Kleine Einführung in das geistliche Leben

Wer heute im kirchlichen Dienst arbeiten und bestehen will, und zwar nicht nur ein paar Tage oder Wochen, sondern auf längere Sicht, der/die braucht einen aufrechten Gang, gestärkt aus geistlichen Quellen, Reflexion und Unterstützung in einem sozialen Netz. Wer sich nicht allzu rasch in der Hektik des Alltags verlieren, emotional in ein Burn-out geraten will, sehe zu, dass er/sie regelmässig aus geistlichen Quellen trinkt und sich in der Tiefe des Gebetes verankert. Dadurch kann er/sie diesen Dienst mit Freude erfüllen. Leben aus spirituellen Quellen ist nichts Spektakuläres und beruht nicht auf kostspieligen Aufwendungen. Es handelt sich vielmehr um das einfache, gewöhnliche Leben aus der Tiefe, gespeist von biblischen Texten und meditativen Kräften. Auf diesem Hintergrund lassen sich hohe Anforderungen erfüllen und massive Widerstände parieren. Ein guter Weg, um diese geistigen Quellen immer wieder fliessen zu lassen, sind Exerzitien; sie helfen, ein geistliches Leben zu führen. Damit verbunden kann eine «geistliche Begleitung»1 sein, mit der regelmässig das Leben betrachtet und neu auf Gott ausgerichtet wird. Schaut man sich etwas auf diesem Gebiet um, etwa in Bildungshäusern und in der Öffentlichkeit, staunt man über die bunte Vielfalt der Angebote. Yoga, buddhistische Praxen und Mediation überwiegen. Ich denke, dass auch die katholische Tradition eine ganze Menge spiritueller Impulse und Prinzipien zu bieten hat, die allerdings nicht einfach darzustellen sind.

Exerzitien

Exerzitien sind Zeiten der Stille, in denen Menschen zu sich selbst finden und ausatmen können. Während Exerzitien ruhen die üblichen Aufgaben und wird die Achtsamkeit auf sich selbst gelenkt, auf sein Leben, auf seinen Leib und auf seine Seele. In dieser Zeit können Sehnsüchte aufbrechen, Fragen sich stellen, Gefühle sich melden, die sonst totgeschwiegen werden. In Exerzitien unterscheiden wir das Wesentliche vom Unwesentlichen und überdenken unsere Beziehungen. Ganz bewusst wird das Gebet als Beziehung zu Gott durch Jesus Christus gepflegt. Hierbei spielen die gemachten Erfahrungen eine grosse Rolle. Nicht selten stehen Exerzitien auch an bedeutsamen Lebenswendepunkten.

Exerzitien gehen auf den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491–1556), zurück. In seinem Exerzitienbuch hat er vierwöchige geistliche Übungen beschrieben, welche Exerzitanten/- innen empfohlen sind, um neu zu sich selbst, zu den andern und zu Gott zu finden. Ignatianische Exerzitien zielen darauf hin, sein Leben zu ordnen, bewusst vor Gottes Angesicht zu stellen, nach seinem Willen auszurichten und dem befreienden Wirken des Geistes Raum zu geben. Mass nehmen diese Exerzitien an Jesus, dem Meister und Retter aller Menschen.

Zu ignatianischen Exerzitien gehört eine Begleiterin oder ein Begleiter, der/die den Wachstumsweg des Exerzitanten unterstützt und inspiriert. Diese Person tritt jedoch zurück hinter die Beziehung zwischen dem Exerzitanten und Gott.

Was bedeutet es, ein «geistliches Leben» zu führen?

«Geistlich leben» heisst keineswegs, neben dem alltäglichen Leben ein besonderes Leben zu führen, sondern vielmehr ein Leben mit religiösem Tiefgang zu gestalten und vor Gott und sich selbst zu verantworten. Das ist ungefähr das Gegenteil von einem flüchtigen Leben an der Oberfläche des Daseins. Hier geht es um ein waches, entschleunigtes und nachdenkliches Leben, das sich aus der Bibel, der Meditation und dem Gottesdienst nährt, das sich beschenkt weiss und nicht wegen Kleinigkeiten ins Wanken gerät.

Negativ abgrenzend charakterisiert sich ein bloss materielles Leben dadurch, dass es sich mit Essen und Trinken begnügt, mit Lärm und eitlem Tand, ohne darüber Gedanken zu verlieren, wie es dem Nebenmenschen ergeht. Ein solches Leben läuft auf einen platten Egoismus hinaus. Es blendet die Nöte der Welt aus – etwa die gegenwärtigen Kriege der Fundamentalisten.

