Von der Passion einmal abgesehen, gibt es zu keinem kirchlichen Festkreis mehr musikalische Interpretationen als zu Weihnachten: Von Dietrich Buxtehudes intimer Kantate «Das neugeborene Kindelein» über das populäre Bach’sche Weihnachtsoratorium bis hin zu Arthur Honeggers «Cantate de Noël» und dem grossen Orgelzyklus «La Nativité» von Olivier Messiaen haben sich Komponisten mit der Menschwerdung Christi auseinandergesetzt – in unterschiedlicher Weise. Barock-naiv Buxtehude, lutherisch-biblisch Bach, humanistisch-reflektiert Honegger, theologisch Messiaen. Doch der Schweizer Komponist Frank Martin (1890–1974) ging noch weiter. In seinem dreiteiligen «Le Mystère de la Nativité» thematisiert er neben Bethlehem, den Hirten und den Königen auch das Hintergrundgeschehen im Himmel («Au paradis»), in der Hölle und Vorhölle («Aux enfers», «Aux limbes»), auf Erden («Sur terre») und im Tempel («La Présentation au temple»).
Das Werk «Le Mystère de la Nativité» entstand 1959 in der Nachfolge seines Oratoriums «In terra pax» und nachdem er sich in einer grossen Passionsvertonung «Golgotha» (1948) eingehend mit der christlichen Deutung der Menschheitsgeschichte befasst hatte. Frank Martins Auseinandersetzung mit dem Geheimnis von Weihnachten ist quasi die Antwort darauf. Er stützte sich dabei auf den Text eines spätmittelalterlichen Mysterienspiels «Mystère de la Passion» von Arnoul Gréban (1420–1471), welches die gesamte Heilsgeschichte von der Empörung Luzifers und dem Sündenfall an über die Geburt und das Leiden Christi bis zu dessen Auferstehung beinhaltet. Frank Martin hatte den Text 1920 kennengelernt, als seine Schwester Pauline in einer Genfer Kirche ein Krippenspiel mit Passagen aus diesem Mysterienspiel Grébans aufführte und ihn um einige Chorsätze (altfranzösische Noëls) dazu bat. Diese Fragmente wurden dann aber erst 1994 als «Cantate pour le temps de Noël» uraufgeführt und 2007 von Radio Basel auf CD eingespielt. Seine Frau, Maria Martin, hatte das Manuskript der Musikhochschule Luzern zur Verfügung gestellt.
Ein weihnachtliches Welttheater
Denn Frank Martin war an einer umfassenderen Darstellung des «Mystère de la Nativité» interessiert, und da Arnould Grébans Dichtung seine Liebe für bühnenmässige Darstellung von Inhalten inspirierte, entwickelte Frank Martin aus dem Prolog und dem ersten Teil davon eine Art weihnachtliches Welttheater, welches sich simultan auf drei Ebenen abspielt: im Himmel, auf der Erde und in der Hölle, drei Ebenen, die sich auch musikalisch voneinander abgrenzen. Während die himmlische Sphäre von «simplicité et pureté» geprägt ist, verkörpern die Auftritte der Teufel mit ihrem derben Kolorit sowohl Komik wie Dämonie, wobei hier die Verwendung von Dodekaphonie (Zwölftonreihen) und Atonalität auch einiges über Frank Martins stilistische Ausrichtung verraten. Die irdischen Szenen dagegen sind von volksliedhaftem Charakter und entsprechen wohl am ehesten der traditionellen Vorstellung von Weihnachten: das Kind in der Krippe, umgeben von Maria und Joseph und den Hirten. Ein zentraler Aspekt dabei ist Frank Martins bzw. Arnould Grébans Auseinandersetzung mit der Heimsuchung Mariä: Nachdem Gabriel Unserer Lieben Frau erschienen ist (Szene V), eilt sie – mit dem ausdrücklichen Einverständnis von Joseph – zu Elisabeth, wird da von ihr seliggepriesen und gesegnet und stimmt ihr Magnificat an. Der Chor beschliesst das Ereignis mit den Worten:
O teure Herrin, o hohe Fürstin, erhabene Frau,
durch deine grosse Demut freut und erhebt sich dein glorreiches Volk.
