«Laudato si ’»

Eine kritische Lektüre der Papst-Enzyklika

Als Kapuziner in der Nachfolge des Franz von Assisi, als Fachmann für franziskanische und biblisch orientierte Spiritualität, als Gründer des Instituts für Spiritualität und als Mitbegründer des Instituts für Theologische Zoologie (beide in Münster/Westfalen) und als Präsident von AKUT-CH, der Aktion Kirche und Tiere, fühle ich mich aufgerufen, einen kritischen und hoffentlich weiterführenden Kommentar zur Enzyklika «Laudato si’» vorzulegen.

Dabei möchte ich festhalten, dass sich der Papst in der Analyse der ökologischen Probleme auf dem neuesten Stand der Wissenschaft bewegt. Zu würdigen ist in besonderer Weise, dass er sich damit innerhalb der päpstlichen Kurie durchzusetzen vermochte. Auch seine orientierenden politischen und spirituellen Weisungen stellen einen riesigen Schritt in der lehramtlichen Tradition der Kirche dar. Meine kritischen Äusserungen wollen in keiner Weise diese grossartige Enzyklika herabsetzen, sondern an einigen Punkten aufzeigen, dass weitere Schritte notwendig sind.

Franz von Assisi als Bezugsperson für ökologisches Verhalten

Vor bald 50 Jahren hat der amerikanische Mediävist und Wissenschaftshistoriker Lynn White († 1987) seine Zweifel geäussert, ob man der ökologischen Krise mit wissenschaftlichen und technischen Mitteln Herr werden könne. Die Wurzeln der Krise seien religiöser Natur und ein Ergebnis der falsch verstandenen biblischen Aufforderung, sich die Erde untertan zu machen (Gen 1,28). Dieser religiös begründeten Überordnung des Menschen über die Schöpfung müsse eine andere Religion gegenübergestellt werden, in der der Mensch nicht über den Geschöpfen stehe, sondern sich als Bruder oder Schwester neben sie stelle. Eine solche «Demokratie der Geschöpfe» habe Franz von Assisi vertreten und vorgelebt, weshalb er ihn als «Patron» für alle vorschlage, die sich ökologisch engagieren.1 Die Anregung fand Gehör bei Papst Johannes Paul II. (1979), und Papst Franziskus legt nun auch inhaltlich den Akzent auf ein allgemein verbindliches Engagement der Kirche und der Gesellschaft, das Franziskus als Bezugsperson begreift.

Unter vielen Aspekten bringt die Enzyklika das franziskanische Anliegen zur Geltung. Er übernimmt die familiären Ausdrücke «Mutter» und «Schwester», welche der Poverello für die Erde gebraucht. Wie für Franziskus ist für den Papst die Erde ein Subjekt, dem Leidensfähigkeit zuzuordnen ist. Die Erde «schreit auf» wegen des «unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter». Unter den am meisten verwahrlosten und misshandelten Armen dieser Welt «seufzt» unsere unterdrückte und verwüstete Erde (vgl. Röm 8,22/vgl. LS 2). Wie Franziskus von Assisi sagt der Papst, dass der Mensch Erde sei, ein «Erdling» (vgl. Gen 2,7), der sich schon deshalb zur Erde anders verhalten müsste. Und ohne Zweifel sind die Bezüge der Enzyklika zu den franziskanischen Anliegen vielfältig und konkret. Vor allem umfassen die Geschwisterlichkeit und die «compassio» des Franziskus Menschen, Tiere und die ganze Schöpfung. All diese Äusserungen geben die Intention des Franziskus wider. Die Frage stellt sich allerdings, ob die Enzyklika die von Lynn White postulierte Neuinterpretation des Schöpfungsverhältnisses realisiert.

Der Eigenwert der Geschöpfe

Jedes Geschöpf hat nach dem Papst einen theologisch begründeten Eigenwert. In objektiver Hinsicht ist jedes Geschöpf auf seine Weise kultfähig und hat uns Menschen etwas zu sagen. In der Art, mit der man heute mit den Geschöpfen umgeht, verletzt man diesen zweifachen Eigensinn, ja man nimmt ihnen die Fähigkeit, Gott zu loben und zu preisen, und man unterbindet ihren Offenbarungsauftrag; man verschliesst sich der Botschaft, die jedes Geschöpf auszurichten hat.