Positiv formuliert versucht ein geistliches Leben, aus dem Vertrauen auf den dreifaltigen Gott zu leben. Es basiert seine Zukunft nicht auf eigene Verdienste und vorgezeigte Leistungen; es erwartet vielmehr alles von Gott: das Leben, die Gesundheit, die Begegnungen, das Glück und die Kraft für alles, nicht zuletzt für den Kampf gegen das Böse und für das Gute. Hier fliesst die Erfahrung ein, dass Glück letztlich nicht machbar, sondern ein geschenkhafter Segen ist. Der Jugendseelsorger Giovanni Bosco (1815–1888) hat dies gekannt, wenn er das Wort zu seinem Lebensmotto erhoben hat: «Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen.» Dieses Wort zeigt auch eine grosse innere Gelassenheit des Heiligen, ein weiteres Kennzeichen geistlichen Lebens.

Wer ein geistliches Leben führen will, nimmt Mass am Handeln und an den Worten Jesu Christi. Der Sohn Marias aus Nazareth wird für ihn/sie zu einem Leitbild und einem Vorbild. Dieses wäre aber in der heutigen Zeit umzusetzen, denn heute gibt es neue Situationen und Herausforderungen. Ein geistliches Leben befasst sich mit diesem Jesus, indem das Evangelium möglichst regelmässig ernst genommen, gehört und gelesen wird. Es geht darum, einen persönlichen Bezug zu Jesus Christus aufzubauen, wie er in der Heiligen Schrift dargestellt wird.

Schliesslich hofft ein geistliches Leben auf die lebendige Kraft des Gottesgeistes, der das ganze All erfüllt und dem Menschen geschenkt wird. In der Taufe und Firmung wird Gottes Geist erneut verliehen und mit der Gabe von Charismen verbunden. Zum geistlichen Leben gehört die «Unterscheidung der Geister», d. h. die Überlegung, ob unser Sein und Tun vor Gott Bestand haben kann. Es geht um die Frage, was Jesus zu unseren Unternehmungen denken würde. Wir versuchen, das Leben aus der Perspektive Gottes anzusehen und zu unterscheiden, was dem Evangelium entspricht und was ihm widerspricht.

Für das geistliche Leben kann man etwas lernen von heiligen Frauen und Männern. Ein naheliegendes Beispiel ist der Schweizer Mystiker und Friedensstifter Niklaus von der Flüe (1417–1487). Er verliess die Familie im Einverständnis mit Dorothea und führte dann im Ranft ein Leben des Gebetes. Er hielt manche Beratung für fragende Besucherinnen und Besucher und schlichtete eine zerstrittene Situation, die dann den Einzug der Kantone Solothurn und Zug in die Schweizer Eidgenossenschaft ermöglichte. Aus seinem Gebet heraus wurde er Friedensstifter. Die Eucharistie war ihm zudem besonders wichtig. Als einzige Speise in den letzten zwanzig Lebensjahren gab sie ihm Lebenskraft und festigte sein geistliches Leben.

Um nochmals auf die Frage zurückzukommen: Ein «geistliches Leben» führen heisst, ein in Gott verankertes Leben zu gestalten, das seine Grundhaltung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe von Zeit zu Zeit überdenkt, im Gebet auffrischt und in religiösen Riten Gott anheimstellt. Am Abend etwa ist das «Gebet der liebenden Aufmerksamkeit» eine schöne Übung, den Tag nochmals zu vergegenwärtigen, von Anfang bis Ende durchzugehen, die begegneten Personen zu würdigen und das Leben vor Gott auszubreiten.

Es stellen sich Fragen wie: Welche Begegnungen haben mich bereichert? Gab es eine Sternstunde? Blieb etwas offen? So kann man den Tag abrunden, verdanken und schliesslich auf den nächsten Tag vorausblicken. Das sind kostbare Momente des geistlichen Lebens. Auch viele fromme Musliminnen und Muslime führen durchaus ein geistliches Leben, wenn sie sich am Tag fünfmal Zeit nehmen für das Gebet, wenn sie im Antlitz Gottes verharren und ihr ganzes Leben auf ihn ausrichten.

