Die katholische Soziallehre in der globalisierten Welt
In den Dokumenten der Katholischen Soziallehre finden sich erfrischende Perspektiven auf die heutigen sozialen und ökologischen Herausforderungen. Doch Gegenwind kommt gerade von ansonsten betont katholischen Gruppen und Medien.1
Um der sozial-ökologischen Krise des 21. Jahrhunderts wirksam zu begegnen, braucht es eine vertiefte Reflexion, die in der Lage ist, Sozial- und Naturwissenschaften sowie auch Philosophie und Ethik zu verbinden. Die katholische Soziallehre hat für die Bewältigung dieser Aufgabe gewiss kein Deutungsmonopol, jedoch bietet sie meines Erachtens einige wertvolle Ressourcen: In Zeiten massiver globaler Ungleichheit und unaufhörlicher Umverteilung nach oben ruft sie die Notwendigkeit fairer Löhne1 und staatlicher distributiver Gerechtigkeit, nach dem Prinzip «suum cuique»,2 in Erinnerung.
Dabei verkennt sie jedoch keineswegs, wie ihre Kritiker gerne behaupten, den unverzichtbaren Beitrag des Marktes und des Unternehmertums zum Gemeinwohl,3 noch bürdet sie dem Staat die Lösung von Problemen auf, die auf niedrigeren Ebenen der sozialen Organisation bewältigbar sind. Angesichts von Klimawandel und Artensterben hält sie die ethische Verpflichtung zur Bewahrung der Schöpfung und die Notwendigkeit nachhaltiger Lebensstile hoch,4 verfällt dabei jedoch nicht in eine misanthropische Einstellung, die die Würde des Menschen verkennt und ihn als auszukurierenden Virus unseres Planeten abstempelt.
Da die heutigen globalen Probleme, von der internationalen Migration bis zu ausser Rand und Band geratenen Finanzmärkten, nicht allein auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden können, sondern globale politische Antworten verlangen, setzt sie sich für eine Stärkung der «global governance» ein.5
Diese Elemente kirchlicher Lehre sind allerdings weitgehend unbekannt, sodass die katholische Soziallehre zurecht als «unser am besten gehütetes Geheimnis» bezeichnet wurde.6 Wie kommt das? Leider wurde und wird die katholische Soziallehre immer wieder unter den Scheffel gestellt, sodass sie das Haus nicht so recht beleuchten kann. Dabei sind es häufig gerade ihrem Selbstverständnis nach betont katholische Gruppen oder Medien, die sich als Kritiker unliebsamer sozialethischer Interferenzen durch Papst oder Bischöfe hervortun.
Selektive Lektüre
So sah sich schon die Enzyklika «Caritas in Veritate» mit Bemühungen konfrontiert, weite Teile davon wegzudiskutieren, wo sie den Befürworten der ungezügelten Freiheit des Marktes nicht ins Konzept passte, wie Andrea Tornielli und Giacomo Galeazzi in ihrem neuen Buch «Questa Economia Uccide» darlegen.7 Der Artikel «Caritas in Veritate in gold and red» des amerikanischen Autors George Weigel bietet, wie schon der Name andeutet, ein anschauliches Beispiel für eine solche selektive Lektüre der Soziallehre Papst Benedikts. Ein deutschsprachiges katholisches Internetmedium wartete kürzlich mit einer Apologetik der heutigen massiven Ungleichheit auf, diese als natürlich und gut dargestellt, Kardinal Schönborns berechtigter Protest gegen diese «himmelschreiende Ungleichheit»8 aber als wirtschaftlich falsch abgewiesen wurde.9 Eine der deutlichsten Stimmen für eine Verbindung zwischen Katholizismus und einer stark wirtschaftsliberalen Gesellschaftsauffassung ist aber ohne Zweifel die nordamerikanische Denkfabrik «Acton Institute», der zufolge «der Kapitalismus des freien Marktes der sicherste Weg zu einer moralischen und sozial gerechten Gesellschaft» ist.10 Auch bei den Actonianern tut man sich mit der katholischen Soziallehre sichtlich schwer. So sieht etwa der Sprecher ihrer italienischen Sektion, Kishore Jayabalan, in Papst Franziskus’ sozialem Lehramt die «dominierende Tendenz des postmodernen Denkens» am Werk.11
Vorbehalte gegen Klimawissenschaft