Philosophisch gesehen entsteht dieser Eigenwert nicht erst durch den Glauben oder die Anerkennung durch den Menschen, sondern liegt im Geschöpf selbst begründet: «Unter Eigenwert versteht man mittlerweile gemeinhin einen Wert, der nicht erst durch die Wertschätzung eines anderen zustande kommt, sondern den das entsprechende Seiende von sich aus und um seiner selbst willen besitzt. Eigenwerte können daher nur anerkannt, nicht aber zuerkannt werden. Anerkannt wird in diesem Fall, dass es sich bei den Tieren (und Pflanzen) um Mit-Lebewesen handelt, die sich in je spezifischer Weise entwickeln und bei all ihrem Tun und Lassen auf den eigenen Selbstaufbau und Selbsterhalt aus sind. Im Hinblick auf diesen Selbstzweck sind sie Subjekte eines Lebens, gibt es für sie ein Wohl und Wehe, auch wenn sie nicht um dieses ihr Wohl und Wehe wissen. Im Hinblick auf dieses Streben nach vitaler Autonomie und Entfaltung ihrer natürlichen Integrität sind die Tiere mit dem Menschen vergleichbar. Es ist das Verdienst von Meyer-Abich, durch eine strenge, auf die naturgeschichtliche Verwandtschaft abhebende Argumentation, die im Teilen der Habitate, wie in der Würde von Mensch, Tier und Pflanze liegende Rechtsgemeinschaft zwischen allen Lebewesen der Natur immer wieder herauszustellen.»2

Die Philosophie spricht auch von «Selbstzweck». Darnach folgen die Geschöpfe, vor allem die Tiere, zunächst eigenen Zwecken (gut leben wollen, Nachkommen haben ...) und entziehen sich so dem konsumierenden Zugriff des Menschen.3 Ein anderer Begriff zur Bezeichnung des Selbstwertes der Geschöpfe wäre der Begriff «Subjekt». Diesen Begriff will der Papst aber nur dem Menschen vorbehalten. Freilich fügt er dann hinzu, dass deswegen die Geschöpfe nicht zu blossen Objekten degradiert werden dürfen. Aber was sind sie dann? Der Papst hat dafür keinen Begriff, obwohl er dann zum Beispiel sagt, dass die Erde «seufzt und schreit».

Der Alleinanspruch des Menschen, Subjekt zu sein, kann aber heute nicht mehr gehalten wer-den. Gerade wenn man sich auf Franziskus beruft,4 muss man die Subjekthaftigkeit auch schon von den anderen Geschöpfen aussagen. Gerade darin besteht ihre Würde, dass sie ansprechbare und zur Antwort fähige und «freie» Subjekte sind. Letztlich steht diese Einsicht auch hinter der Anrede «Schwester» und «Bruder», mit der Franziskus jedes Geschöpf anspricht. Diese Auffassung wird heute auch von der «Biosemiotik»5 vertreten und von der Philosophie gestützt: «Für den Glauben gilt überdies der den menschlichen Sinn stimulierende Anspruch auf Freiheit. Sucht man auch hier nach einer Entsprechung zwischen Mensch und Welt, scheint man ins Ausweglose zu geraten. Denn die in diesem Punkt bedauerlich defensiv argumentierende Philosophie räumt bestenfalls dem Menschen Freiheit ein und erklärt den Rest der Welt zu einem determinierten Automaten, in dem angeblich alles nach dem Gesetz der Kausalität ablaufen soll. Dass dabei die physikalisch längst überwundene Mechanik Newtons bemüht wird, ist nur die eine Seite des Irrtums. Die andere liegt darin, dass der Determinismus die Eigenart des Lebens leugnet. Leben ist aber nur möglich, weil es in allen seinen Reaktionen Spielräume nutzt. Die ihm dazu in einer Spontaneität gewährten Chancen müssen als Vorstufen der menschlichen Freiheit begriffen werden. Mit der Selbstorganisation des Lebendigen begegnet Freiheit im Universum nicht erst beim Menschen. In naturgeschichtlicher Perspektive muss sie vielmehr als Basismoment der Evolution begriffen werden. Also kann man sagen, dass die Vernunft des Glaubens auch darin hervortritt, dass er die Freiheit exponiert, die ihm aus den lebendigen Prozessen der Welt bereits entgegenkommt.»6

Wenn aber jedes Geschöpf Subjekt, Schwester oder Bruder ist, dann drängt sich eine weitere Begrifflichkeit auf: Jedes Geschöpf ist in seiner Eigenschaft als «Einzelnes», als «Individuum» zu betrachten. Es fällt auf, dass der Papst eher das Verschwinden der Arten beklagt als jenes der einzelnen Geschöpfe.

