Jesus, Paulus und das Neue Testament

Zur Theologie von Nicholas Thomas Wright

Kreativität ist in kirchlichen und wissenschaftlichen Welten nicht überall eine Tugend. Wer sich mit den zahlreichen Schriften von Nicholas Thomas (Tom) Wright beschäftigt, begegnet auf Schritt und Tritt einer erstaunlichen Kreativität. Schon an dieser Stelle entscheidet sich bereits einiges im Blick auf die Frage, wie man auf sein Werk grundsätzlich reagiert. Wer Kreativität schätzt, wird bei Wright voll auf seine Kosten kommen. Wem Kreativität in theologischen und geistlichen Fragen eher unangenehm ist, dem werden Wrights Gedanken einiges abverlangen.

Nun ist Kreativität aber natürlich kein Wert als solcher. Man kann äusserst kreativ mit biblischen Texten umgehen und ihren ursprünglichen Aussagen und Botschaften nicht einen Millimeter näher kommen. Darum aber geht es Wright: Er ist ein Vollblut- Bibeltheologe. Er möchte so gut wie möglich erheben, was die biblischen Texte in ihren ursprünglichen literarischen, historischen und theologischen Dimensionen sagen. Im Folgenden stelle ich sein Denken ein wenig näher vor, indem ich drei Bereiche beleuchte: (1.) Wrights Erkenntnistheorie und Hermeneutik; (2.) Eckpunkte seiner Sicht von Jesus und Paulus sowie (3.) seinen Umgang mit alttestamentlichen Texten im Neuen Testament. Der Artikel schliesst mit einigen Anmerkungen zu allgemeinen Lehren, die man aus dem Werk von Wright ziehen kann.

Zunächst aber noch ein paar Anmerkungen zur Person und zum Werdegang von N. T. Wright: Er wurde 1948 geboren und stammt aus Morpeth, Northumbria, einer englischen Kleinstadt. Das Studium der Geschichte und Theologie absolvierte er am Exeter College in Oxford. Lehraufträge als Dozent für Neues Testament führten ihn an die McGill University in Montreal und zurück nach Oxford ans Worcester College. 1994 wurde er «Dean of Lichfield Cathedral in England», 2000 dann «Canon Theologian », Westminster Abbey, und 2003 wurde er zum anglikanischen Bischof von Durham, England, ernannt. 2010 gab er sein Bischofsamt auf und ist seitdem wieder Professor für Neues Testament und frühchristliche Geschichte, jetzt an der University of St. Andrews in Schottland. Wright ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Er liebt die Musik und hat gelegentlich auf Konferenzen humorvolle Kostproben seiner Sangeskünste gegeben. Seine zahlreichen Veröffentlichungen sind mittlerweile recht unüberschaubar.

Eine erste Orientierung kann man sich auf www.ntwright.ch verschaffen (dort u. a. eine Bibliografie mit den wichtigsten Werken). Unter www.ntwrightpage.com findet man viele Artikel, Video- und Audiodateien.

1. Kritischer Realismus und eine Hermeneutik der Liebe – Grundlagen

Im ersten Band seiner umfassenden neutestamentlichen Reihe «Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott»1 legt Wright in Teil I und II dar, was sein theologisches Projekt alles umfasst und auf welcher erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Grundlage es beruht. Er entwickelt dort eine weltanschaulich verankerte Version eines kritischen Realismus, der auf eine dialogische Hermeneutik der Liebe hinausläuft. Er positioniert sich damit zwischen Positivismus und Phänomenologie. Unter Positivismus versteht er die Position, die meint, mehr oder weniger direkten Zugang zu den «Fakten» zu haben. Ein solcher Positivismus kann sich u. a. in Fundamentalismen der einen oder anderen Art auswirken, von denen sich Wright deutlich abhebt. Das andere Extrem ist eine Phänomenologie, die meint, wir haben letztlich keine Möglichkeit, über irgendwelche externen Wirklichkeiten zu sprechen, sondern konstruieren ausschliesslich unsere eigenen Welten.

