Katholisch-Zürich nach 1963

Eine etwas andere Geschichte

Letztes Jahr durften Zürichs Katholikinnen und Katholiken das goldene Jubiläum ihrer Anerkennung feiern.1 Ja, es war ihre Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft und nicht die «staatliche Anerkennung» ihrer Kirche. Das hatte seinen guten Grund, da der Kanton als demokratisches Gemeinwesen keine Kirche in sein öffentliches Recht aufnehmen wollte, die nicht auch demokratisch verfasst war. So schuf das Gesetz für das katholische Kirchenwesen eine demokratische Parallelstruktur, bestehend aus kantonaler Körperschaft und Kirchgemeinden, die sich neben der kirchenrechtlichen Ämterhierarchie und den Pfarreien etablierte. Der damit verbundene Dualismus enthielt freilich eine Problematik, deren konfliktträchtiger Charakter nicht erst seit den Krisen im Bistum Chur, sondern schon in den ersten Jahren nach der Anerkennung zu Tage trat. Mit dem Unterschied freilich, dass kritische Gläubige sich damals weniger mit «Chur» als mit den neuen staatskirchenrechtlichen Organen auseinandersetzten.

Diese «andere Geschichte» lässt sich für die 1970er-Jahre an der oppositionellen «Aktion für Demokratie in der Kirche» und den umstrittenen Positionen der Römisch-katholischen Zentralkommission aufzeigen. Die damaligen Konflikte, die auch den kantonalen Seelsorgerat beschäftigten, bildeten zudem den Hintergrund verschiedener Aussagen und Entscheidungen der Churer Synode 72. Ich bin als Akteur in dieser «anderen Geschichte» natürlich auch Partei – und bin es im Rückblick gern und «unbussfertig».

«Aktion für Demokratie in der Kirche»

An der Spitze der Körperschaft stand die Zentralkommission mit 15 Mitgliedern, die von den im Kanton stimmberechtigten Gläubigen der römisch-katholischen Kirche gewählt wurden, zwar nicht mehr unter Ausschluss der Frauen, wohl aber der Gläubigen ohne Schweizer Pass. Die starke Exekutive war ein Abbild des Milieukatholizismus, der von der Homogenität der Wählerschaft ausging und ein Kirchenparlament wie die heutige Synode für überflüssig hielt. Auch die Wahl der Zentralkommission erfolgte im Majorzverfahren und mit einer vom katholischen Stimmvolk nur noch durchzuwinkenden Einheitsliste. Wer nicht dem «freiwilligen Proporz» zwischen Stadt und Land, Klerus und Laien entsprach, wer insbesondere nicht eine Kirchgemeinde vertrat, hatte kaum eine Chance, auf die vorgedruckte Liste zu kommen. Der Auswahlmechanismus richtete sich weitgehend nach dem Territorialprinzip und nicht nach der innerkirchlichen Pluralität der Meinungen, schon gar nicht nach den Charismen im Volk Gottes.

Das Demokratiedefizit blieb nicht unwidersprochen. Es wurde vor allem von den «Progressiven Katholiken 68» aufs Tapet gebracht. Sie existierten unter den wechselnden Jahreszahlen im Namen noch bis zu den «Progressiven Katholiken 71», die sich der eben gegründeten «Aktion für Demokratie in der Kirche» (ADK) anschlossen. Diese reichte aus dem Stand eine eigene Liste für die Gesamterneuerungswahl der Zentralkommission vom 6. Juni 1971 ein. Darauf waren sechs Kandidierende aufgeführt: die Katechetin Marlies Baggenstos, Vikar Andreas Burch von der Pfarrei Heilig-Kreuz in Zürich-Altstetten, der TV-Filmarchivar und alt Gemeinderat Paul Früh, der Jurist Reinhard Christian Lechleitner, die Lehrerin Trudi Osterwalder sowie der Mittelschullehrer und Schriftsteller Manfred Züfle. Antonin Wagner, der damals noch dem Dominikanerorden angehörte, war der Sprecher der ADK, Pfarrer Josef Bommer von St. Martin in Zürich-Fluntern ihr Theologe, Niklaus Heer, Jurist und Präsident der Jungchristlichsozialen, ihr Politiker.