Regelmässig äussert der von den amerikanischen Koch Brothers geförderte Thinktank12 Vorbehalte gegen die Klimawissenschaft und internationale Bemühungen zum Schutz des globalen Klimas,13 so zuletzt im Dezember des vergangenen Jahres auf einer Konferenz an der vom Opus Dei geführten päpstlichen Santa-Croce-Universität, wo man laut dem Vatikanisten Sandro Magister die «Unbegründetheit der umweltschützerischen Thesen der Laudato Si’ anprangerte».14 Besagte Konferenz ist dabei kein Einzelfall, wie man leicht mit einer Internetsuche überprüfen kann: Acton und Santa Croce arbeiten bereits jahrelang zusammen, die Sozialethik-Professoren der päpstlichen Universität, Martin Schlag und Martin Rhonheimer, beliefern die amerikanische Denkfabrik regelmässig mit Artikeln,15 während den Veranstaltungen der Letzteren immer wieder die Räumlichkeiten der Santa Croce zur Verfügung gestellt werden. Ein illustratives Beispiel dafür ist die mit dem «Novak Award» bedachte und von beiden Institutionen organisierte «Calihan Lecture» vom Dezember 2014:16 Der Preisträger warb für eine Gesellschaft, in der es nurmehr freies Unternehmertum und private karitative Initiative geben solle.17 Der Staat dient nach diesem Modell lediglich dem Schutz des Privateigentums und der Durchsetzung der Verträge,18 während Gesetze zum Schutz von Arbeitnehmern ebenso wie staatliche Umverteilung nicht notwendig wären.19 Es wurde dabei betont, die «moralische Botschaft» von Papst Franziskus würde ernst genommen, während Letzterem zu «technischen Fragen» wie der nach der Rolle des Staates keinerlei Kompetenz zukäme.20 Derartige Thesen haben an der Santa-Croce-Universität Tradition. «Allein die Wirtschaft – weder die Regierungen noch globale politische Strukturen – kann das Problem der Armut auf nachhaltige Weise lösen», so Martin Schlag.21 Nach den Schriften von Martin Rhonheimer geht die Autonomie des freien Marktes so weit, dass auch die Notwendigkeit eines existenzsichernden Lohns abgelehnt wird. Dem Arbeitnehmer stünde «genau der Marktlohn» zu, auch dann, wenn dieser nicht zum Leben ausreichte, und erst recht bestünde kein Recht auf einen Familienlohn.22 Menschen in Not hätten zudem keinen Anspruch auf Umverteilung von Gütern zu ihren Gunsten, sondern es gäbe lediglich eine «moralische Verpflichtung» der Reichen zu solcher Umverteilung.23 Die Einnahme von Steuern zur Umverteilung durch den Staat schliesslich wäre nichts anderes als «Zwangsenteignung».24
Relativistische «Sozialethik»
Solche Lehren widersprechen nicht nur dem Kernbestand der Soziallehre der Kirche, sondern auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.25 Beide lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit existenzsichernder Löhne sowie der Aktivität des Staates, zu Gunsten der wirtschaftlichen Rechte seiner Mitglieder einzugreifen. Im Weltbild der oben beschriebenen neoliberal-katholischen Schule steht jedoch die Freiheit des Marktes an erster Stelle. Anstatt der Natur des Menschen und des Prinzips «suum cuique» werden sozial konstruierte Zweitrealitäten wie der Marktpreis oder verabsolutierte Eigentumsrechte zur Norm erhoben. Ergebnisse der Naturwissenschaft werden wegdiskutiert, da sie ernst zu nehmen der ungezügelten Freiheit des Marktes Grenzen setzen könnte.
Kurzum: Die Realität der Dinge in ihrem ethischen Anspruch kommt in dieser relativistischen «Sozialethik» nicht zu Wort.26 Vor diesem Hintergrund erweist sich die 2011 von Benedikt XVI. gehaltene Berliner Bundestagsrede, mit ihrem Anstoss, die Fenster aufzureissen und die «Weisung» der Natur zu erfassen, als besonders aktuell.27
Menschenwürde im Zentrum
Papst Franziskus’ Laudato Si’, mit ihrem ungeschminkten Blick auf die soziale und ökologische Realität der globalisierten Welt, führt dieses Programm weiter. Dieser Umstand wirft ein ungewohntes Licht auf Franziskus’ Pontifikat: Es erscheint dann nicht, wie es oft dargestellt wird, als – je nach Perspektive erfreuliche oder Besorgnis erregende – Abkehr vom Kurs seiner Vorgänger, sondern vielmehr als Blick aufs Ganze der katholischen Tradition, zu der eben auch die allzu häufig ausgeblendete Soziallehre der Kirche gehört. Ein solches Hinhören auf die Realität ist dabei jedoch selbstverständlich kein katholisches Spezifikum, sondern eine Grundoption der menschlichen Vernunft überhaupt. Dabei geht es keineswegs um eine bloss theoretische oder akademische Angelegenheit. Wie wir mit der aktuellen sozial-ökologischen Krise kognitiv umgehen, wird entscheidend dafür sein, ob die nächsten Jahrzehnte halbwegs friedlich über die Bühne gehen werden. Dazu jedoch braucht es nicht die interessensgeleitete Forschung neoliberaler, unter der Fahne christlicher Werte auftretender Denkfabriken, sondern eine wissenschaftsfreundliche Perspektive sowie eine Ethik, die die Menschenwürde ins Zentrum stellt.