Geistliche Begleitung als trialogische Beziehung

In Exerzitien, aber auch auf dem alltäglichen Weg kann eine «geistliche Begleitung» eine überaus inspiratorische Wirkung auf das innere Leben ausüben. Verfehlt wäre eine ideologische Indoktrination, denn es geht zunächst um ein Gespräch auf Augenhöhe, bei dem der Exerzitant bzw. die Exerzitantin Subjekt ist. Es geht um ein Gespräch zwischen einem Begleiteten / einer Begleiteten und einer Begleiterin / einem Begleiter. Dieses Gespräch ist auf Dauer angelegt, doch auch mit einem Ende! Aus den Gesprächsbegegnungen wächst eine personale Beziehung, in der Vertrauen entsteht und wächst.

Die Begleitung in der geistlichen Begleitung hat gleichwohl ein Gefälle. Es handelt sich um eine asymmetrische, nicht total partnerschaftliche Beziehung. In der geistlichen Begleitung sind verschiedene Rollen zugeteilt: Der Begleiter / die Begleiterin ist da, hört zu und eröffnet einen Raum. Die begleitete Person ist Akteur und steht in der Mitte des Gesprächs. Sie ist achtsam auf die Impulse der Begleitperson. In der geistlichen Begleitung kommt eine dritte Instanz dazu, nämlich Gott. Mit Gott stehen Begleiter und Begleitete in Bezug. Ziel der geistlichen Begleitung ist es, die Gottesbeziehung der Begleiteten zu entfalten und zum Wachsen zu bringen. Es geht eigentlich um eine trialogische Beziehung. Die geistliche Begleitung sieht Diskretion vor, aus der nichts in die Öffentlichkeit dringt. Vielmehr herrscht Stillschweigen über das jeweils Besprochene und einander Anvertraute.

Die geistliche Begleitung hat ignatianische Wurzeln und geht auf den heiligen Ignatius von Loyola zurück. Sie birgt die Chance in sich, eine freie Beziehung einzugehen, die Halt und Orientierung, Anspruch und Anerkennung bringen kann. Sie birgt auch Gefahren in sich – etwa der Übertragung, der Bevormundung oder des Sichverliebens.

Die Begründung der trialogischen Beziehung liegt in der Geschöpflichkeit. Die theologische Aussage «Gott hat den Menschen erschaffen» bedeutet, dass Gott mit seinem Geschöpf in Beziehung getreten ist. Die Begleiterin fragt sich: Was hilft der zu begleitenden Person? Sie versucht, ihr gerecht zu werden, ohne sie zu vereinnahmen. Sie drängt nicht ihre Ideen auf, übt keine Macht aus, sondern will ihre Freiheit und öffnet sich den Nöten und Anliegen der Person.

Im geistlichen Gespräch geht es um die Balance zwischen Nähe und Distanz: zwischen dem Grundbedürfnis, verstanden zu werden, und dem Bedürfnis nach Selbstständigkeit, Autonomie und Sichabgrenzen. Die Reflexion und Frage nach der Motivation, die Vor- und Nachbereitung des Gesprächs helfen, diese Balance zu finden. Eine Gefahr in geistlicher Begleitung besteht darin, unterdrückende Macht auszuüben: statt das Leben der begleiteten Person zu fördern, darauf zu pochen, dass die eigenen Ideen durchgesetzt werden; statt in die Eigenverantwortung zu befreien, diese zu übergehen, auch die Gefühle und inneren Regungen des Begleiteten zu ignorieren. Ziel wäre indessen, die Person zum Selbsthandeln zu ermächtigen.

Prinzipien des geistlichen Lebens

Wir orientieren uns an Michael Hettichs Darstellung der ignatianischen Spiritualität, der zwei hauptsächliche Merkmale nennt2:

Existenzielle Christusbezogenheit

Das wichtigste Prinzip für Ignatius ist die Ausrichtung des Lebens auf Jesus Christus. Er ist Zentrum und Fundament des christlichen Lebens. Hierbei zielt der Ordensgründer auf eine innere Nähe und Vertrautheit mit Jesus Christus, seinem Leben, Wirken und seinen Worten, insbesondere mit seinem Kreuzweg und der Auferstehung. Die Begegnung mit dem Gekreuzigten durchzieht die ganzen 40-tägigen Exerzitien. Es geht ihm um eine «grundsätzliche Angleichung des Lebens an das Vorbild Jesu»3, um «den Wachstumsprozess in der Christusbeziehung»4, ähnlich wie sich viele sunnitische Musliminnen und Muslime heute an Muhammad orientieren und ihn zu ihrem Vorbild nehmen. In den vierwöchigen grossen Exerzitien steht die Figur Jesu im Zentrum: in der zweiten Woche seine Menschwerdung, in der dritten Woche die Kreuzigung und in der vierten Woche die Auferstehung. Letztlich verweist Ignatius Christinnen und Christen auf Jesus, der sowohl «gnadenhaftes Geschenk» ist als auch im Gebet «Ergebnis eines ständigen Bemühens». Diese Ausrichtung auf Jesus (vgl. Kreuzwege) entspricht mittelalterlicher Spiritualität, welche die Menschheit Jesu neu entdeckt hat, heute aber umfassender gesehen werden muss.