Wahlkampf und «Achtungserfolg»

Die «Aktion für Demokratie in der Kirche» stellte ihre Ideen, ihre Politik und ihre Kandidierenden der Presse vor2 und verteilte an einem Mai-Sonntag 35 000 Flugblätter vor den Kirchen des Kantons. Die ADK war in vieler Munde, vor allem auch im Munde der Gegner, die das Kürzel mit «ADE KIRCHE» übersetzten. Zu diesen Gegnern gehörten ein paar übereifrige Pfarrherren, die meinten, die Flugblattaktionen auf dem Kirchengelände unter Androhung polizeilicher Gewalt verbieten zu müssen. Andere liessen ihr Wohlwollen durchblicken und baten in den Mitteilungen nach dem Hauptgottesdienst um Aufmerksamkeit für die Anliegen der ADK.

Auf der Gegenseite stand vor allem das «Pfarrblatt». Es sei den «Vertretern der 15er-Liste» gelungen, «das offizielle Pfarrblatt in ein eigentliches, reich illustriertes Wahlpamphlet umzufunktionieren», ärgerte sich CVP-Kantonsrat Thomas Geiges in der «Zürichsee-Zeitung» (4. Juni 1971). Für Empörung sorgte auch der für die Einheitsliste zuständige Leiter der Wahlkommission, der meinte, diese habe «bloss ein Amt und keine Meinung»; auf der Einheitsliste figurierten doch «ganz einfach Leute, die still und bescheiden im Sinne des Gemeinwohls ihre Pflicht tun». Dem liess er seine Spitze folgen: «Aber es gibt offenbar auch in der Kirche Gruppen, die unglücklich wären, wenn sie sich nicht frustriert vorkommen könnten, und die daher sorgfältig darauf achten, immer Aussenseiter zu bleiben» (NZN, 1. Juni 1971).

Frustrierte Aussenseiter? Das Medieninteresse war unglaublich gross. Die ADK genoss die Sympathien der Presse, vom «Volksrecht» über «Die Tat» bis zur NZZ, wo Hanno Helbling vor «einem ungesunden Monopoldenken» warnte, wenn nicht «von den Wählern verschiedene kirchlich-theologische Richtungen zum Ausdruck gebracht würden» (27. Mai 1971). Die katholischen «Neuen Zürcher Nachrichten» (NZN) gaben sich bedeckt bis ausgewogen. Bei den Wahlen am ersten Juni-Sonntag 1971 erreichten die Kandidierenden der ADK im Schnitt über 30 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei nicht ganz 34 Prozent. Fast die Hälfte der abgegebenen Stimmzettel wurde leer eingereicht. Bei einer Proporzwahl hätte die ADK fünf Sitze geholt, wegen der Majorzwahl blieb es beim «Achtungserfolg». NZN-Redaktor Carl Holenstein schrieb in seinem Abstimmungskommentar, «dass wir nicht mehr in guten Treuen und ohne Differenzierung von einer in sich geschlossenen katholischen Bevölkerung reden dürfen» (10. Juni 1971).

«Beton-Exhibitionismus» versus Entwicklungshilfe

Es ging der ADK aber nicht nur um eine echte Wahl und gerechte Verteilung der Mandate für die Zentralkommission, es ging vor allem auch um die Frage, wie der seit 1963 anfallende Geldsegen aus Steuermitteln einzusetzen sei, dann allerdings auch um das bis heute ungelöste Strukturproblem, inwiefern staatskirchenrechtliche Organe in den innerkirchlichen Bereich hineinwirken dürfen.