Wrights Ansatz läuft demgegenüber auf eine dialogische Hermeneutik der Liebe hinaus: Es gibt eine externe Welt, mit der wir in dialogischen Prozessen in Interaktion treten. Diese Prozesse können prinzipiell zu wahren Aussagen führen. Dennoch sind diese Prozesse eingebunden in weltanschauliche Parameter: die «Storys», die sich eine Kultur erzählt, die Symbole und die Praxis, die in einer Kultur wichtig sind, sowie die grundlegenden weltanschaulichen Fragen und Antworten: Wer sind wir? Wo sind wir? Was ist schiefgelaufen? Wie sehen die Lösungen aus? Der gesamte Erkenntnisprozess ist zwar subjektiv gefärbt, echte Erkenntnisfortschritte und echte Veränderungen persönlicher Sichtweisen sind jedoch tatsächlich möglich.

Wichtig ist, dass wir nicht neutrale Subjekte sind, die neutrale Objekte beobachten und beschreiben, sondern dass wir selber weltanschaulich verankerte Beobachter von weltanschaulich verankerten Personen, Ereignissen usw. sind. Das bedeutet, dass diese weltanschaulichen Aspekte bei der Arbeit an den literarischen, historischen und theologischen Dimensionen der biblischen Texte immer im Kopf zu behalten sind. Das macht die Arbeit an der Bibel zum Teil komplexer, aber auch wirklichkeitsnaher.

Vor diesem breiten Grundansatz ist Wright dann so frei, so manche Methode der bibelwissenschaftlichen Orthodoxie zu hinterfragen und neue Ansätze vorzuschlagen. Traditionelle Methoden wie Formkritik, Traditionsgeschichte und Redaktionskritik der Evangelien auf der Grundlage synoptischer Vergleiche werden von ihm durchaus kritisch gesehen. Eine grosse Rolle spielt in diesem Zusammenhang seine Form der narrativen Exegese. Die Kategorie der «Story» ist hier von besonderer Bedeutung. Daher wurde der Begriff auch in der deutschen Übersetzung der Werke Wrights beibehalten, um ihn von Geschichte («history») und Erzählung («narrative») zu unterscheiden. Wir kommen im dritten Abschnitt zur Verwendung alttestamentlicher Texte im Neuen Testament auf die Frage der «Story» zurück.

Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass Wrights Werk auf tiefgründigen methodischen Überlegungen basiert. Eine Auseinandersetzung mit seiner Theologie sollte diese Grundlagen nicht übersehen. Bestimmte Einzelergebnisse seiner Schriften stellen sich unter Umständen anders dar, wenn man sie nicht in die jeweils eigenen, liebgewonnenen Bezugsrahmen einbaut, sondern versucht, ihre Bedeutung im Bezugsrahmen des Wrightschen Ansatzes zu verstehen. Natürlich werden Einzelergebnisse immer umstritten bleiben. Aber es könnte ja sein, dass man selbst auch zu anderen Einzelergebnissen kommt, wenn man die methodischen Grundlagen von Wright in ihrer Weite und Tiefe schätzen lernt.

2. Wrights Sicht auf Jesus und Paulus

Wrights mittlerweile auf sechs Bände angelegtes Hauptwerk «Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott» basiert auf dem ursprünglichen Plan, je ein grosses Werk über Jesus und über Paulus zu schreiben. Bei den Vorarbeiten erkannte Wright, dass die methodischen Grundlagen sowie die Geschichte des Judentums und des Christentums im ersten Jahrhundert n. Chr. für das Studium sowohl von Jesus als auch von Paulus derart wichtig sind, dass sogleich ein zusätzlicher einleitender Band dazukam, das bereits erwähnte Buch NTVG. Auf der Grundlage der dort entwickelten Hermeneutik und vor dem Hintergrund der dort dargelegten Sicht des Judentums und Christentums im ersten Jahrhundert entwickelt Wright dann in dem grossen Jesusband «Jesus und der Sieg Gottes»2 seine Auffassung vom historischen Jesus. Lag die Forschung zum historischen Jesus im 20. Jahrhundert infolge der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung aus der Feder von Albert Schweitzer jahrzehntelang auf Eis, ist sie seit den 1970er-Jahren im Zuge des sogenannten «third quest of the historical Jesus» wieder voll in Fahrt gekommen. Wright gehört zu dieser «dritten Suche nach dem historischen Jesus», die versucht, Jesus so gut wie möglich in der Zeit, Geschichte und Kultur seiner Zeit zu verstehen.