Mensch und Tier

Zu Recht fordert der Papst eine neue Synthese, «welche die falschen Dialektiken der letzten Jahrhunderte überwindet» (121). Doch vertritt er selbst mindestens in zweifacher Hinsicht überholte Gegensätze. So setzt er die Evolutionstheorie in einen Gegensatz zur Schöpfungstheologie, indem er meint, dass es einen neuen Eingriff Gottes braucht, um das Menschsein des Menschen bzw. seine Subjekthaftigkeit oder «Person» zu begründen. Angenommen dieses Postulat bestehe zu Recht: Warum fordert der Papst dann aber nicht auch ein solches Eingreifen für die anderen «Sprünge» in der Evolution: beim Übergang vom Materiellen zum Lebendigen, von den Pflanzen zum Tier, von den Tieren zu den Tieren mit einem zentralen Nervensystem und von diesen zu den «Hominiden». Immer erscheint etwas Neues, das nach traditioneller Deutung im Vorausgehenden nicht gegeben sein «kann», nach der Evolutionstheorie aber sehr wohl. Für ein ethisches und ökologisches Verhalten sind diese Unterschiede von grosser Bedeutung. Der Papst anerkennt aber ausdrücklich nur diesen einen Sprung vom Hominiden zum Menschen, alles andere wird im Begriff «Natur» subsumiert. Die genannten Unterschiede aber ergeben sich auch ohne das theologische Postulat eines jeweils neuen Eingreifens Gottes. Gott ist als Schöpfer eine Beziehungsrealität, die als Hoffnung und Verheissung alle Schöpfung durchdringt, nicht aber eine Erklärungsinstanz.

Ähnliches gilt für den Gegensatz «Anthropozentrismus» – «Biozentrismus». Der «Biozentrist» Albert Schweitzer († 1965) und der Sonnensänger Franz von Assisi beweisen, dass die Verlagerung auf das Leben bzw. auf die «Würdigkeit» der Geschöpfe in keiner Weise die Konsequenzen hat, die Papst Franziskus befürchtet. Das Institut für theologische Zoologie hat in seinem ersten Jahrbuch7 von den unterschiedlichsten Positionen her einen Paradigmenwechsel gefordert: Der Planet Erde hat nur dann eine Zukunft, wenn wir das Leben in den Mittelpunkt setzen.

Die Logik der Enzyklika ist mir diesbezüglich in keiner Weise plausibel. Beweisen die vom Papst genannten negativen Verhaltensweisen des Menschen nicht gerade das Gegenteil? Die behauptete Besonderheit des Menschen besteht doch gerade auch darin, dass dieser sich etwas darauf einbildet und sich Rechte herausnimmt, die ihm nicht zustehen. Der Papst selbst hatte in Nummer 91 auf eindrückliche Weise darauf hingewiesen, dass die Grausamkeit des Menschen eine schreckliche Tatsache ist, die der Würde des Menschen widerspricht, und dass Grausamkeit gegenüber den Geschöpfen Auswirkungen hat auf das Verhalten unter den Menschen. Die Grausamkeit ist eine Konstante der menschlichen Geschichte, sie wird aber von den sogenannten Humanisten nahezu immer geflissentlich ausgeklammert, wenn sie vom «Humanum» sprechen.8

Die bisherige Moral hat die moralische Verantwortung nur im Zwischenmenschlichen angesiedelt, so dass Verschandelung der Natur oder Tierquälerei nicht als «Sünde» betrachtet wurde. Noch 1989 äusserte sich Alfredo Battisti, der Erzbischof von Udine, in diesem Sinne.9

Albert Schweitzer, dessen 50. Todestag im letzten Jahr gefeiert wurde, hatte sich Jahrzehnte mit der Frage beschäftigt, warum denn so viel Grausamkeit unter den Menschen vorkommt. Die Antwort fand er 1915, als er von seinem Boot aus sah, wie vier Nilpferde in der gleichen Richtung schwammen. Er formuliert sie in seiner berühmten Formel «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»10 Auf diese Weise steht Albert Schweitzer für einen Biozentrismus, der die Verantwortung des Menschen auf eine einmalige Weise herausstellt.