Schon die «Progressiven Katholiken» thematisierten in einem ihrer Rundbriefe (7. Juli 1969) das «Ärgernis einer zügellosen kirchlichen Bautätigkeit». Josef Bommer wird hier mit den Worten zitiert, es sei «zutiefst fragwürdig und unchristlich», ja ein «Skandal», «wenn wir in unseren staatlich anerkannten Kirchgemeinden Geld in Hülle und Fülle haben, unsinnig teure Kirchen und Kirchgemeindehäuser bauen», während es «unseren Bruderkirchen nah und fern an den primitivsten Mitteln» fehle, «um sich überhaupt über Wasser halten zu können». Der Rundbrief begrüsste einen Vorschlag von Antonin Wagner in den NZN (19. Juni 1969) für die teilweise Umwidmung der Kirchensteuer zu Gunsten der Dritten Welt: «Nach diesem Vorschlag wäre jedes einkommenssteuerpflichtige Kirchenmitglied berechtigt, einen bestimmten Prozentsatz von seiner Steuerschuld abzuziehen und für Aufgaben der Entwicklungshilfe einzusetzen.»

Es blieb nicht bei den kritischen Worten. Wie einem weiteren Rundbrief (3. Mai 1971) zu entnehmen ist, hatten die «Progressiven Katholiken» in der Heilig-Geist-Gemeinde von Zürich-Höngg einen Abstimmungskampf gegen den Bau eines kirchlichen Zentrums, verbunden mit dem Abbruch einer erst 30 Jahre alten Kirche geführt und eher knapp mit 695 Nein gegen 764 Ja verloren. Im selben Rundbrief berichten die «Progressiven Katholiken», sie hätten «eine Woche vor der berüchtigten Schwarzenbach-Abstimmung» zu «einer symbolischen Kirchenbesetzung mit italienischen Arbeitern und Spaniern» in der Kirche St. Peter und Paul aufgerufen und mit ihnen den christlichen Umgang «mit dem Fremdarbeiterproblem und mit den Problemen der Fremdarbeiter» diskutiert.

Die ADK übernahm die Kritik am polemisch zugespitzten «Beton-Exhibitionismus» und auch den Vorschlag Wagner in ihr Wahlprogramm. Manfred Züfle notierte auf dem Flugblatt für die Wahl der Zentralkommission: «Wird die Kirche glaubwürdiger, wenn die Kirchenbauten immer aufwendiger werden? Ich glaube kaum. Wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist Kirche.» Die Wahl wurde auch insofern «zum Testfall einer demokratischen Kirche» erklärt, als die Zentralkommission keine «reine Verwaltungsbehörde» sei, sondern «immer mehr Einfluss auf seelsorgerliche und pastoralsoziologische Bereiche» nehme. Die ADK forderte daher erstmals in der Geschichte von Katholisch- Zürich, «dass eine Synode eingeführt werde (analog derjenigen der ev.-ref. Landeskirche), welche die katholische Kirchenpolitik im Kanton bestimmt».

Umstrittene Zentralkommission

In der Tat machte der damalige Präsident der Zentralkommission, Stephan Renz, unmissverständlich klar, dass es weniger «finanzielle und rechtliche Fragen» seien, mit denen sich die Zentralkommission befassen müsse. «Vielmehr», so schrieb er in den NZN (29. Mai 1971) und im «Pfarrblatt» (30. Mai 1971), «belasten uns immaterielle Fragen, welche der Wandel in der Kirche auch für uns aufwirft». Er nannte als Beispiel die «Entwicklungshilfe», dann aber auch «zu wenig Priester, überlastete Hierarchie, zersetzende Einflüsse von aussen, innere Abkehr von Gläubigen». In der Sache hatte Renz natürlich recht, zumal sich die Finanzpolitik von den seelsorgerischen Aufgaben, die sie erfüllen soll, nicht trennen lässt. Es ging weniger um das Ob als um das Wie dieser Einflussnahme.