Das Charakteristische an Wrights Jesusbuch besteht zunächst darin, dass er seine hermeneutischen Grundlagen konsequent auf Jesus anwendet. Er beschreibt also die Praxis, die Symbole, die «Storys» und die weltanschaulichen Fragen und Antworten, die den historischen Jesus geprägt haben werden und die dieser nicht nur aufgenommen, sondern an vielen Punkten auch radikal verändert hat. Jesus ist aus der Sicht von Wright zunächst einmal ein Prophet in der Tradition alttestamentlicher Propheten mit einem Führungsanspruch. Als ein solcher beansprucht er, die Herrschaft Gottes auf eine Weise zu leben und zu lehren, die dem Geist des Gottes Israels wirklich entspricht. Damit kommt es zu Konflikten mit denen, welche die Herrschaft Gottes auf eine andere Weise verstanden und fördern wollten. Diese Konflikte brachten Jesus letztlich ans Kreuz. Dies ist natürlich eine extrem verkürzte Darstellung des grossen Jesusbuches.

Ein sehr grosser Themenkomplex ist z. B. auch die Frage nach der Rolle Israels als des Gottesvolkes und Trägers der Herrschaft Gottes. Dies ist ein brisantes Thema, das ebenfalls unten im Abschnitt zur Verwendung alttestamentlicher Texte im Neuen Testament in Wrights Werk aufgegriffen wird. Eines sei aber bereits hier gesagt: Die Lektüre des grossen Jesusbuches sowie der kleineren Jesusbücher3 lässt keinen Zweifel an der Zentralstellung, die Wright in seiner Theologie Jesus zukommen lässt. Jesus und sein Verständnis der Herrschaft Gottes ist das Mass aller Dinge – eine aus meiner Sicht extrem heilsame Sicht, wenn sie denn innerlich verstanden und im Geiste Jesu angewendet wird.

Da der grosse Jesusband (also Band 2 der Reihe «Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott») ein Beitrag zur Forschung am historischen Jesus ist, wird dort die Auferstehung Jesu nicht thematisiert. Diese ist allerdings Gegenstand des Monumentalwerkes «Die Auferstehung des Sohnes Gottes» (Band 3 der genannten Reihe).4 In diesem Werk lässt Wright die Auffassungen zu den Themen «Leben nach dem Tod» und «Auferstehung» (was eben nicht dasselbe ist!) im antiken Heidentum, im Alten Testament, im nachbiblischen Judentum, im gesamten Neuen Testament sowie in den Kirchenvätern bis ins zweite Jahrhundert hinein Revue passieren. Er argumentiert dort, dass allein die reale Auferstehung Jesu in eine transformierte Leiblichkeit notwendig und hinreichend erklärt, wie es zum Aufstieg des Christentums kommen konnte. Die Kombination des leeren Grabes und der körperlichen Erscheinungen des Auferstandenen ist dazu unumgänglich. Das rund tausendseitige Werk erfordert geduldiges Lesen, das reich belohnt wird.