Auch der Sonnengesang des Franz von Assisi, auf den sich der Papst ja stützt, enthält eine nahezu ontologische Ablehnung der besonderen Stellung des Menschen: «Kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.» Dieser Satz wird von der Ermahnung 5 her verständlich. Da sagt Franziskus, dass das Besondere des Menschen gerade darin besteht, dass er Christus gekreuzigt hat, also in einem Akt grausamster Art gegenüber Gott schuldig geworden ist. Jedes nichtmenschliche Geschöpf ist darum nach Franz von Assisi würdiger, Gottes Lob zu singen. Sein Sonnengesang ist der poetische Ausdruck dafür: Franziskus ruft die Geschöpfe, Gott preisend zu benennen, also das zu tun, wofür der Mensch nicht würdig ist. An anderer Stelle (NbR 23,5) verweist Franziskus aus der gleichen Haltung heraus auf Jesus Christus, der die Unwürdigkeit des Menschen ersetzen soll. Damit könnten wir auf die Aussage der Enzyklika einschwenken, die von einem neuen Menschen spricht: «Es wird keine neue Beziehung zur Natur geben ohne einen neuen Menschen. Es gibt keine Ökologie, ohne eine angemessene Anthropologie» (118).

Die Enzyklika würde nichts von ihrer Aussage verlieren, wenn sie die Besonderheit des Menschen nicht so sehr strapazierte. Dass der Mensch – im Unterschied zu den anderen Geschöpfen – eine moralische Verantwortung für das Ganze übernehmen muss, zeigen Albert Schweitzer und Franz von Assisi. Ebenso klar ist, dass Sorge für die Tiere und Sorge für den Menschen eine einheitliche Dynamik darstellen müssen. Nach beiden Seiten hin gibt es Fehlhaltungen: Man kann ob der Sorge um die Tiere das Wohl der Menschen vernachlässigen (91), aber ebenso sehr das Tierleiden vergessen im Einsatz für den Menschen. Die einheitliche Dynamik sieht der Papst wiederum in Franz von Assisi und seinem Sonnengesang vorgegeben.

Fazit

Als Fazit ist festzuhalten: Papst Franziskus nimmt zwar viele Einsichten und Perspektiven des Franz von Assisi und seines Sonnengesanges auf. Das ist ein ungeheurer Schritt nach vorn. Aber die Enzyklika ist noch weit entfernt von Franz von Assisi und seiner Schöpfungsspiritualität. 

1 Lynn White: The historical roots of our ecologic crisis, in: Science 155 (1967), No. 10, 1203–1207; oder in: Ecology and religion in history. New York 1974; Internet: www.uvm.edu/~gflomenh/ENV-NGO-PA395/articles/Lynn-White.pdf

2 Franz-Theo Gottwald: Agrar- und Esskultur. Zur ethischen Dimension der Ernährung, in: Hans Werner Ingensiep / Anne Eusterschulte (Hrsg.): Philosophie der natürlichen Mitwelt: Grundlagen – Probleme – Perspektiven. Würzburg 2002, 138.

3 Norbert Walz: Die metaphysische Dimension der Tierethik: www.altex.ch/resources/altex_2008_4_321_325_Walz.pdf (Zugriff: August 2015).

4 Anton Rotzetter: Das Tier als Subjekt bei Franz von Assisi – eine bis heute nicht eingeholte Perspektive, in: Grüne Reihe 111, Das Buch der Schöpfung lesen – Die Natur zwischen Mystik und Missbrauch. Bonn 2013, 24–28.

5 Andreas Weber: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin 2007, 61 f.

6 Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. München 2014, 256.

7 Rainer Hagencord / Anton Rotzetter (Hrsg.): Neue Wahrnehmung des Tieres in Theologie und Spiritualität. Münster 2014.

8 Adrian Holderegger / Siegfried Weichlein / Simone Zurbuchen (Hrsg.): Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft. Freiburg/CH-Basel 2011.

9 Kurt Remele: Von Hermelinen, Menschen und Gott: christliche Tierethik, in: Edith Riether / Michael Noah Weiss (Hrsg): Tier – Mensch – Ethik. Wien 2012, 169–188, hier 172.

10 Albert Schweitzer: Auf der Suche nach dem sittlichen Grundprinzip, in: Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur. München 1966, 179 ff. oder: Ders.: Ehrfurcht vor den Tieren. München 2006, 21.

Anton Rotzetter

Anton Rotzetter

Anton Rotzetter OFMCap (* 3. Januar 1939 in Basel; † 1. März 2016 in Fribourg) war ein Schweizer Kapuziner und Buchautor. Rotzetter war ein weithin bekannter Fachmann für franziskanisch und biblisch geprägte Spiritualität. Er forschte wissenschaftlich zu Franz von Assisi. Er hat über 70 Bücher verfasst und war in zahlreiche redaktionelle sowie schriftstellerische Tätigkeiten in verschiedenen Zeitschriften eingebunden. Er lebte zuletzt im Kapuzinerkloster Fribourg in der Schweiz.