«Strukturmodell für die katholische Kirche im Kanton Zürich»

Renz war die treibende Kraft hinter einem vieldiskutierten «Strukturmodell für die katholische Kirche im Kanton Zürich»,3 das sich für die Leitung der Kirche das moderne Wirtschaftsunternehmen zum Vorbild nahm. Von diesem «Kirchenbild» distanzierte sich selbst der Bischof von Chur. Das «Modell», schrieb Johannes Vonderach, lehne «sich zu stark an wirtschaftliche Organisationsformen an», werte «die staatskirchlichen Organe (Zentralkommission, Kirchenpflegen) in einem Masse auf, das vom Kirchenbild her in keiner Weise hingenommen werden» könne, es sehe die Kirche nicht «als Volk Gottes» und lasse «zu wenig oder gar keinen Raum für etwas Typisches an der Kirche: das geistgewirkte Charisma und die Prophetie».4 Zuvor hatten über sechzig Geistliche am «Strukturmodell» kritisiert: «Wer in der Kirche Zürichs pastoral tätig ist, merkt immer mehr, wie die pastoralen Entscheidungen von den finanziellen überstimmt werden.»

Ein weiteres Thema des «Strukturmodells» war die Ablehnung einer politischen Kirche. Die Verfasser beriefen sich auf eine Umfrage in der katholischen Bevölkerung, um der Kirche das politische Mandat überhaupt abzusprechen. Wenn «das politische und soziale Engagement» der Kirche «auf keine hohen Prozentzahlen» komme, so ergebe sich daraus doch schlicht und einfach «das Bild einer Kirche, die in einem politisch und sozial geordneten Staat lebt».5 Die Kritik, dieses «Zürcher Modell» trage mit seiner «Anpassung» an die bestehenden Verhältnisse «geradezu josephinistische Züge», kam damals von einem Redaktor des «Tages-Anzeigers» (20. Mai 1972).

«Verpolitisierung der Kirche»?

Auf seiner scheinbar apolitischen Schiene agierte Renz auch im gesamtschweizerischen Rahmen der im März 1971 gegründeten Römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ), deren Präsident er war. So lehnte es die RKZ anfänglich ab, «Justitia et Pax», die gesellschaftspolitische Nationalkommission der Bischöfe, aus Steuermitteln zu finanzieren, um nicht einer «Verpolitisierung der Kirche» Vorschub zu leisten. Durch politische Stellungnahmen der Kirche würden Andersdenkende diskriminiert, gar «die Gewissensfreiheit einzelner oder ganzer Gruppen» verletzt, wie es in einem Dokumentationspapier vom 16. Juni 1971 hiess. Als negatives Beispiel diente die Parole von «Brot für Brüder» zur Abstimmung über das Waffenausfuhrverbot.6 Es war vermutlich die massive Kritik in katholischen Medien wie den NZN, dem «Vaterland» und dem KAB-Organ «treffpunkt», die schliesslich die RKZ bewog, ihren grundsätzlichen Widerstand gegen die Finanzierung von «Justitia et Pax» aufzugeben.7

Das politische Mandat, das Renz der Kirche bestritt, sprach er dagegen den staatskirchenrechtlichen Organen zu. So hielt das «Strukturmodell» ausgerechnet die Parteipolitik für so wichtig, dass es die Kirchenpflegen mit dem «Organisieren christlicher Parteien»8 beauftragen wollte. Das wäre dann keine «Verpolitisierung der Kirche» gewesen …

Kurswechsel für die «Neuen Zürcher Nachrichten»

Auch die «Neuen Zürcher Nachrichten» wurden von der Zentralkommission mit Steuergeldern unterstützt, nicht oder nicht in erster Linie, weil sie eine katholische Tageszeitung, sondern weil sie ein Parteiblatt waren. Gegen die Subventionierung einer politisch und theologisch offenen Zeitung wäre nichts einzuwenden gewesen, aber genau das durften die NZN nicht sein. Als sie sich auf dem besten Weg dazu befanden, wechselten im April 1972 plötzlich 51 Prozent der Aktien der «NZN-Verlags-AG» den Besitzer. Im Vorstand einer neuen Verlags-AG aber hatte wiederum Stephan Renz das Sagen. Die Redaktoren wurden ausgebootet und durch parteikonforme Leute ersetzt. Als ein Jahr später auch noch Heinz Löhrer aus der Redaktion der Zeitungsbeilage «Christ und Kultur» verdrängt wurde, hielt er mit deutlichen Worten über die «schon wieder übermächtigen reaktionären Kräfte» (NZN, 29. Dezember 1973) nicht zurück.

