Irrungen und Wirrungen der Liturgie

Offertorium

Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Thema der Liturgie begonnen und auch dazu das erste schriftliche Dokument «Sacrosanctum Concilium» verabschiedet. Es hat so die längst überfällige Reform der Kirche insgesamt angestossen, die natürlich noch nicht vollendet ist. Was vom Dokument gesagt wurde – «es musste in vielen Fragen eine mittlere Linie zwischen Idealbild und Überlieferung gezogen werden, (…) die vom augenblicklichen Stand der rivalisierenden Kräfte abhing»1 –, gilt heute noch für alles reformerische Bemühen, im liturgischen und in jedem anderen Bereich. Wie dringend das Weiterforschen und -erneuern ist, beweist ein hoch gelehrtes, aber klar gegliedertes und sehr flüssig zu lesendes Werk des 1934 geborenen emeritierten Münsteraner Kirchenhistorikers Arnold Angenendt.2 Der Autor hat die Gabe, nicht nur fesselnd vorzutragen und in Interviews klar Stellung zu beziehen, sondern auch gewaltige Problembereiche schlüssig in Aufsätzen und Artikeln (gegen 200) und Büchern (ca. 15) vorzustellen. Nicht umsonst erreichen viele Bücher von ihm mehr als nur eine Auflage. Als hervorragender Kenner des Mittelalters hat er sich mit seinem Grundlagenwerk zur Religiosität im Mittelalter erwiesen.3 Und nun befasst er sich mit dem Messopfer im Mittelalter und wählt bewusst diese Bezeichnung, da sie in jener Epoche im Denken und Ausüben vorherrschend war.

Die Grundstruktur

Die Feier, die die Christen von Anfang an im Gedenken an das Letzte Abendmahl des Herrn gemeinsam begingen, hatte im Laufe der Zeit verschiedene Namen: «Eucharistia» (Dank), Herrenmahl, Messe, Messopfer. Die Gläubigen kamen zusammen, der Vorsteher sprach im Namen und gemeinsam mit der ganzen Gemeinde, es gab keine scharfe Trennung zwischen Klerikern und Volk, alle waren «Volk Gottes». Es begann mit dem Aufruf an alle, sich jetzt Gott zuzuwenden, mit der Bitte an den Vater, die Hingabe aller anzunehmen, und es wurden auch Gaben bereitgestellt, die die Engel vor Gott tragen mögen, der sie verwandle für das Volk. Am Anfang stand also die Selbsthingabe der Gläubigen, was sich im Laufe der Jahrhunderte wandelte zur Bereitstellung von stellvertretenden Gaben, sodass der Spender letztlich selber gar nicht mehr an der Messe teilnehmen musste, und die Gaben wurden im Verhältnis zu den Spendemöglichkeiten des Gebers gewertet; bei sehr Reichen waren das dann z. B. Ländereien.

Ursprünglich wurden die Abendmahlsworte gelesen, um die Leute daran zu erinnern, in welcher Kontinuität man stand mit der Gemeinschaftsfeier; dass dann die Worte speziell hervorgehoben wurden, liess die Teilnehmer glauben, genau hier vollziehe sich «die Wandlung», während die Orthodoxen und die katholischen Ostchristen bis heute wissen, dass sie nach dem Abendmahlsbericht Gott den Vater bitten müssen, er möge den Heiligen Geist herabsenden, der die Gaben wandle. Hindernd an einer wirklichen «Gemeinschaftsfeier» waren auch die aus allen Religionen bekannten kultischen Reinheitsgebote; die Reinheit der Gesinnung verschob sich auf die Reinheit von Blut und Sperma und anderen «Unreinlichkeiten», sodass Frauen sowieso keinen Zutritt zum Altar bekamen und die (verheirateten) Männer auch kaum mehr zutreten konnten; so wurde der Zölibat begründet und dann ab dem 11. Jahrhundert verpflichtend gemacht. Der allgemeine Kommunionempfang ging rapid zurück, es blieb nur noch der Zelebrant. Das Volk, begierig nach sichtbarer Teilnahme, konzentrierte sich auf die Erhebung der Hostie nach der «Wandlung», dann auf das «Ausgesetzte Allerheiligste» und die Fronleichnamsprozession. Insgesamt kann man davon sagen, dass sich eine Verschiebung vom geistigen zum materiellen Opfer, vom Vorgang hin zu punktuellen Elementen vollzog, wobei man die «gute Absicht» der Betroffenen nicht gleich in Frage stellen sollte.

