskutiert.

In den 80er-Jahren wurde im Zuge der öku­menischen Dekade für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung der Themenschwerpunkt «Solidarische Welt und GFS» geschaffen. Auf die In­itiative engagierter Frauen wurde Ende der 90er-Jah­re eine Stelle ins Leben gerufen, die sich mit Frauen und Genderfragen beschäftigte. Die Ermächtigung von Frauen innerhalb gesellschaftlicher und kirch­licher Strukturen sollte gefördert werden. Dazu wur­den in einem kantonsweiten Projekt die freiwillig geleisteten Stunden von Frauen gezählt. Personal­verantwortliche wurden geschult, um die Rahmen­bedingungen Freiwilliger in den Kirchgemeinden zu verbessern. Dazu gehörte auch «Kana», der kirch­liche Kompetenz- und Arbeitsnachweis, mit dessen Hilfe freiwillig geleistete Arbeit dokumentiert und sichtbar gemacht werden kann.

Weitere Themenfelder, die in den vergangenen 12 Jahren entstanden sind «Fremde Religionen ent­decken» sowie «Familienvielfalt». Der Schwerpunkt «Frauen und Gender» nimmt sich aktuell der Her­ausforderungen vom Umgang der Kirche mit den verschiedenen sexuellen Orientierungen von Men­schen an.

 

 

1 Ebd. S. 41 mit Beschluss vom 28. 11. 1975 und Genehmigung durch Bischof Dr. Anton Hänggi

2 Lindner Bernhard: «Somos Pueblo – Somos Iglesia»: Die Erfahrung der Südandenkirche Perus, Zürich- Berlin 2010, 305

3 Gabriel Karl: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1992, 175–176, Zitat im Zitat bezieht sich auf den Kommentar zu Gaudium et Spes im LThK: Ratzinger: Kommentar zur Pastoralkonstitution, 330

4 Vgl. Orth Gottfried: Erwachsenenbildung, in: Mette Norbert / Rickers Folkert (Hg.): LexRP 1, Neukirchen-Vluyn, 429–435, hier 432

5 Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution Gaudium et Spes Nr. 4 Rickers Folkert (Hg.): LexRP 1, Neukirchen-Vluyn, 429–435, hier 432

Bernhard Lindner und Claudia Mennen

Dr. Bernhard Lindner, Theologe und Supervisor, Fachstelle Bildung und Propstei.

Dr. Claudia Mennen, Theologin und Organisationsberaterin, Leiterin Fachstelle Bildung und Propstei.