Katholizismus - Wie wir ihn sehen, nicht wie er ist.

Ein vergleichender Blick auf Frankreich und die Schweiz

Wie stehts mit der katholischen Kirche? Abnehmende Gläubigenzahlen, Priesterdefizit, schwindende Kenntnisse, Beliebigkeitshaltung, Missbrauchsfälle, Kurienskepsis usw. Ein rascher Blick aus der Froschperspektive – und die haben wir alle zunächst – hilft nicht weiter. Nur seriöses Studium, und dazu gehören in erster Linie Soziologie und Geschichte, führt da weiter.

Denn Beobachtungen müssen gesamtgesellschaftlich und historisch verglichen und dann griffig in eine Theorie gefügt werden, die nicht in den Wolken schwebt, sondern einen Rahmen bildet, um das Einzelne nicht zerfallen zu lassen. Das haben in den letzten Jahren einige Publikationen für Frankreich und die Schweiz getan, und diese möchte ich hier kurz vorstellen. Eine umfassende Studie «Wer sind denn die Cathos heute?» aus Frankreich trägt den Untertitel: «Soziologie einer zerteilten Welt»1 und nimmt das Ergebnis damit gleich vorweg. Man kann feststellen, dass sich im Katholizismus Frankreichs (aber eben nicht nur dort) Spannungen und Spaltungen abzeichnen.

Die Voraussetzungen

Das Buch ist das Ergebnis einer breit angelegten Untersuchung, die die Vereinigung «Confrontations» (in Nachfolge des «Centre Catholique des Intellectuels Français») von 2010 bis 2013 durchgeführt hat, «also im Pontifikat Benedikts XVI.», wie von Anfang an unterstrichen und in den Schlussfolgerungen noch mehr erläutert wird. Insgesamt wurden 66 Personen in eineinhalbstündigen Interviews («halb-direktiv», auf «verstehendes Zuhören» ausgerichtet) befragt, 111 Personen in 20 Sitzungen von Gruppen von 4 bis 10 Personen in Gesprächen von zweieinhalb bis drei Stunden, im Alter von 14 bis 90 Jahren, aus folgenden Kreisen: Personen mit kirchlicher Verantwortung (Priester, Bischöfe, Ordensmänner und -frauen); Journalisten mit Erfahrung in Radio, Fernsehen, Printmedien; in der Pfarrei engagierte – nicht unbedingt leitende – Leute; an Universitäten ausgebildete oder unterrichtende Leute; aus Paris und der Provinz stammend, zu gleichen Teilen Männer und Frauen.

Die Fragen zielten auf den Lebenslauf der Befragten, ihren Glauben, ihre religiöse Praxis, ihre Wahrnehmung der Zukunft der Kirche, ihre Sicht der zu lösenden Probleme und der zu ihrer Verwirklichung verfügbaren Mittel. Leider ist der Fragebogen oder das Leitpapier für diese Gespräche nicht mit abgedruckt.

Die Verschriftlichung der Interviews ergab um die 1000 Seiten, sie wurden von einer Spezialistenequipe durchgearbeitet. Das Ziel der Studie war nicht darzustellen, «wie die Kirche in Frankreich ist», sondern, wie die befragten Leute – stellvertretend für viele andere – die Kirche in ihrem heutigen Zustand und ihrer möglichen Zukunft wahrnehmen, «sich vorstellen», und wie das kirchentheologisch («ekklesiologisch») zu deuten wäre. Somit wandte man sich auch von den früheren vornehmlich statistisch ausgerichteten Befragungen ab: wie viele Taufen, Firmungen, Hochzeiten, Beerdigungen usw. Die wenigen Angaben, die über die frühere und heutige Vertretung von sich katholisch nennenden Einwohnern oder über die wirkliche Frequenz der Gottesdienste heute gemacht werden, werden in den nachfolgenden Rezensionen bisweilen in Frage gestellt.

Ausser der den Impuls gebenden Gruppe «Confrontations» wurden andere kirchliche Gruppen mit einbezogen und auch anfänglich zu wenig berücksichtigte Gruppen in Zusatzinterviews befragt. Während dreier Jahre wurde das Material in 20 Seminartagen durch eine Arbeitsgruppe aufgearbeitet, die schliesslich die Aufgabe der Zusammenfassung und Redaktion einem Fachmann übergeben hat («Maître de conférences en science politique»), der auf die enge Mitarbeit des Theologen Hervé Legrand OP zählen konnte. Yann Raison du Cleusiou ist ein junger Forscher, blitzgescheit, er weist schon eine Menge von Publikationen vor (u. a. einer Dissertation über die Krise bei den französischen Dominikanern zwischen 1950 und 1980 im Gefolge der geistigen Umwälzungen in Frankreich überhaupt).

