Klingende Theologie

 Alois Koch liest auf dem Hintergrund seiner Erfahrung als Kirchenmusiker die Publikation des Luzerner Dogmatikers Wolfgang Müller. Dessen Buch «Klingende Theologie»1 widmet sich dem Werk von Olivier Messiaen.

Wenige Komponisten des 20. Jahrhunderts erhalten ähnliche publizistische Aufmerksamkeit wie Olivier Messiaen (1908–1992). Er hat in stilistischer und ästhetischer, aber auch in inhaltlicher Hinsicht Akzente gesetzt, welche die Musik und die Musikgeschichte der jüngeren Zeit wesentlich prägten: Seine theoretischen Erkenntnisse inspirierten die serielle und die postserielle Musik, seine synästhetischen Fähigkeiten eröffneten ungeahnte Klangfarbenspektren, sein hochprofessioneller Bezug zur Ornithologie weitete das Ton- und Rhythmusverständnis, sein Bezug zu fernöstlicher Mystik und ihrer Musik zeigten der eurozentrischen Kunstauffassung neue Wege, und seine unbedingte Gläubigkeit durchdrang sein Komponieren mit transzendentaler Kraft.

Musik und Theologie

All diese Parameter waren schon zu seinen Lebzeiten, besonders aber nach seinem Tod vor 24 Jahren immer wieder Anlass zu interpretatorischen Untersuchungen seitens der Musikwissenschaft. Nun hat sich auch ein Theologe, ein Dogmatiker gar, damit auseinandergesetzt: Mit systematischem Ansatz geht Wolfgang Müller den theologischen Perspektiven im Werk Olivier Messiaens nach. Triebfeder dabei ist seine Überzeugung, dass das Verhältnis zwischen Musik und Theologie nach den religiösen und geistesgeschichtlichen Umwälzungen seit Nietzsche neu reflektiert werden muss. Das Phänomen, dass führende Komponisten seit Schönberg bis Pärt, Penderecki und Rhim mit ihrer Musik Bereiche in Anspruch nehmen, die bis dahin der Theologie vorbehalten waren, dass Musik nun eine neue religiöse Funktion beansprucht, die über Wortbezug, Verkündigung und Frömmigkeitspraxis hinausreicht, bringt die Fragestellung nach «Musik als Ort theologischer Fragestellung» in den Fokus. W. Müller rollt sie anhand der Kunst Olivier Messiaens auf.

Ausgangsplattformen dafür sind Messiaens Biografie und Opus, seine «Theologie» und Spiritualität und sein Umfeld. Zugang zum systematischen Erfassen dieser künstlerischen Persönlichkeit und seines kompositorischen Werkes schaffen einerseits (musik-)theoretische Parameter, die sich v. a. in den Schriften Messiaens finden (Technique de mon langage musical 1944 und Traité de rythme, de couleur, et d’ornithologie 1949–1994), anderseits theologische Aspekte von Augustinus bis Hans Urs von Balthasar, welche bei Messiaen Resonanz finden. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind dabei auch die Abgrenzungen und Bezüge zu Charles Tournemire (1870–1939), Mozart, Debussy, Wagner, Schönberg, Bartok, Honegger u. a., Komponisten, welche in irgendeiner Form Messiaen tangieren.

Wichtigste Werke Olivier Messiaens

Die Auseinandersetzung mit W. Müllers «Klingender Theologie» würden schon diese Kapitel lohnen, es ist eine stringente Aufarbeitung jenes Kräfteparallelogramms, welches Messiaens musikalisches Universum bestimmt. Dennoch ist das Zentrum dieser Studie die darauf basierende Darstellung der wichtigsten «Werke Messiaens in theologischer Perspektive». Sie setzt beim Erstlingswerk Le Banquet céleste von 1928 an, führt über die grossen Orgelzyklen L’Ascension, La Nativité, Messe de la Pentecôte u. a. hin zu den beiden «Opera maxima» Messiaens: dem Oratorium La Transfiguration von 1965/69 und der Oper St-François d’Assise von 1975/83; verständlicherweise nicht einbezogen ist die abendfüllende Turangalîla-Sinfonie von 1946/48, ihrerseits Bestandteil einer Trilogie über die Tristan-Thematik.

Die Quintessenz von W. Müllers Untersuchungen des Werkes Messiaens mündet in der Definition von «Musik als Ort theologischer Erkenntnis», eine Conclusio, welche die jahrhundertealte Auseinandersetzung der Kirche mit dem «Nil impurum aut laszivum» (Nichts Unreines und Ungehöriges in kirchlicher Musik) auf die Ebene der Individuation führt. Der Komponist und Dirigent Hans Zender hat diesen Begriff zur Umschreibung jener Fähigkeit von Kunst verwendet, mit ihrer Hilfe das «rationalisierte und gefühlsfixierte Ich zu überschreiten und einem überindividuellen Selbst näher zu kommen». Bereits Beethoven hatte mit seinem Ausspruch darauf hingewiesen: Musik sei höhere Offenbarung als jede Philosophie. Musik wird «Teil einer ästhetischen Theologie», die göttliche Herrlichkeit «kann ihre Transzendenz in der weltlichen Schönheit der Musik aufleuchten lassen». In Messiaens Musik erfährt diese Individuation eine eschatologische Dimension. Sie gibt «der Theologie zu denken und legt dem theologischen Diskurs neue Felder der Reflexion vor».

Wolfgang Müllers Beitrag ist eine überzeugende Auseinandersetzung über Glaube, Reflexion und Mysterium im Werk Messiaens und die bisher schönste Hommage an einen der faszinierendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dass sie von einem Theologen stammt, enthebt sie jeden kunst-ideologischen Verdachts.

 

1 Wolfgang Müller: Klingende Theologie, Ostfildern 2016.

Alois Koch

Der Dirigent, Organist und Musikwissenschaftler Dr. phil. Alois Koch leitete bis 2008 die Hochschule für Musik und die Kirchenmusik an der Jesuitenkirche Luzern. Seit seiner Emeritierung ist er als Organist, Referent und musikalischer Berater tätig. www.aloiskoch.ch