Gott in allen Dingen suchen und finden

Abgesehen von der Christuszentriertheit, welche die gesamte ignatianische Spiritualität prägt, spielt das Prinzip «Gott in allen Dingen suchen und finden» eine bedeutende Rolle. Aber was meint dieses Prinzip? Kann Gott überhaupt «gefunden» werden? Kommt uns nicht der russische Weltraumfahrer Juri Gagarin (1934–1968) in den Sinn, dessen Mondumkreisung ihn zur Aussage bewogen habe: «Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen.» Dieses empirische Missverständnis ist bei einigen Zeitgenossen bis heute lebendig. Gott ist aber nicht wie ein empirisch verifizierbarer Gegenstand neben anderen Gegenständen auffindbar. Gott ist unsichtbar. Aber wie ist er denn zu finden?

Ignatius meint, Gott ist nicht ausserhalb der Welt und jenseits der menschlichen Erfahrungen zu suchen, sondern mitten im Leben. Gott hat mit den Menschen und mit der Welt zu tun. Ja, er hält die Welt zusammen.

So weit eine kleine Einführung in das Abc des geistlichen Lebens. Es geht nicht um ein Mehr-Wissen, sondern um das «Verkosten» der religiösen (Be-) Kenntnisse.

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Buchhinweise

Blittersdorf Maria, Geistliche Begleitung in Gruppen. Ein Beitrag zum Neuwerden der Kirche, Mainz 2015.

Bösch Nora, Aufbruch ins Weite. Exerzitien im Alltag (Diözese Feldkirch) Kevelaer 2000.

Bsteh Petrus / Proksch Brigitte (Hg.), Ordenscharismen im Aufbruch zum Dialog mit den Weltreligionen, Wien / Berlin 2014.

Greiner Dorothea / Erich Noventa / Klaus Raschzok / Albrecht Schödl (Hg.), Wenn die Seele zu atmen beginnt … Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig, 2007.

Harms Silke, Glauben üben. Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der «Exerzitien im Alltag», Göttingen 2011.

Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Urtext übersetzt von Peter Knauer, Würzburg 3 2003.

Ignatius von Loyola, Briefe und Unterweisungen (Deutsche Werkausgabe) Hg. von Peter Knauer, Würzburg 1993.

Hummel Lorenz / Kubiczek Marion, Die Mitte ist in dir: Exerzitien im Alltag, Mainz 2000.

Kissling Klaus (Hg.), Geistliche Begleitung. Beiträge zur Pastoralpsychologie und Spiritualität, Göttingen 2010.

Lies Lothar, Mysterium Vocationis. Sondierungen zur Spiritualität ignatianischer Exerzitien, Würzburg 2008.

Lohr Günther, Exerzitien im Alltag. Geistliche Übungen für Advent, Fastenzeit und andere Anlässe im Jahr, München 1998.

Mülling Sr. Christa / Zahner Br. Paul (Hg.), IHM Wohnung und Bleibe bereiten. Ein Franziskanischer Exerzitienweg, Münster 2012.

Przywara Erich, Deus semper maior. Theologie der Exerzitien, Freiburg 1939.

Scheuer Manfred, Und eine Spur von Ewigkeit. Ein geistlicher Begleiter durch das Jahr, Freiburg 2013.

Schwarz Andrea, Wie ein Gebet sei mein Leben. Exerzitien im Alltag, Freiburg i. Br. 2002.

Weidinger Getrud und Norbert, Achtsamkeit für jeden Tag. Übungen und Rituale zur bewussten Lebensgestaltung, Murnau 2015.

Wolff Gottfried, Zeiten mit Gott. Evangelische Exerzitien, Stuttgart 1980.

 

1 Vgl. Maria Blittersdorf, Geistliche Begleitung in Gruppen. Ein Beitrag zum Neuwerden der Kirche, Mainz 2015.

2 Michael Hettich, Den Glauben im Alltag einüben. Genese und Kriterien der ignatianischen Exerzitien im Alltag, Würzburg 2007, 25.

3 Ebd., 27.

4 Willi Lambert, Im Herrn. Christusbeziehung des Ignatius von Loyola, in: Korrespondenz zur Spiritualität der Exerzitien, 42 (1992) 9–41.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.