Vier Hauptgruppen innerhalb des Katholizismus

Vorwegnehmend kann man feststellen, dass sich im Katholizismus Frankreichs (aber eben nicht nur dort) Spannungen und Spaltungen abzeichnen; man will noch nicht gerade von verschiedenen «Kirchen» reden, aber es scheint, dass der Dialog innerkirchlich verstummt ist.

Man kann verschiedene Gruppen von Gläubigen (oder manchmal eher Ungläubigen) unterscheiden, die sich in manchen Bereichen überschneiden, aber doch deutlich verschiedene Einstellungen vertreten:

  1. Diejenigen, die sich auf das Zweite Vatikanische Konzil berufen, es entweder erlebt oder sonst verinnerlicht haben; sie sind aktiv in ihren Pfarreien und offen für den Nächsten, von Jesus haben sie ein Bild des mitleidvollen und auf die Menschen zugehenden Mannes
  2. die Emanzipierten, eher junge Leute mit loser Bindung an die Kirche, sparsam in Gottesdiensten, aber in Bewegungen (Pfadfindern usw.) tätig; Jesus ist für sie der Befreier und erstrebt eine Umwandlung der Gesellschaft
  3. die Charismatiker: Sie legen Wert auf eine persönliche Begegnung mit Christus, pflegen die Frömmigkeit, sind irgendwie unterwegs zur Bekehrung oder haben sie erlebt
  4. die «Regeltreuen» («observants»), regelmässig im Messbesuch, die Vorschriften der Kirchenleitung beachtend, aktiv in der Pfarreiarbeit, vor ihren Augen steht der gekreuzigte Jesus

Man stellt auch eine Verstärkung der «néoclassiques» fest: vor allem in der jungen Generation kehrt man zurück zu klareren Regeln, äusseren Formen, strikterer Beobachtung der Weisungen des Lehramtes – und das ist eben nicht die Fortsetzung der «Vorkonziliären», sondern ist die entschiedene Haltung der Jungen, die in Freiheit diese Variante wählen. Hier wäre die Feststellung einzublenden, die wir auch hier in Freiburg i. Ü. machen können: unter den «Welschen», unter denen sich viele Franzosen befinden, werden Frömmigkeitsformen demonstriert, die auffallen: Priester, die die Messe sehr prononciert «fromm» feiern, Junge, die bei allen Gelegenheiten niederknien oder sich bis auf den Boden verneigen, die «Ewige Anbetung», die frommen Blättchen, die in den Schriftenständen der Kirchen aufliegen, die Kleriker, die mit römischen Kragen (selten) oder die Ordensleute, die in Kutten herummarschieren, dabei völlig chaotisch mit banalen alltäglichen Kapuzen, Windjacken, Blue-Jeans-Hosen darunter bzw. darüber.

Man kann also nicht rasch «Progressive» und «Traditionalisten» unterscheiden, und auch nur bedingt die jüngere und ältere Generation, da sich viele Haltungen und Einstellungen vermischen. Hingegen ist klar, dass die Weitergabe des Glaubens in höchstem Masse gefährdet ist, von Generation zu Generation nehmen Praxis (Regelmässigkeit) und Kenntnisse beschleunigt ab, viele Junge haben keine Ahnung von den Auseinandersetzungen der Älteren, und das «Konzil» bedeutet gar nichts für sie, viele wissen überhaupt nicht, was das ist. Ebenso besteht keine Kohärenz in Glaubensdingen mehr: Die Jungen können dem Papst zujubeln und kümmern sich keinen Deut um seine Weisungen in Bezug auf Sexualität, aber auch die Alten wählen aus. Über manche Phänomene besteht grosse Einmütigkeit: «Die Kirche» (= die Kirchenleitung, die zölibatären Kleriker) sollen sich nicht mehr in die Ehe und Familie einmischen; dass den wiederverheirateten Geschiedenen Beichte und Kommunion vorenthalten werden, löst nur noch Kopfschütteln aus; die vielen «Fettnäpfchen», in die vor allem Benedikt XVI. getreten ist, haben grosse Verlegenheit und Betretenheit ausgelöst.