Ich will hier der Person des am 4. Juli 2014 verstorbenen Stephan Renz nichts Persönliches nachtragen und schon gar nicht Zwielichtiges nachrufen, da ich aus der Begegnung mit ihm inmitten der damaligen Konflikte weiss, dass er von seiner Art Dienst an der Kirche zutiefst überzeugt war und diesen auch mit seiner beruflichen Stellung als Direktor der Oerlikon-Contraves im Rahmen der Gesetze für vereinbar hielt. Es ging und geht um systemimmanente Konflikte, die immer wieder aufbrechen können, solange sich die Kirche – wie die übrige Gesellschaft – mehr polarisiert als demokratisiert.

Machtloser Seelsorgerat

Die innerkirchlichen Expansionsgelüste der Zentralkommission waren auch ein Dauerthema im kantonalen Seelsorgerat, der von Generalvikar Alfred Teobaldi ja als «gewisses Gegengewicht» zu den neu geschaffenen Organen der staatskirchenrechtlichen Körperschaft und als «Schutz und Stärkung des innerkirchlichen Bereichs» eingeführt worden war.9

Ich habe in diesem Gremium die Meinung der ADK vertreten, dass ein staatskirchenrechtliches Organ wie die Zentralkommission Verantwortung im innerkirchlichen Bereich nur übernehmen dürfe, wenn es dazu vom zuständigen innerkirchlichen Organ, hier vom Seelsorgerat in Einheit mit dem Generalvikar, ermächtigt werde. Freilich lassen sich die Bereiche in der Praxis nicht so feinsäuberlich trennen. Geradezu weise erscheint mir im Nachhinein, was das Churer Ordinariat in der erwähnten Stellungnahme zum «Strukturmodell» sagte: Statt um Kompetenzen zu ringen, sollten die Organe der verschiedenen Bereiche von der Kirche als «Communio» her denken: «Communio dagegen sucht nicht nach Grenzen, sondern nach Übergängen. Sie duldet eine gewisse Vermischung der Funktionen und eine Substitution der einen Funktion durch die andere.» Wie schwierig die Konsensfindung sein kann, zeigte gerade auch die Frage, was als «qualifizierte Presse» zu betrachten sei.

So ersuchte der Seelsorgerat am 19. Juni 1976 mit 29 zu 11 Stimmen die Zentralkommission, ihre finanzielle Unterstützung der NZN, die weit über die Abgeltung der wöchentlichen «Gottesdienstordnung» hinausging, an «eine kirchliche und politische Öffnung» der Zeitung zu binden. Die Zentralkommission selbst hatte sich diese Stellungnahme erbeten, um dann doch zu machen, was wir nicht wollten.

Auswirkungen auf die Churer Synode 72

Einige Positionen und Entscheidungen der Churer Synode 72 sind erst vor dem Hintergrund der damaligen Konflikte im Kanton Zürich verständlich. So steht zum Beispiel in der Vorlage «Kirche im Verständnis des Menschen von heute»: «Können Finanzbegehren der zuständigen innerkirchlichen Organe, d. h. insbesondere der Amtsträger und der Pastoralräte, nur nach festzusetzenden Prioritäten erfüllt werden, so bittet die Synode die staatskirchlichen Instanzen, mit diesen innerkirchlichen Organen ein gutes Einvernehmen zu erzielen. Erscheint die Übernahme innerkirchlicher Aufgaben durch staatskirchliche Instanzen als angemessen, so muss das Einspracherecht der zuständigen innerkirchlichen Organe gewahrt bleiben» (DE 5). Diese «Diözesane Entscheidung» fiel im Wissen um die strukturellen Veränderungen, die sich daraus in den Verhältnissen Seelsorgerat – Zentralkommission einerseits und Pfarreiräten – Kirchenpflegen andererseits ergeben würden.10 Trotzdem oder gerade deshalb ist sie toter Buchstabe geblieben.

