Judas Iskariot – Mehr als ein Name

Wohl keiner aus dem Kreis der Zwölf ist so umstritten wie Judas Iskariot. War er ein Verräter? Ein Sündenbock? Ein Opfer seiner politischen Ambitionen? Oder ein treuer Freund Jesu?

Der Kuss des Judas von Giotto di Bondone (1304–1306). (Bild: Wikipedia)

 

«Judas!» reicht aus, um sie unwiderruflich zu diskreditieren: Verräter, Heuchler, Denunzianten. Jede Judastat verwandelt Nähe in Schutzlosigkeit, Arglosigkeit in Ausgeliefertsein, zerstört Vertrauen, zerstört Leben. Aber: Was ist historisch, was ist biblisch zu Judas zu sagen?

Historischer Hintergrund

Historisch gesichert kann man feststellen: 1. Jesus hat Judas in den Jüngerkreis berufen; 2. sein Handeln trug dazu bei, dass Jesus zu Tode kam; 3. danach hatten die Anhänger Jesu keinen Kontakt mehr zu ihm. Historisch plausibel vermuten kann man, dass ein politisches Verständnis der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft zu antirömischen Aktionen führen konnte, denen es aus Verantwortung für das Land zu wehren galt (Mk 14,2). Historisch möglich ist, dass Judas den politischen Eliten den Zugriff auf Jesus erleichtert hat. Historisch nicht mehr möglich ist, die Motivation seines Handelns zu benennen.

Dieses Handeln wird im Neuen Testament mit einem Verbum bezeichnet, das nicht von Haus aus «verraten» heisst, sondern «ausliefern», z. B. an eine nächsthöhere Instanz, und das auch für die Hingabe Jesu durch Gott (Röm 4,25; 8,32) und die Selbsthingabe Jesu (Gal 2,20; Eph 5,2.25) verwendet wird, aber auch für die Auslieferung von Christinnen und Christen (Mk 13,9). Der übliche Sprachgebrauch «Verräter» basiert lediglich auf Lk 6,16.
Der Beiname «Iskariot» verweist wohl auf die Herkunft aus einem Ort in Judäa (Jos 15,25); doch gibt es auch andere Deutungen («Mann der Lüge» oder «Mann des Dolches»). Über das Lebensende des Judas gibt es zwei konkurrierende Berichte (Mt 27,3–10; Apg 1,16–20). Die Erinnerung an Judas blieb diesbezüglich undeutlich.

Judas in den Evangelien

Für das Judasbild bei Markus sind innergemeindliche Motive leitend, die Erfahrung des Ausgeliefertwerdens in den eigenen Reihen (vgl. Mk 14,18–21 mit Mk 13,9.12). Matthäus motiviert das Handeln des Judas mit Habgier (Mt 26,15) und Heuchelei (Mt 26,49). Die Reue des Judas (Mt 27,3) wird als Kontrast zur Selbstverweigerung der jüdischen Eliten erzählt. Lukas sieht in Judas den Satan am Wirken (das entlastet Judas nicht; vgl. Lk 22,6). Dass Judas Anteil am Altarsakrament bekommt, ist Warnung an die Gemeinde – der Satan holt sich seine Werkzeuge aus ihrem innersten Kreis – wie an den Einzelnen: Die Teilhabe an der Eucharistie ist keine Heilsgarantie. Johannes thematisiert anhand des Judas das Problem des Abfalls von Gläubigen (vgl. 1 Joh 2,19). Dass Jesus um den Unglauben des Judas weiss (Joh 6,64.70), soll die Leserinnen und Leser warnen, ist aber auch Apologetik angesichts späterer antiker Christentumskritik: Die Wahl dieses Jüngers widerlegt Jesu Wahrheitsanspruch keineswegs.

Die jüdische Identität des Judas wird in den kanonisch gewordenen Evangelien nicht thematisiert. Die Gleichsetzung «Judas = Juden» begegnet uns seit dem vierten Jahrhundert (Hilarius von Poitiers; Augustinus), setzt sich leider aber vor allem im Mittelalter durch. Im sogenannten «Judasevangelium» wird Judas von «den Zwölf» unterschieden, die als völlig unverständig gelten; doch ist unklar, ob er ausnahmslos als positive Figur gedacht ist.

Verräter, Opfer, loyaler Freund

Die Motive für eine Abkehr von dem Judasbild vor der Aufklärung sind Teil des allgemeinen geistigen Umbruchs dieser Zeit: Kirchlich-traditionelle Deutungen der biblischen Erzählungen werden hinterfragt; historisches Bewusstsein kommt auf, ebenso das Bemühen, eine Person aus ihrer Zeit und Lebenssituation zu verstehen. Kirchenkritische Deutungen implizieren die Rehabilitation des Judas; andererseits werden weiterhin reale Denunziationserfahrungen mithilfe seines Namens bearbeitet. An biblischen Motiven wirkt Mt 27,3 weiter; der Suizid wird als Tat der Verzweiflung über die Selbsttäuschung bzw. das Scheitern politischer Hoffnungen gedeutet. Imbach (Judas hat tausend Gesichter)1, Dieckmann (Judas als Sündenbock) und Krieg/Zangger-Derron (Judas) haben wesentliche Texte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gesammelt.