Auf Englisch liegt seit Herbst 2013 nun aber das eigentliche «Opus magnum» von Wright vor, der grosse Band zu Paulus, «Paul and the Faithfulness of God»5 (PFG; Band 4 der erwähnten grossen Reihe; rund 1600 Seiten in zwei Teilbänden). Zusätzlich gibt es einen Sammelband mit ausgewählten Artikeln zu Paulus5 sowie demnächst eine Geschichte der Paulusforschung. 6 Man sieht also: Die Paulusforschung hat Wright noch intensiver betrieben als die Forschung zum historischen Jesus und zur Auferstehung, was angesichts des Umfangs dieser früheren Werke durchaus beachtlich ist. Doch natürlich zählt nicht Masse, sondern Substanz. Im Kern wendet Wright auch auf die paulinischen Texte dieselbe Methodik an wie in den anderen Forschungsbereichen. Doch ergibt sich im Blick auf Paulus eine andere Gliederung des Werkes. Wright untersucht zunächst die Welten, in denen Paulus gelebt hat: seine jüdische Welt, die antike Philosophie, die antiken Religionen und das Römische Reich des ersten Jahrhunderts. Dann kommt die Denkweise von Paulus in den Blick: die symbolische Praxis der Welt des Paulus, seine von «Storys» geprägte Weltsicht sowie fünf Hinweisschilder auf seine apostolische Denkweise, die sich an den oben erwähnten weltanschaulichen Fragen orientieren. Erst auf dieser Grundlage widmet sich Wright der eigentlichen Theologie von Paulus. Hier zeigt er, wie Paulus die drei jüdischen Eckpfeiler Monotheismus, Erwählung und Eschatologie aufnimmt und um Jesus und den Heiligen Geist herum neu formuliert. Dies ist das Herzstück seiner Paulusinterpretation. Doch es endet eben nicht mit «reiner» Theologie (wenn es die denn überhaupt gibt). Im abschliessenden vierten Teil wendet sich Wright in umgekehrter Reihenfolge wieder den Welten des ersten Buchteils zu und zeigt, wie sich Paulus’ Theologie in seiner Welt ganz konkret auswirkte. Einen Vorgeschmack darauf liefert bereits das einführende Kapitel im ersten Teil. Dort beginnt Wright sein Werk mit Beobachtungen zum Brief an Philemon – wiederum ein kreatives Element, doch Wright zeigt hier, wie sich die gesamte paulinische Theologie auf ein ganz konkretes Problem auswirkt, das zwischenmenschliche, gesellschaftliche, politische und geistliche Dimensionen umfasst. Die Lektüre dieses Abschnitts ist ziemlich erhellend und bewegend.

Der Wrightsche Entwurf seiner Paulusinterpretation ist also durchaus umfassend. Auch hier gilt daher dasselbe wie bei seiner Jesusinterpretation: Man sollte umstrittene Aspekte zunächst in ihrem Zusammenhang und anhand des Massstabs der Wrightschen Methodik verstehen, bevor man anhand eigener Bezugsrahmen be- und verurteilt. Da besonders seine Auffassungen zur Rechtfertigung sowie seine Volk- Gottes-Theologie heiss umstrittene Themen sind, kann man nur zu gründlichem Studium und kühlem Kopf raten. Wright ist der letzte, der behauptet, in allem Recht zu haben. Im Gegenteil: Bei Vorträgen hat er wiederholt geäussert, dass vielleicht rund 20 Prozent seiner Theologie unrichtig sein könnten – er wisse nur nicht, welche 20 Prozent das seien, sonst würde er es ja ändern. Derartige Äusserungen sind natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen, zeigen aber, dass er sich relativ gelassen bewusst ist, ein fehlerhafter Mensch zu sein – wie wir es ja alle sind.