An eine Forderung der «Aktion für Demokratie in der Kirche» erinnert in der Sache auch der Bericht zur Vorlage «Beziehung zwischen Kirche und politischen Gemeinschaften», indem er den Wunsch der Synode ausdrückt, das System der Kirchensteuern auf «Alternativmodelle» hin zu überprüfen. Wenn unter diesen Modellen ausdrücklich «Mandatssteuern» genannt werden (Ziff. 3.3.2.1), hatte der Vorschlag einer freiwilligen Umwidmung eines Teils der Kirchensteuer für die Entwicklungshilfe den ersten Impuls gegeben.11 Ich habe die Idee der Mandatssteuer im Rahmen einer Kommission der SP-Kantonalpartei als möglichen Gegenvorschlag zur damaligen Initiative «Trennung von Kirche und Staat im Kanton Zürich» aufgenommen, worüber die 1975 neugewählte Zentralkommission alles andere als erbaut war.12

Auch die Diskussion um die NZN fand Eingang in Dokumente der Churer Synode. So hat der Bericht zu «Information und Meinungsbildung in Kirche und Öffentlichkeit» festgehalten, es gebe streng genommen «keine katholischen Zeitungen, sondern Verleger und Redaktoren, welche katholisch sind» (Ziff. 2.2.1). Weiter heisst es: «Eine Unterstützung der ‹katholischen Tageszeitungen› mittels der Kirchensteuer kommt nicht in Frage. Dies würde als ungerechte Bevorteilung eines bestimmten politischen und gesellschaftlichen Kurses empfunden und die Freiheit und Unabhängigkeit der Zeitungen beeinträchtigen» (Ziff. 2.2.2.5). Vor allem «die Bindung an die katholischen Parteien» sei heute «problematischer geworden» (Ziff. 2.2.2.2).

Die Synode ersuchte die Bischöfe, das Projekt einer «Wochenzeitung» prüfen zu lassen (DE 5.3.1). Diese dürfe, betont der Bericht, «weder Sprachrohr der Bischöfe noch irgendeiner anderen Gruppe sein» (Ziff. 2.3.3). Die Chance wurde leider verpasst, dafür mutierte wenigstens das «Pfarrblatt des Kantons Zürich» nicht nur dem Namen nach zu einem «Forum».

Was heisst Demokratie in der Kirche?

Der «Aktion für Demokratie in der Kirche» ging es aber um mehr als nur um die Partizipation aller Gläubigen – mit oder ohne Schweizer Pass – an den staatskirchenrechtlichen Strukturen. Die ADK sprach in ihrer Pressemappe von einer «Eingewöhnung in jenen Zustand der künftigen politischen Ordnung, in welcher keiner Kirche mehr die Krücken des Staates zur Stützung ihrer übernatürlichen Ansprüche sehr innerweltlicher Art angeboten werden».

Das Churer Dokument «Kirche im Verständnis des Menschen von heute» hat den Faden weitergesponnen und gezeigt, wie die Kirche als solche demokratisiert werden könnte, ohne gegen ihre Grundlagen und Grundaufgaben zu verstossen, um diese im Gegenteil ernst zu nehmen und strukturell immer besser zu verwirklichen.13 Ja, es war damals, an der Synode 72 in Chur, eine Freude, katholisch zu sein. Und wäre es auch geblieben, wenn diejenigen, die berufen sind zum Dienst an unserer Freude (2 Kor 1,24), diese Arbeit, die sich in wegweisenden Dokumenten niederschlug, ernst genommen und weitergeführt hätten.

Einstweilen müssen wir mit der Demokratie vorliebnehmen, die uns das Staatskirchenrecht gewährt, verhilft es doch den sogenannten «Laien» zu einer Mitbestimmung, die ihnen das kanonische Recht noch immer vorenthält. Die Substitution der fehlenden innerkirchlichen Demokratie durch die staatskirchenrechtliche Demokratie ist zwar nicht ideal, aber auch die staatskirchenrechtlichen Organe werden dadurch Teil der Kirche,14 und dies ganz im Sinne der vom Ordinariat Chur seinerzeit angemahnten «Communio».