Inauguriert ist dieses neue Judasbild durch Klopstocks «Messias»: Bei Judas, so Klopstock, entwickeln sich nach anfänglicher Liebe zu Jesus Eifersucht und Habgier. Judas will Jesus durch die Auslieferung an die Hohepriester dazu bringen, sich als Messias zu offenbaren und das Reich Gottes zu errichten, damit auch er, Judas, sein Erbe erhalten kann. Die Differenzen zwischen dem pazifistischen Jesus und dem revolutionären Judas wirken bis heute weiter, sei es, dass Judas bis zuletzt auf ein Wunder hofft (Mertes, Judas), sei es, dass Judas durch sein Handeln Jesus dazu bringen will, sich endlich als Messias zu offenbaren (Luise Rinser, Mirjam; Carner, Jesus und Judas).
Als politische Negativchiffre dient Judas da, wo an ihm Fehlverhalten in Diktaturen wie dem Sowjetkommunismus (Bulgakow, Der Meister und Margarita), dem Nationalsozialismus (Schubert, Judasfrauen) oder dem DDR-Regime (Lahann, Genosse Judas) abgearbeitet wird.

Als Werkzeug in einem höheren Plan wird Judas in Analogie zu esoterischen Konzepten der Antike erfasst. Das Heilsgeschehen ist ohne die Mitwirkung des Judas nicht denkbar, dieser sei deshalb auch nicht zu verurteilen (Jens, Der Fall Judas). Jesus selbst habe Judas zur Auslieferung bewogen (Nikos Kazantzakis, Die letzte Versuchung). Hingegen gilt Judas bei Lot Vekemans als Beispiel eines Menschen, der seine Tat zu verstehen sucht und sich wehrt gegen das Zerrbild des abgrundtief Bösen, das man aus ihm gemacht hat.

Die jüdische Identität des Judas Iskariot ist bisher vor allem von jüdischen Gelehrten und Schriftstellern bedacht worden. Dabei ergeben sich Umkehrungen, die uns Christinnen und Christen beschämen sollten. Max Brod stellt anhand des Judas den Indifferentismus eines assimilierten Judentums dar, während Jesus in seiner Person das Judentum vollkommen zur Geltung bringt. Kritik des traditionellen christlichen Antijudaismus ist das explizite Ziel einiger neuer Judasdarstellungen. Judas wird hier oft als absolut loyaler Freund Jesu gezeichnet. Amos Oz schildert Judas in seinem gleichnamigen Roman als Einzigen, der wirklich an Jesus geglaubt hat. Für Peter Ury gilt Judas als Symbolgestalt des jüdischen Leidens unter der christlichen Tyrannei. Amos Oz (Jesus und Judas) verweist auf die verheerende Wirkungsgeschichte der Verratserzählung und stellt ihren Wahrheitswert generell in Frage. Rabah Ameur-Zaïmeche (Film «Der Fall Judas») leugnet, dass es einen Verrat gab. Tuccillo/Wohnlich (Oratorium «Judas Ischarioth») zufolge steckt Judas in jedem von uns. Die Abgrenzung vom traditionellen kirchlichen Judasbild erfolgt vornehmlich in intertextuellen Anspielungen an Johann Sebastian Bachs Passionen.

Fazit

Angesichts der Erkenntnisse aus der Evangelienexegese und der ambivalenten Wirkungsgeschichte der Judasfigur gilt es festzuhalten:
Die im Einzelnen nicht mehr aufzuhellende Tat des Judas ist nicht die Tat des typischen Juden. Antijudaismus ist nicht zu rechtfertigen. Perhorreszierung des Judas kann immer auch ein Hinweis sein auf eigenes verdrängtes Versagen. Zu einem Handeln gleich dem des Judas ist jedermann fähig. Allerdings gibt es immer wieder auch konkrete Schuld von Denunziation, die benannt werden muss, damit auch den Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Dass Jesu Tod Bestandteil des Heilsplans Gottes für diese Welt war, entlastet Judas nicht von seiner möglichen Schuld, erlaubt jenen, denen der Kreuzestod Jesu zugutekam, aber keinerlei Selbstgerechtigkeit und keine Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts, sondern mahnt uns zu der Haltung, die schon Johann Sebastian Bach angesprochen hat: «Ich bin’s, ich sollte büssen.»

Martin Meiser

 

 


Martin Meiser

Prof. Dr. Martin Meiser (Jg. 1957) studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Tübingen und München. Er ist Professor für Evangelische Theologie an der Universität des Saarlandes.

 

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