Denn Hoffnung leitet uns,
dass die Menschennatur durch dich
wieder zu voller Herrlichkeit hinan finde,
von der Schuld und Sünde
sie ausgeschlossen hatte. Amen
Die Hölle reagiert mit Entsetzen und Empörung (Szene VI): Luzifer ruft die Teufelsschar «aus den schwarzen Abgründen», und alle tauchen sie auf: Satan, Beelzebub, Astaroth, um dem Auftrag Luzifers zu folgen, zur Erde hinaufzufahren und dort Böses zu stiften, und um so zu verhindern, dass, «falls eines Tages ein Mensch von so vollkommener Tugend geboren würde, und durch ihn die in Sünde verstrickte Menschheit befreit werden könnte». Deshalb wird auch im Himmel Vorsorge getroffen. «Die Zeit ist gekommen, dass mein treuer Sohn Jesus geboren werde von der edlen und geheiligten Jungfrau», spricht Gott Vater und ordnet an, «dass diese gesegnete Tat festlich und geheiligt sei, und die Botschaft den Hirten der Gegend verkündet werden soll». Gabriel übernimmt diese Mission und die Engel an der Krippe in Bethlehem stimmen die Weihnachtsbotschaft an (Szene VIII):
Et incarnatus est de Spiritu Sancto
Ex Maria Virgine
Et homo factus est.
Die Hirten auf dem Felde (Szene IX) – auch sie sind namentlich genannt: Aloris, Ysambert, Pellion und Riffart – hören das «Gloria in excelsis» Gabriels, eilen zur Krippe und preisen dort die «himmlische Geburt». Sie danken der Hohen Frau für ihre «Güte und Milde, die wir in der Gegenwart Eures vielgeliebten Sohnes erfahren» und verabschieden sich schliesslich wieder von diesem «Schatz der Göttlichkeit».
Umrahmt ist das Geschehen von einem Prolog im Himmel, in welchem wir vom «unerforschlichen Ratschluss» Gottes vernehmen, die «Sünde unseres Urvaters» zu tilgen und die Klagen unserer Väter, die in der Vorhölle der Erlösung harren (Szene II) zu hören. «Wann wirst du kommen, gütiger Heiland, wann wirst du kommen, Heiland der Welt, wann wirst du kommen, liebster Messias», seufzen dort Adam und Eva, die prominentesten Insassen.
Die Hölle ahnt Unheil und rüstet sich unter fürchterlich-komischem Gesang, dies zu verhindern (Szene III). Doch das Mysterium von Weihnachten nimmt seinen Gang.
Später, die Hirten sind wieder bei ihren Schafen und Maria «hüpft das Herz vor Freude», führt uns der dritte Teil von Frank Martins «Le Mystère de la Nativité» zum greisen Simeon dem Propheten (Szene X) und zu den Drei Weisen (Szene XI), die dem Stern gefolgt und überzeugt sind, den «hohen König, den wir suchen» in Bethlehem zu finden. Frustriert gibt Satan auf: «Ich verliere hier nur Zeit und Kraft, und es packt mich grosse Wut. Was soll mir diese Maria, die einen Sohn zur Welt gebracht hat, um den man so viel Aufhebens macht? Ihre Empfängnis ist mir entgangen und die Geburt blieb mir gänzlich verborgen.»
Das weihnachtliche Welttheater endet schliesslich im Tempel (Szene XII), wo nochmals Simeon erscheint, zusammen mit Anna der Prophetin. Alle preisen sie «Jerusalem, die fröhliche Stadt»:
Sanctus, Sanctus, Sanctus,
Dominus Deus Sabaoth.
Pleni sunt coeli et terra gloria tua.
Benedictus qui venit in nomine Domine:
Hosanna in excelsis!