1 Alfred Borter / Urban Fink / Max Stierlin /René Zihlmann: Katholiken im Kanton Zürich. Eingewandert – anerkannt – gefordert. Herausgegeben von Synodalrat und Generalvikar anlässlich des Jubiläums. Zürich 2014. Dazu Iso Baumer: Zürich – katholische Kirche in urbanem Kontext, in: SKZ 182 (2014), Nr. 20, 281 f.

2 Thesen – Fragen – Dokumente. Zur Neuwahl der röm.-kath. Zentralkommission. (Mappe für die Pressekonferenz vom 11. Mai 1971). Die in diesem Artikel zitierten Unterlagen befinden sich im Privatarchiv des Verfassers.

 3 Strukturmodell für die katholische Kirche im Kanton Zürich, herausgegeben von der Pastoralplanungskommission des Kantons Zürich, Juni 1971.

4 Vernehmlassung des Ordinariates Chur zum Strukturmodell für die katholische Kirche im Kanton Zürich, 19. Februar 1973.

5 Strukturmodell (wie Anm. 3), 46.

6 In: Dossier von «Christ und Kultur» (NZN, 30. Juni 1973). Eine «Dokumentation zu Iustitia et Pax» mit fast gleichlautender Begründung veröffentlichte das von der Römisch-katholischen Zentralkommission herausgegebene «Informationsblatt» in seiner Ausgabe 2/72.

7 Siehe Sabine Vonlanthen: Justitia et Pax 1969–1993. Die Schweizerische Nationalkommission im Span

nungsfeld zwischen Kirche und Politik. Freiburg i. Ue. 2005, 44 ff.

8 Strukturmodell (wie Anm. 3), 125.

9 Beat Zwimpfer: Zwiespältiges Gefühl zur Wirkung des innerkirchlichen Parlaments, in: Katholische Kirche im Kanton Zürich (Hrsg.): Seelsorgerat 1966–2006. Beiträge zum 40-Jahr-Jubiläum. Zürich 2006, 6.

10 Protokoll der 5. Arbeitssession vom 14. bis 17. November 1974, E 79 ff.

11 Ein weiterer Denkanstoss kam vom damaligen deutschen Kirchenrechtler Horst Herrmann: Kirchensteuer als Mandat? Eine Anfrage an Staat und Kirche, in: Stimmen der Zeit 97 (1972), 398–400.

12 Siehe Hugo Hungerbühler: Rückblick auf die Abstimmung «Trennung von Kirche und Staat» vom 14. Dezember 1977, in: Informationsblatt für die katholischen Kirchgemeinden des Kantons Zürich, Nr. 1/78.

13 Siehe Churer Synode 72, Kirche im Verständnis des Menschen von heute, 1. Teil: Kirche als Gemeinschaft, Strukturen der kirchlichen Gemeinschaft, Ziff. 2.2.

14 Siehe Willy Spieler: Staatskirchenrecht als Kirchennotrecht. Plädoyer für die Partizipation der Gläubigen an der Kirchenleitung, in: Dietmar Mieth / René Pahud de Mortanges (Hrsg.): Recht – Ethik – Religion. Fest gabe für Bundesrichter Dr. Giusep Nay zum 60. Geburtstag. Luzern 2002, 65 ff.

Willy Spieler

Willy Spieler ist Publizist und ehemaliger Redaktor der Zeitschrift «Neue Wege». Er war Mitglied des zürcherischen Seelsorgerates von 1972 bis 1978, der Nationalkommission Justitia et Pax von 1973 bis 1977 und der beiden Sachkommissionen «Kirche im Verständnis des Menschen von heute» und «Beziehung zwischen Kirche und politischen Gemeinschaften» der Churer Synode 72. Im Zürcher Kantonsrat, dem er von 1991 bis 2001 angehörte, präsidierte er die Kommission «Kirche und Staat».