Der Verfasser des abschliessenden Berichtes empfiehlt, dass man möglichst vielen Leuten die Geschichte ihrer eigenen Kirche (und der anderen Kirchen und Religionen) wieder nahe bringe, gerade auch in jüngster Zeit; Lebenszeugnisse können wegweisend sein. Jedenfalls muss man in der katholischen Kirche neu lernen, wie man mit den Verschiedenheiten umgeht, nur schon der Dialog zwischen Klerus und Laien muss verbessert werden, dann aber auch zwischen den verschiedenen Gruppen von Christen, die sich alle für authentische Fortsetzer von Christi Botschaft halten.

Differenzierungen innerhalb der vier Hauptgruppen

Die genannten vier Hauptgruppen werden im Buch anhand von idealtypischen Verallgemeinerungen illustriert, immer aber mit originalen Aussagen belegt; sprachlich fällt auf, dass diese häufig in umgangssprachlicher, oft salopper Weise geschehen, am meisten ist mir die Redewendung «du coup» aufgefallen, die Dutzende von Malen vorkommt, sie bedeutet etwa «folglich, darum, deswegen, dementsprechend» usw.

Die «nicht mit dem Konzil Versöhnten» («les inconciliables») verteilen sich auf drei ganz verschiedene Gruppen: a) die Militanten der alten «Katholischen Aktion», die den Eindruck haben, dass das Konzil gar nicht eingelöst wurde, dass man von ihm abgerückt ist, b) die (wieder-)bekehrten Charismatiker, die auf persönlichem Weg die Ergebnisse neu zu beleben suchen, c) die auf Wiedereroberung bedachten Traditionalisten.

Die «von der Institution Verletzten» teilen sich auch auf: a) die Distanzierten, die kaum mehr aktiv am Leben der Kirche teilnehmen, höchstens noch an lebenswichtigen Anlässsen oder Hochfesten, b) die weiterhin christlich (kirchlich) engagierten Geschiedenen, die sich ausgegrenzt vorkommen, c) die Frauen, die kirchliche Verantwortung (mit-)tragen, aber nach wie vor auf die Seite gestellt sind.

Dann gibt es solche, die «an einem Wiederaufbau beteiligt» sind:

  • diejenigen, die das Erbe treu und hoffnungsvoll bewahren und weitertragen wollen
  • diejenigen, die über die Grenzen der Kirche hinaus wirken wollen (sozial, kulturell, politisch)
  • die neo-klassischen Katholiken, die nicht der Piusbruderschaft angehören, aber sehr viele traditionelle Formen wieder aufnehmen und oft stramm durchsetzen wollen (etwa im jungen Klerus)

Schliesslich gibt es die «Jugend ohne Komplexe»,

  • die etwa Dreissigjährigen, die unbesorgt sich frei fühlen und entsprechend verhalten
  • Junge, die sich sehr selbstsicher fühlen
  • Heranwachsende, die einfach nicht mehr anbeissen wollen

Ausdrücklich nicht mit einbezogen wurden die völlig von der Kirche Abgekehrten, die mit ihr gar nichts mehr zu tun haben (wollen).

Und in der Schweiz? Eine gleichzeitig erschienene Studie2 unterscheidet vier Gestalten des (Un-) glaubens:

  1. Institutionelle
  2. Alternative
  3. Distanzierte
  4. Säkulare

Im Gegensatz zur französischen Studie sind in der Schweiz also auch die Leute ohne jede religiöse Praxis oder Überzeugung mit in die Studie einbezogen worden. Die Kategorien sind Hilfskonstruktionen, die übrigens stets auch Unterkategorien enthalten bzw. Überschneidungen, was in guten Grafiken augenfällig gemacht wird.

Ursachen?

