Jüdische Museen und der Schweizer Sonderfall

Welche Zukunft haben jüdische Museen im deutschsprachigen Raum? Mit dieser Frage setzen sich vierzig Institutionen auseinander, die seit 1988 in Deutschland und Österreich eröffnet wurden.

Die meisten Gründungen hatten einen klaren Bildungsauftrag. Sie sollten die Schoa aufarbeiten. Dies kam symbolisch zum Ausdruck, als das Jüdische Museum in Frankfurt am 9. November 1988, dem 50. Jahrestag der sogenannten Reichspogromnacht, mit einer Ausstellung zum Antisemitismus eröffnet wurde. Und es kam architektonisch zum Ausdruck, als die Stadt Berlin Daniel Libeskind, einen Sohn von Überlebenden, mit einem Neubau beauftragte, der die Vernichtung durch Leerstellen im Gebäude (voids) symbolisch sichtbar machte. Die Öffentlichkeit zeigte ein grosses Interesse an den neuen Einrichtungen. Die jüdischen Museen erreichten mehrere Millionen Besucher, und sie erfuhren eine überaus positive Medienresonanz. Heute steht die Aufarbeitung der Schoa nicht mehr im Vordergrund. Im vergangenen Vierteljahrhundert haben nicht nur Museen, sondern auch Wissenschaft, Literatur und Kunst den Nationalsozialismus thematisiert und den allgemeinen Kenntnisstand verbessert. Indem zum Beispiel zahlreiche Filme vom Holocaust handelten, von Claude Lanzmanns «Shoah» (1985) über Steven Spielbergs «Schindlers Liste» (1993) bis zu Quentin Tarantinos «Inglourious Basterds» (2009) haben sie die jüdischen Museen von dieser Aufgabe entlastet.

Ausweitung des Themenspektrums

Die Museen weiteten ihr Themenspektrum aus. Das Jüdische Museum Berlin zum Beispiel greift aktuelle Debatten auf, etwa in einer Ausstellung mit dem provokativ doppelsinnigen Titel «Haut/ ab!» (2014) zum Streit um die Beschneidung von 2012. Im kommenden Jahr mischt es sich ein in die Diskussion um Kopftücher und Burkas. Kleinere Häuser wie das Jüdische Museum Franken konzentrieren sich auf die regionale Geschichte. Das Museum in München betrachtet historische Ereignisse und Phänomene der Alltagskultur aus einer jüdischen Perspektive, etwa den Ersten Weltkrieg (2014) oder das Reinheitsgebot für Bier (2016). Auch das Museum in Hohenems, Österreich, wagt sich vor in die Popkultur mit einer Ausstellung zur jüdischen Musikgeschichte seit der Erfindung der Vinylschallplatte (2014, derzeit in London). Das Jüdische Museum Frankfurt will mit einer Schau über Märtyrer die religiöse Radikalisierung beleuchten. Das Verhältnis zum Islam wird die jüdischen Museen wahrscheinlich noch weiter beschäftigen.

Schweizer Sonderfall

Unter den Museen Europas nimmt das Jüdische Museum der Schweiz in Basel eine Sonderrolle ein. Es ist fast doppelt so alt wie das nächstältere seiner Art im deutschsprachigen Raum. Und an ders als in Deutschland war seine Gründung im Jahr 1966 nicht mit dem Auftrag verbunden, die Schoa zu vermitteln. Es zeigte die ungebrochene Kontinuität der Gemeinden in der Schweiz. Während in den meisten Ländern Europas die Judaica vernichtet oder nach Übersee gerettet worden waren, war das Museum in der Schweiz mit einer erstklassigen Sammlung ausgestattet. In Sonderausstellungen vertiefte es schweizerische Themen wie das Leben in den Surbtaler «Judendörfern» Endingen und Lengnau (2007). Es behandelte den ersten Zionistenkongress in Basel von 1897 und die frühen Zionisten um Theodor Herzl (2010). Das Museum präsentierte aber auch zeitgenössische Kunst, etwa eine Installation der abstrakten Malerei der Basler Künstlerin Renée Levi (2010).

Die besondere Geschichte der Juden in der Schweiz bietet eine Fülle von Themen, die in Ausstellungen zu inszenieren wären: die kulturelle Diversität der jüdischen Bevölkerung, die dörfliche und städtische, französisch- und deutschsprachige, sephardische und russische Einflüsse vereint; aber auch die ambivalente Geschichte des Landes zwischen 1933 und 1945, als es vielen Juden Zuflucht gewährte, viele aber auch abwies in den zum Teil sicheren Tod.

50 Jahre Jüdisches Museum der Schweiz

Um das diesjährige fünfzigste Jubiläum des Jüdischen Museums der Schweiz zu feiern, haben wir Kuratoren uns gefragt: Was ist das Judentum im Jahr 2016? Und warum ist es heute noch relevant? Wir haben darauf vier Antworten gefunden, die wir jeweils in einem der vier Räume des Museums präsentieren.

Erstens: Das Judentum ist eine Religion des Buches. Es ist eine der ersten monotheistischen Religionen. Anstelle von einer Abbildung eines Tiers oder einer Gottheit feiern die Juden eine Schriftrolle. Dass das die Kultur prägt, sieht man daran, dass Juden noch heute in schriftbasierten Berufen überrepräsentiert sind: als Dichter und Dramaturgen, Juristen und Journalisten.

Zweitens: Das Judentum ist ein Metronom des Lebens. Es strukturiert unsere Zeit. Es markiert die Woche mit dem Ruhetag Schabbat, das Jahr mit einem Festtagszyklus, und es setzt Meilensteine im Leben durch Rituale zur Geburt, zur Reife, zur Ehe und zum Tod.

Drittens: Das Judentum ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Erfahrungsgemeinschaft. Wir zeigen die Kulturgeschichte der Juden in der Schweiz von den ersten Zeugnissen – einem Ring mit der Prägung einer Menora aus der Spätantike aus Grabungen in Kaiseraugst – bis zur Gegenwart.

Viertens: Neuerdings ist das Judentum auch Ausdruck des individuellen Lebensentwurfes. Es gibt vermehrt Wahlmöglichkeiten. Juden und Jüdinnen können orthodox, konservativ oder liberal sein. Man kann sein Judentum traditionell pflegen oder es provokativ ironisieren. Wir zeigen die Religion, wie sie unterschiedlich im Alltag gelebt wird.

Kooperation mit dem Basler Kunstmuseum

Und wie soll es weitergehen? Weil das Museum künftig auch ausserhalb der Kornhausgasse aktiv sein möchte, ist eine Ausstellung im öffentlichen Raum angedacht. Denkbar wäre ein inszenierter Zug, der durch die Schweiz reist. Für eine solche «Wanderausstellung» eignen sich Themen, die ein breites Publikum ansprechen: «Helden wie wir» beispielsweise über biblische Vornamen und die literarischen Figuren, auf die sie zurückgehen: Noah und David, Lea und Hanna. Die nahe Zukunft beinhaltet aber erst einmal eine Kooperation mit dem Basler Kunstmuseum. Während dessen neuer Leiter, Josef Helfenstein, im Herbst 2017 Chagalls Avantgardismus zum Thema macht, zeigt das Museum in der Kornhausgasse, wie der erste jüdische Künstler von Weltrang mit seinen Rabbinern und Musikanten dem Judentum einen volkstümlichen «Look» gab, der dessen Bild bis heute bestimmt.

 

Naomi Lubrich

Dr. Naomi Lubrich ist Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz in Basel.