Umbrüche, Abbrüche, Klimasturz

Der dauernde Wandel ist geradezu das Kennzeichen der Liturgie, und Angenendt ist nicht der erste, der dies mit unwiderlegbaren Argumenten aufzeigt. Der Altmeister der liturgischen Forschung, Josef Andreas Jungmann, hat neben seinem Grundlagenwerk «Missarum sollemnia»4 in einer dichten Darstellung «Christliches Beten in Wandel und Bestand»5 ganz klar von Klimawandel, Umbruch usw. gesprochen und gezeigt, wie die Liturgie der Kirche während langer Zeiten Irrwege ging. Angenendt schildert sie plastisch. Mehr und mehr wird die Messe ein Bitt- und Sühneopfer, von der sonntäglichen Gemeindemesse schwenkt man ein in die täglichen Gruppen- und dann die Privatmessen, die letztlich sogar ohne eine zweite Person gefeiert werden konnten. Man rutscht ins Stipendienwesen, das eigentlich zu einer Bezahlung der Messe wird, es wurden ganze Tariftabellen aufgestellt für die verschiedenen Sünden und die ihnen entsprechenden Opfergaben. Ob die Messe Mahl oder Opfer ist, beantwortet der Autor ganz einfach: beides.

Natürlich gab es Gegenströmungen, die Scholastik konnte mit ihrem Rationalismus einige Dämme aufrichten, hatte aber wenig Sinn für Geschichte, die Mystik führte zu einer innerlichen Frömmigkeit, die «Nachfolge Christi» des Thomas von Kempen aus dem breiten Strom der «Devotio moderna» heraus hat bis heute einen ungeheuren Einfluss. Man geriet in eine eigentliche Buchhalter- Mentalität, die Zahl der Messen und der gesungenen Psalmen in den Klöstern erreichte unerhörte Höhen, was bei aller subjektiv angestrebten Frömmigkeit nur im Leerlauf enden konnte. Die Unmenge der Priester musste beschäftigt, aber auch am Leben erhalten werden, die immer grösser werdenden Kirchen und Klöster brauchten Unterhalt, das ganze Wirtschaftssystem wurde, ausgehend von kirchlichen Gebräuchen, umgeschichtet. Von da aus gesehen ergibt sich eine veränderte Sicht auf die Anliegen der Reformation bei Luther, Zwingli und Calvin. Umgekehrt entstanden auf diese Weise die künstlerisch hervorragenden Bauten der Romanik, dann vor allem der Gotik und des Barock; die Klöster überlieferten die Kultur weiter (aber für das Pergament einer Vollbibel mussten 250 Schafe geschlachtet werden), das Bildungswesen stieg ständig, für Kranke und Arme wurde gesorgt wie in keiner anderen Religion, eine grundlegende Ethik verbreitete sich langsam.

Sachte Ansätze einer Reform

Trotz des Buchtitels beschränkt sich Angenendt nicht auf das Mittelalter, er skizziert die Geschichte der Messe von Anfang an und greift bis in die Neuzeit. Im Grunde sind wir ja liturgisch und dogmatisch weitgehend bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil im oben geschilderten Mittelalter geblieben. Aber es gab früh Ansätze zu einer Reform.

Die Liturgische Bewegung braucht hier nicht eigens erwähnt zu werden, die alles Folgende vorbereitete. Ich erinnere nur etwa an die Auswahl aus der «Summa Theologica», die Josef Pieper mit seinem unnachahmlichen Deutsch unter dem folgenreichen Titel «Das Herrenmahl» schon 1937 vorgelegt hat, womit sich ein Begriff einprägte, der wegleitend sein sollte.6 Der gleiche Thomas-Interpret sammelte einzelne prägende Aussagen des grossen Theologen in einem lateinisch-deutschen «Thomas-Brevier».7 Darin bemerkt man eine seltsame Unterlassung des Übersetzers, damals kaum bemerkt, heute brisant. Es ist die Rede von der Konsekrationsformel in der Messe, von der Thomas von Aquin sagt «profertur quasi ex persona Christi», was so übersetzt ist: «[Die formgebenden Worte dieses Sakramentes aber] werden gesprochen von der Person Christi selbst her» – ohne das «quasi» = «gleichermassen, sozusagen».

Die Schlussfolgerungen ergeben sich eigentlich von selbst, auch für künftige sanfte Verbesserungen der Eucharistiefeier.

1 LThK2 Das Zweite Vatikanische Konzil, Band I. Freiburg-Basel-Wien 1966, 13.

2 Arnold Angenendt: Offertorium. Das mittelalterliche Messopfer. 2. durchgesehene Auflage, (Aschendorff Buchverlag) Münster 2013, 532 S. (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 101).

3 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 11997 / 42009, 986 S.

4 Untertitel: Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 2 Bände. Freiburg- Basel-Wien 11948 / 51962; dazu auch: Messe im Gottesvolk. Ein nachkonziliarer Durchblick durch Missarum Sollemnia. Freiburg-Basel- Wien 1970.

5 München 1969, 200 S.

6 Thomas von Aquin: Das Herrenmahl. Übertragen von Josef Pieper. Leipzig 1937, 106 S.

7 Zusammengestellt, verdeutscht und eingeleitet von Josef Pieper. München 1956, 490 S.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).