Angesichts dieser Situation rätselt man darum herum, was die Ursache sein könnte. Die dümmste Antwort, die man aber leider immer wieder hört, lautet: «Das Konzil» (das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965) sei schuld. Die Schweizer Studie bringt es auf den Punkt: «In den 1960er Jahren kam es in der Schweiz – wie in fast allen westlichen Ländern – zu einer kulturellen Revolution, die kein an sich religiös-säkularer Konflikt war, aber dennoch das gesamte gesellschaftliche Gefüge so auf den Kopf stellen sollte, dass die intra-religiösen und religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe von nun an in anderer Weise ablaufen mussten» (S. 53). Dabei «handelte es sich zunächst um einen Generationenkonflikt: Eine junge Generation lehnte sich gegen die Älteren und deren – wie man dachte – veraltete, spiessige und langweilige Lebens-und Wertvorstellungen auf (…). Ein zentrales, eng damit verbundenes Thema war die individuelle Freiheit» (ebd.). Darum ist der Ruf «zurück in die Zeit vor dem Konzil» von nicht überbietbarer Dummheit.

Eine Theorie der religiös-säkularen Konkurrenz

Die Schweizer Studie vertieft diese Feststellungen durch eine gut abgestützte Theorie über Bedürfnisse der Menschen und deren Stillung. Der Mensch bedarf materieller, geistiger und geistlicher «Güter», und um diese zu beschaffen, treten mehr und mehr «Anbieter» in Konkurrenz. Vor einiger oder auch langer Zeit bot sich dem kranken Menschen fast nur das Vertrauen auf Gott an, man war überall den Hungersnöten hilflos ausgeliefert – heute weiss man sich fast nicht mehr zu helfen angesichts der technischen, elektronischen, medizinischen, wirtschaftlichen Angebote (die «dank» menschlicher Unzulänglichkeit auch heute noch nicht voll zur Auswirkung kommen). Jedenfalls hat das spirituell-religiöse Angebot viel an Anreiz verloren. Das macht das Leben unübersichtlicher und deshalb schwieriger.

Fragen, die sich stellen

Die beiden Bücher machen sich nicht anheischig, die Kirche darzustellen, wie sie «ist», sondern wie sie – je verschieden – «wahrgenommen» wird. Darum ist es überaus wichtig, wie sie sich darstellt. Und daraus ergeben sich einige Fragen, die sich dem Leser aufdrängen.3

  1. Einige ständig hinausgeschobene Hauptprobleme:
    • Kommunion der wiederverheirateten Geschiedenen
    • Pflichtzölibat der Weltpriester
    • Resakralisierung der Institution, des Klerus, der Liturgie
    • die Predigt durch «Laien» (gar Frauen!)
    • Abstrakte Prinzipien anstelle von Barmherzigkeit
    • Die Rolle und die Person eines «Nuntius»
  2. Die Kirche kann in konkreten Fragen nicht mehr einheitlich zur ganzen Welt sprechen. Sie hat noch nicht überall gesehen, dass Einheit nicht in Einförmigkeit besteht («unité – uniformité»).
  3. Wie nimmt der Gläubige die Kirche wahr? – den Papst, die Bischöfe, den eigenen Diözesanbischof – inwiefern unterläuft die römische Kurie die hierarchische Struktur der Kirche, z. B. durch Personalprälaturen, durch die Förderung der «ausserordentlichen Form» der Liturgie, die die Einheit der Lokalkirche zerstört?
  4. Die Kirche hat nur mehr eine Fassaden-Einheit.
  5. Wie wird innerhalb der Kirche debattiert? Gibt es eine Streitkultur? Können sich die Führungsverantwortlichen an einen Tisch setzen und eine gemeinsame Linie finden, Konflikte austragen?
  6. Wie stellt sich die Kirche in den Medien dar? Wie wird sie von den Medienleuten dargestellt? Kein Fussballmatch würde von Ignoranten kommentiert, aber kirchliche Anlässe sehr wohl.
  7. Traditionalistische Formen: Sie werden von den Jungen oft frei gewählt, also durchaus nicht aufgezwungen.
  8. Zu wenig wird meines Erachtens in den Büchern die Rolle der «Bewegungen» kritisch beleuchtet, die den Päpsten und Bischöfen häufig durchaus gelegen kommen, da sie Nachwuchs bringen, die aber doch oft grosse Defizite aufweisen.
  9. Man muss vielleicht weniger von einem Konflikt der Generationen als von einem Konflikt der Sozialisationen sprechen: Was ist auf die «Jungen» alles hereingebrochen seit 1950! Krieg und Nachkriegszeit, Konzil und Nachkonzilszeit, Zusammenbruch des offiziellen Kommunismus und damit der klaren Gut/Böse-Scheidung. Das Aufkommen des Islam. Die neuen Kriegsformen (Terrorismus) – wie ihnen widerstehen? Man vergleiche den Klerus von 1960 mit dem von 2000!
  10. Der Film «Des hommes et des dieux» hat eventuell darum so viel Erfolg gehabt, weil er gezeigt hat, wie man als absolute Minderheit (die paar Christen im muslimischen Algerien) überleben bzw. Zeugnis abgeben kann.4