3. Zur Verwendung alttestamentlicher Texte im Neuen Testament

Da Wright gesamtbiblisch denkt, ist wichtig zu verstehen, wie er das Alte Testament im Neuen aufgenommen findet und welche Schlüsse er daraus zieht. Grundsätzlich sieht er die gesamte Bibel als grosse «Story» von Schöpfung bis Neuschöpfung an. Er ist also ein «big-picture»-Theologe, der die grossen Linien der Bibel betont. Der Begriff der «Story» ist in diesem Ansatz in keiner Weise abwertend gemeint.7 Im Gegenteil: Eine «Story» ist eine erkenntnistheoretische Grundkategorie. «Storys» prägen unsere Weltsicht. «Storys» geben historischen Ereignissen ihre Bedeutung. «Storys» laden ihre Hörer und Leser ein, in ihre Welt einzutauchen. Sie fordern die Leser heraus, ihre eigene Weltsicht zu hinterfragen. Sie machen dadurch echte Veränderungen im Denken und Leben möglich. Man sieht das z. B. ganz klar, wenn man einmal folgendes hypothetische Gedankenexperiment durchspielt: Angenommen, Paulus hätte Jesus und seinen Jüngern während des irdischen Lebens Jesu heimlich nachspioniert. Er hätte also alles miterlebt, was Jesus tat – bis zum Kreuz. Paulus wäre dann Augenzeuge des Lebens Jesu gewesen, Zeuge der historischen Ereignisse. Dennoch hätte die «Story», die er kurz nach Jesu Kreuzigung über die Ereignisse des Lebens Jesu erzählt hätte, völlig anders ausgesehen als die «Story», welche die vier kanonischen Evangelien erzählen. Er hätte Jesus nie und nimmer als Israels Messias und Gottes Sohn dargestellt – letzteres weder im menschlichen davidischen Sinne und schon mal gar nicht mit irgendeiner Andeutung, Jesus würde ganz auf die Seite Gottes gehören und man solle ihn anbeten. Seine Story über die historischen Ereignisse hätte Jesus als einen der anderen gescheiterten vermeintlichen Messiasse dargestellt. So füllt also die «Story» die historischen Ereignisse mit Bedeutung und ist daher eine eminent wichtige Kategorie.

Neben den bisher genannten Funktionen einer «Story» benutzt Wright diese Kategorie jedoch noch auf andere Weisen. Dazu gehört, dass er nicht nur einzelne alttestamentliche Zitate oder Anspielungen aufgrund von isolierten Einzelbeobachtungen lexikalischer oder sonstiger Art auslegt, sondern versucht, den narrativen Einbettungen der Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament im Neuen nachzuspüren. Darüber hinaus hält er es für durchaus möglich, über die erzählerischen und die referentiellen Sequenzen der Texte an ihre Weltanschauung zu gelangen.8 Es wird vermutlich immer umstritten bleiben, wo das überzeugend gelingt und wo dieser Ansatz überbetont wird. Doch man sollte diese Vorgehensweise nicht vorschnell grundsätzlich ablehnen. Zum einen kann mal wohl berechtigt davon ausgehen, dass die neutestamentlichen Autoren, besonders Paulus, durch und durch mit den grossen narrativen Linien des Alten Testaments vertraut waren. Dasselbe gilt auch für viele ihrer Leser im ersten Jahrhundert – insbesondere natürlich für jüdische Leser, aber vielleicht sogar auch für gewisse Heiden. Jedenfalls waren diese narrativen Linien in vielen Kreisen viel besser bekannt als unter vielen heutigen Lesern. Ausserdem geht ja niemand voraussetzungslos an das Neue Testament heran. Theoretisch wird das vermutlich jeder irgendwie zugeben, aber in der Praxis wird oft ein anderer Eindruck erweckt. Der Versuch, die narrativen und rhetorischen Zusammenhänge der alttestamentlichen wie der neutestamentlichen Texte zu beachten, gehört bei Wright zu dem Versuch, anachronistische und sachfremde Kategorien möglichst nicht an die Texte heranzutragen. Wie gesagt: Man kann sich trefflich streiten, wie das im Einzelfall gelingt. Aber vielleicht eröffnet Wright hier Sichtweisen, die den Texten unter Umständen mindestens so gerecht werden wie alternative Ansätze.

Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls auch Wrights Volk-Gottes-Theologie zu verstehen. Er liest die Bibel wie gesagt als «Story» von Schöpfung bis Neuschöpfung. In dieser «Story» ist Jesus der Drehund Angelpunkt. Aus der Sicht von Wright kommt in Jesu Leben, Tod und Auferstehung das Ende des Exils Israels und damit die Vergebung der Sünden als Kennzeichen dieses echten Exilsendes zustande. Im Blick auf das Verständnis des Volkes Gottes hat das zur Folge, dass sich die Zugehörigkeit zu diesem Volk seit Jesus an Jesus entscheidet. Aus Wrights Sicht steht Paulus damit im vollen Einklang. Seit Jesus steht allen Menschen, Juden wie Heiden, der Weg zu Heil, Heilung, Vergebung, Versöhnung – kurzum: zur Liebe Gottes – offen.

