Karwoche ist Care-Woche

Auch in der Schweiz wird mehr Arbeit unbezahlt als bezahlt geleistet. Die unbezahlte Arbeit taucht aber im Bruttosozialprodukt nicht auf, obwohl ohne sie jede Volkswirtschaft zum Erliegen käme. Hartnäckig hält sich der Mythos, Menschen arbeiteten nur gegen «finanzielle Anreize». Ein Thinktank «Wirtschaft ist Care» (WiC) will nun die notwendigen un- und unterbezahlten Care-Tätigkeiten ins Zentrum rücken.

Ökonomie leitet sich von den beiden altgriechischen Wörtern oikos (Haus, Haushalt) und nomos (Lehre, Gesetz) ab. In ihrer Grundbedeutung ist die Oiko-Nomia also nicht, wie man unter heutigen Bedingungen vermuten könnte, die Wissenschaft von Geld, Markt und Profit, sondern die Lehre vom Haushalten. Tatsächlich bestreitet kaum ein Ökonom, dass es in seinem Fachgebiet ganz allgemein um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geht. So definiert zum Beispiel Günter Ashauer in seinem Lehrbuch «Grundwissen Wirtschaft»: «Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre, zu untersuchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.»1

Trotzdem reden Ökonomen in ihren Lehrbüchern nur noch von geldvermittelten Tauschakten, und zwar meistens ohne diese seltsame Verengung des Blickwinkels zu begründen. Es besteht also eine gewaltige Diskrepanz zwischen der allgemein akzeptierten Definition der Ökonomie und ihrem tatsächlichen Gegenstandsbereich.

Statistik Schweiz

Seit 1997 wird die unbezahlte Arbeit vom statistischen Bundesamt der Schweiz in einem «Modul unbezahlte Arbeit» erfasst. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Am 19. Februar 2015 teilte das Bundesamt in einer Presseerklärung mit:

«8,7 Milliarden Stunden sind im Jahr 2013 in der Schweiz unbezahlt gearbeitet worden. Damit wurde für die unbezahlte Arbeit 14 Prozent mehr Zeit aufgewendet als für die bezahlte Arbeit (7,7 Milliarden Stunden). Die gesamte, im Jahr 2013 geleistete unbezahlte Arbeit wird auf einen Geldwert von 401 Milliarden Franken geschätzt … Hausarbeiten machen mit 6,6 Milliarden Stunden drei Viertel des Gesamtvolumens an unbezahlter Arbeit aus (75%). Betreuungsaufgaben im eigenen Haushalt lassen sich mit 1,5 Milliarden Stunden pro Jahr beziffern (17% des Gesamtvolumens). Für Freiwilligenarbeit wurden 665 Millionen Stunden aufgewendet (7,6% des Gesamtvolumens).»2 Frauen, die nach wie vor den Löwenanteil der unbezahlten Care-Tätigkeiten übernehmen, würden, gemessen an ihrem tatsächlichen Arbeitsaufwand, weit mehr verdienen als Männer:

«Schweizer Frauen hätten nach diesen Berechnungen (im Jahr 2013) 241 Milliarden Franken verdient, die Männer immerhin noch 159.»3

Wirtschaft ist Care

Der im Dezember 2015 in St. Gallen gegründete Verein WiC (Wirtschaft ist Care) hat sich angesichts solcher Schieflagen «die Reorganisation der Ökonomie um ihr Kerngeschäft, die Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse weltweit» zum Ziel gesetzt. Er wird sich nicht damit zufrieden geben, Care-Tätigkeiten ins herkömmliche Verständnis von Wirtschaft zu «integrieren». Denn eine Ökonomie, die entgegen ihrer eigenen Selbstdefinition das Geld statt die Bedürfnisse von 7 Milliarden Erdenbürgerinnen und Erdenbürgern ins Zentrum stellt, ist nicht zukunftsfähig. Es geht also nicht nur darum, die so genannte «Wirtschaft» und die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass Wohlstand und Wohlbefinden weltweit auf un- oder unterbezahlter Care-Arbeit beruhen. Es braucht mehr: einen Paradigmenwechsel hin zu einer Ökonomie, die den Namen verdient.

Karwoche ist Care-Woche

Jedes Jahr am Ende der Passionszeit begehen Christinnen und Christen die Karwoche als eine Woche der Trauer über den Tod ihres Retters. Die Vorsilbe Kar leitet sich vom althochdeutschen Wort Kara ab. Kara bedeutet: Klage, Trauer, Sorge. Das Wort ist mit dem englischen Care verwandt. Care bedeutet: Sorgen, sich kümmern, fürsorglich sein.4

Schon im Jahr 2016 hat WiC vorgeschlagen, die Karwoche als Care-Woche zu begehen. Anlässlich einer Ideenwerkstatt am 17. September 2016 wurde die Care-Woche 2017 ausgerufen. Der Vorschlag, der sich im Grenzbereich von kirchlichen und säkularen Milieus bewegt, ist so gemeint: Leute, die sich mit der christlichen Tradition verbunden fühlen, werden sich, statt auf Jesu Tod, auf seine unangepasste, nicht besonders «männliche» fürsorgezentrierte Lebensweise konzentrieren. Andere werden ausprobieren, wie es sich anfühlt, Fürsorglichkeit bewusst wahr- und in die Mitte zu nehmen. Als Anregung und Hilfestellung fungiert eine siebzehnteilige Postkartenserie mit Fakten und Handlungsvorschlägen zur Gestaltung der Care-Woche.

Auf die Care-Woche folgt das Osterfest: das Fest der Auferstehung. Was bedeutet es, nach einer Care-Woche Ostern zu feiern? Bekommt «Auferstehung» so eine neue Bedeutung?

 

1 Günter Ashauer, Grundwissen Wirtschaft, Stuttgart 1973, 5.

2 www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/medienmitteilungen.assetdetail.39788.html

3 Seraina Kobler, Sie ist doch ein Schatz, in: NZZ 19. Februar 2015. www.nzz.ch/schweiz/sie-ist-doch-ein-schatz-1.18487104

4 Vgl. Art. «Karfreitag» in: Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim / Wien / Zürich 1963.

Zum Weiterlesen

Ina Praetorius, Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Berlin 2015

www.boell.de/de/2015/02/19/wirtschaft-ist-care-oder-die-wiederentdeckung-des-selbstverstaendlichen; www.karwoche-ist-carewoche.org; www.wirtschaft-ist-care.org

Ina Prätorius

Ina Praetorius

Dr. Ina Praetorius (*1956) studierte Germanistik und Evangelische Theologie. Als freie Autorin arbeitet sie zu Postpatriarchaler Ethik, Theologie und Spiritualität. Sie lebt mit ihrer Familie in Wattwil (SG).