Das «Gelände des Katholizismus»

Im zweiten Teil des französischen Buches werden nicht mehr idealtypische Vertreter der Kirche vorgestellt, sondern das «Gelände des Katholizismus» («l'archipel catholique» – also die «Inselgruppe», als die der Katholizimus heute inmitten eines fremden umgebenden Meeres erscheint, nicht mehr zusammenhängend – wird abgeschritten bzw. umfahren:

Die Noch-Gläubigen oder -Anhängenden haben eine sehr differenzierte Einstellung zur Institution Kirche, von verschiedenen Grundentscheiden («matrice» = Prägestempel) her geprägt. Das zeigt sich vor allem in der Einstellung zur Messe bzw. in ihrer Gestaltung, die seit dem Konzil verschiedene Formen durchlaufen hat (und noch immer durchläuft): Die vorherige Extrem-Regulierung hat zu einem eigentlichen Dammbruch geführt, der durch Rückgriff auf Früheres wieder repariert werden soll.

Der Institution gegenüber stellt man fest, dass die Macht eher trennt als einigt, es werden Entscheide gefällt, die (fast) niemand mehr nachvollziehen kann, die Kirche schliesst sich sozusagen selber aus dem Lauf der Kultur und Politik aus.

Eine gemeinsame katholische Identität ist heute kaum mehr auszumachen, die kirchlichen Stellungnahmen in der Öffentlichkeit sind oft sehr hilflos, unprofessionell, oft auch ganz neben den wirklichen Fragen, die sich die Gläubigen (und die Nichtgläubigen) stellen; wer sich in die Öffentlichkeit drängt, ist selten mehr auf Gemeinsamkeit bedacht.

Ein paar Anstösse zum Schluss

Folgende Punkte erscheinen mir als Ergänzung zum bisher Gesagten noch wichtig:

  1. Es geht nicht darum, was «die Kirche» sagt, tut, sondern wie sie wahrgenommen wird (nicht «la réalité», sondern «les représentations qu'en ont les catholiques»).
  2. Sehr oft wird kaum zwischen Wesentlichem und Relativem unterschieden.
  3. Wie stellt sich die Kirche in den Medien dar? Die Kirche serviert oft einen Code statt einer Antwort; – sie zieht die Moralvorschriften aus der Tasche, wie man den Revolver aus dem Etui zieht; – sie verteilt die Stellen viel zu wenig nach Kompetenzen; – die Kirchenvertreter sollten viel mehr persönlich reden, in der ICH-Form; – es fehlen der Kirche heute weitgehend überragende Figuren (man könnte aber, aussserhalb Frankreichs, z. B. an Kardinal Carlo Maria Martini denken).
  4. In Bezug auf traditionalistische Formen muss man sich bewusst sein, dass sie von den Jungen oft frei gewählt werden, durchaus nicht aufgezwungen wurden.
  5. Die Kirche muss lernen, wie man Einheit und Vielfalt miteinander leben und versöhnen kann. Es muss eine grössere innerkatholische Ökumene geben!

1 Yann Raison du Cleusiou: Qui sont les Cathos aujourd’hui? Sociologie d’un monde divisé. (Desclée de Brouwer) Paris 2014, 336 pp.

2 Jörg Stolz / Judith Könemann / Mallory Schneuwly Purdie / Thomas Englberger / Michael Krüggeler: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. (Edition NZN bei TVZ) Zürich 2014, 281 S.

3 Es wurden noch zwei weitere Bücher berücksichtigt, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann: Pierre Pierrard: Un siècle de l’Eglise de France 1900–2000. Paris 2000, 254 S.; Henri Tincq: Les Catholiques. Paris 2008, 464 S.

4 Iso Baumer: Die Mönche von Tibhirine. Die algerischen Glaubenszeugen. Hintergründe und Hoffnungen. München-Zürich-Wien 42014, 120 S.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).