Aus dieser Sicht legt Wright gewisse Texte des Neuen Testaments anders aus, als viele es gewohnt sind. Zu prüfen ist also jeweils, wo seine Sicht kohärent und erhellend ist. Dasselbe gilt allerdings auch für alternative Sichtweisen. Und abgesehen von der exegetischen Überzeugungskraft von Einzelauslegungen ist ja immer auch die Frage, in welchem Geist welche Auffassungen welche Auswirkungen zeitigen. Wrights Auffassungen führen meines Erachtens in der Volk-Gottes-Frage dazu, gut paulinisch das volle Heilsangebot allen Menschen zugänglich zu machen – Juden wie Heiden.

Es gilt weder Diskriminierung noch Bevorzugung aufgrund von ethnischen, religiösen oder kulturellen Kriterien – durchaus heilsame Haltungen, wenn sie unparteiisch angewendet werden.

4. Einige Lehren aus Wrights Werk

Abschliessend möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige Lehren lenken, die ich selber aus Wrights Werk ziehe.

Gründlich, mutig, demütig und humorvoll: mit Freude gediegene Theologie treiben

Mich inspiriert, wie Wright gründliche Arbeit, mutige und durchaus kreative Vorschläge sowie die Demut, die eigenen Begrenzungen durchaus zu sehen, zu einer Theologie verbindet, der auch ein gewisser Humor nicht fehlt. Vermutlich kommt diese Mischung meiner eigenen Persönlichkeit entgegen, aber ich habe den Eindruck, sie könnte der Theologie insgesamt ganz guttun.

Plädoyer für die konkurrenzlose Zentralstellung von Jesus

In der heutigen völlig unüberschaubaren und oft nach wie vor tief zerrissenen Christenheit ist es meines Erachtens völlig unerlässlich, Jesus zentral in den Mittelpunkt zu stellen. Wright tut das auf herausragende Weise. Sicher kann man sich über viele Aspekte seines Werkes trefflich streiten – doch man sollte nicht aus den Augen verlieren, worum es ihm zentral geht: um Jesus und um die Vision Jesu von der Herrschaft Gottes, die es im Geist Gottes in allen Bereichen des Lebens auszuleben gilt – in aller Schwachheit, unter allen Vorbehalten, aber doch nach besten Kräften. Um diese zentrale Stossrichtung zu spüren, muss man gar nicht die Monumentalwerke lesen. Es reicht schon die Lektüre der kleineren Werke.9 Eine Auseinandersetzung mit Wright sollte immer wieder auf diese zentralen Dinge zurückkommen. 10

Ermutigung zur inneren Verbindung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und geistlicher Existenz

Letztendlich hat mich an Wright immer die innere Verbindung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und ehrlicher geistlicher Existenz überzeugt. An die Stelle einer angeblichen wissenschaftlichen Neutralität, von der wir ja alle wissen, dass es sie eh nicht gibt, setzt Wright eben keine völlige Relativität und gleitet nicht in die Beliebigkeit ab. Vielmehr versucht er nach besten Kräften, seinen Glauben denkerisch zu verantworten und in einer Spiritualität zu leben, die versucht, das aufzunehmen, was seine Lektüre des Neuen Testaments ergibt. Natürlich tun das viele andere auch. Dennoch empfinden viele Menschen, dass diese Verbindung bei Wright recht gut gelungen ist – jedenfalls sind seine Bücher in der englischsprachigen Welt nicht gerade Ladenhüter. Ich freue mich von daher auf eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Theologie und Spiritualität von N. T. Wright auch im deutschsprachigen Raum.11