Ein Mysterienspiel
Es fällt auf, dass Frank Martin seine Weihnachtsgeschichte nicht als Oratorium (siehe Bach), sondern als «Mysterium» bezeichnet. Im eigentlichen Sinne des Wortes verkörpert dieser aus dem Griechischen stammende Begriff eine «geheimnisvolle Handlung». Eine andere etymologische Ableitung geht auf das lateinische Wort «ministerium» (Gottesdienst) zurück. Beide Deutungen treffen bei Frank Martins Werk zu, die Sichtbarmachung eines Welt-Geheimnisses. Deshalb auch wünschte sich der Komponist eine theatralische Realisierung, die er sich so vorstellt:
Es ist unerlässlich, wie im Mittelalter ein einziges Bühnenbild zu verwenden, aber eine dreigeteilte Bühne, umfassend das Paradies, die Erde und die Hölle. In der Mitte ein prunkvoller Thron für Gottvater, der die Engel überragen soll. Er muss in der Art des glorifizierten Christus der Byzantiner erscheinen, in einem langen, in Falten gelegten Gewand. Er ist nicht der Greis der Renaissance, sondern ein Mann in den besten Jahren. Diese materielle Verkörperung von Gottvater verlangt Frank Martin explizit mit dem Hinweis auf eine sehr alte (eben mittelalterliche) Tradition: Mysterienspiel also, nicht Grand Opéra.
1960, ein Jahr nach der konzertanten Genfer Ur-Aufführung unter Ernest Ansermet (1883–1969) erfüllte sich der Wunsch des Komponisten an den Salzburger Festspielen, und das globale Echo dieser Produktion machte ihn und seine Musik weltbekannt. Denn die Musik von Frank Martins «Le Mystère de la Nativité» nimmt vom ersten Ton an gefangen: Sie ist in Anlage auf hohem Niveau einfach, und sie ist da, wo sie komplex wird (Teufelsszenen) dermassen bildlich, dass man atonale Harmonik und Stimmführung wie selbstverständlich erlebt. Das ganze Werk strahlt zudem jene Lebendigkeit, Wärme und Atmosphäre aus, die jeder künstlerisch ehrlichen Musik eigen ist. Frank Martin ist denn auch einer der bedeutendsten Schweizer Komponisten überhaupt; zusammen mit Arthur Honegger brachte er die Tradition des Oratoriums in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer (letzten?) Blüte.
Ein Blick auf das Leben des Komponisten
Frank Martin (*1890) stammt aus einem calvinistischen Genfer Pfarrhaus. Seine Ausbildung als Musiker vermittelte ihm Joseph Lauber (1864–1952), ein in Genf wirkender Luzerner, später auch Émile Jaques-Dalcroz (1865–1950). Daneben studierte er Mathematik und Physik an der Universität. 1946 siedelte er zusammen mit seiner Frau Maria Martin in die Niederlande über, wo heute noch sein Wohnhaus in Naarden zu besichtigen ist, nun als Museum. Neben seiner kompositorischen, pianistischen und dirigentischen Tätigkeit unterrichtete Frank Martin in den 50er-Jahren auch an der Hochschule für Musik in Köln. Sein Grab liegt im Cimetière des Rois in Genf.Schwerpunkt von Frank Martins Schaffen bilden Vokalwerke, doch findet sich in seinem Œuvre auch bedeutende Instrumentalmusik, welche Bestandteil des kammermusikalischen und sinfonischen Repertoires geblieben sind. Sein letztes Werk entstand kurz vor seinem Tode 1974: Die Kantate «Et la vie l’emporta», in welcher es um den Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Geist und Materie geht.» Sie kumuliert in der zentralen Strophe des Luther’schen Osterliedes «Christ lag in Todesbanden»:
Es war ein wunderlicher Krieg,
da Tod und Leben rungen.
Das Leben behielt den Sieg,
es hat den Tod verschlungen.
Der Kreis schliesst sich: Die Parallelität zu «Le Mystère de la Nativité» ist offensichtlich, musikalisch und spirituell.
Alois Koch