Theologie im Dialog

Studientage an der Universität Freiburg i. Ü. zur theologischen und gesellschaftlichen Erneuerung mit N. T. Wright (10. bis 13. Juni 2014)

Der Apostel Paulus provoziert Menschen im 21. Jahrhundert genauso wie im ersten. Keine Theologie, ja kein Christ kommt an der Auseinandersetzung mit ihm vorbei. Der englische Theologe und Historiker N. T. Wright hat sich in seiner Forschungsarbeit seit über dreissig Jahren mit dem historischen Kontext und der Theologie des Paulus befasst. Die Studientage stehen allen Interessierten offen und geben Gelegenheit zur Diskussion mit dem Referenten und zur vertiefenden Aneignung im Gespräch miteinander. Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch, am Freitag, 13. Juni 2014, auch Französisch. Eine Simultanübersetzung wird angeboten.

Weitere Infos: http://www.glaubeundgesellschaft.ch/ntwright

 

 

 

 

1 Der erste Band der Reihe heisst: Das Neue Testament und das Volk Gottes (Francke-Verlag, Marburg 2011; abgekürzt NTVG).

2 JSG (Francke-Verlag, Marburg 2013). Das englische Original von 1996 wurde in einem Sammelband diskutiert: C. C. Newman (ed.): Jesus & the Restoration of Israel: A Critical Assessment of N. T. Wright’s Jesus and the Victory of God (Inter Varsity Press, Downers Grove 1999).

3 Herausforderung Jesus (Causa mundi, Böblingen 2012); Jesus: Wer er war, was er wollte, und warum er für uns wichtig ist (Francke, Marburg 2013). Auf Englisch zusätzlich: Who Was Jesus? (Eerdmans, Grand Rapids 1992); The Original Jesus: The Life and Vision of a Revolutionary (Lion Publishing, Oxford 1996); The Meaning of Jesus: Two Visions. With Marcus Borg (SPCK, London 1999); The Contemporary Quest for Jesus (Fortress Press, Augsburg 2002).

4 ASG; Francke, Marburg 2014.

5 Pauline Perspectives: Essays from 1978 to 2013 (SPCK, London 2013).

6 Paul and His Recent Interpreters (Fortress Press, Minneapolis, im Laufe von 2014 erwartet).

7 Vgl. zu «Story» und weltanschaulich verankerter narrativer Analyse u.a. NTVG, Kap. 3; und jetzt PFG, bes. Kap. 1 und 7.

8 Siehe zu dieser Terminologie NTVG, Kap. 13, Abschnitt 6: «Paulus: Von Adam zu Christus», sowie nochmals PFG, Kap. 1 und 7.

9 Vgl. nur die Trilogie: Warum Christ sein Sinn macht ( Johannis-Verlag, Lahr 2009); Von Hoffnung überrascht (Aussaat, Neukirchen-Vluyn 2011); Glaube – und dann? Von der Transformation des Charakters (Francke, Marburg 2011) sowie die allgemein verständliche Kommentarreihe «Für heute» (Brunnen- Verlag, Giessen ab 2013).

10 In der englischsprachigen Welt ist die Auseinandersetzung mit Wrights Werk bereits in vollem Gange; vgl. nur den Sammelband von Nicholas Perrin / Richard B. Hays (ed.): Jesus, Paul, and the People of God: A Theological Dialogue with N. T. Wright (IVP, Downers Grove 2011).

11 Eine Möglichkeit dazu bieten die «Studientage zur theologischen und gesellschaftlichen Erneuerung» mit N. T. Wright vom Dienstag, 10. Juni, bis Freitag, 13. Juni 2014, an der Universität Freiburg i. Ü. (vgl. Kästchen).

Rainer Behrens (Bild: each.ch)

Rainer Behrens

Dr. Rainer Behrens ist Pastor der Chrischona-Gemeinde in Kreuzlingen. Er ist lutheranischer Herkunft und studierte Theologie in Krelingen, Münster und Giessen und promovierte im Bereich Neues Testament an der University of Gloucestershire.