Ikone des Kampfes zwischen Licht und Dunkel

Er war einer der einflussreichsten Countrysänger und Songschreiber. Doch wenig ist bekannt über seinen spirituellen Tiefgang. Unerwartete Einsichten zu Johnny Cash, dessen Todestag sich am 12. September zum 15. Mal jährt.

Johnny Cash (1932–2003) lebte ein Leben der Extreme. (Bild: Andy Earl)

 

Es ist der 4. Dezember 1956 in Memphis/Tennessee. Eine ungeplante Begegnung irgendwo im Süden der USA und eine Musiksession, die zur Legende wird. Später werden viele sagen, dass hier in Memphis bei den Sun Records der Rock  'n' Roll geboren wurde. Mit dabei ist neben Carl Perkins, Elvis Presley und Jerry Lee Lewis auch Johnny Cash. Das berühmte Foto des Quartetts am Klavier wird im Laufe der Jahrzehnte zum Symbol für die Geburtsstunde all dessen, was vereinfacht unter dem Begriff Rockmusik zusammengefasst wird.

Ein Stück Zeitgeschichte, am Mischpult mitgeschnitten von Sam Phillips, einem der einflussreichsten Produzenten des Rockabilly und Rock 'n' Roll. Was die Musikwelt bei der erst 25 Jahre später erfolgten Veröffentlichung der Bänder überrascht: Es ist zu einem grossen Teil religiöse Musik (Gospel: «good spell»), die da aufgezeichnet wurde. Es sind religiös geprägte Menschen, die zu den ersten gehören, die das verkörpern, was wir heute Rockstars nennen. Jeder dieser vier Musiker tappt sehr bald in die Fallen des Musikbusiness. Jeder von ihnen wird süchtig nach Ruhm, lebt sein Leben auf exzessive Weise, stürzt und steht wieder auf. Als Söhne evangelikal geprägter Familien kennen sie nur zu gut die Angst vor der ewigen Verdammnis und ringen hart um die Hoffnung auf Erlösung. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte mit Gott, seine ganz persönliche Bekehrungsgeschichte voll von Rückschritten und Neuanfängen.

Verhaftet, verloren, verdammt …

Johnny Cash erzählt nur zu gern die Geschichte des ersten Songs, den er sich erinnert, jemals gesungen zu haben: «Bound for the Promised Land». Damals als Dreijähriger habe er ihn gesungen, mit den Brüdern zusammengekauert auf der Ladefläche eines Pritschenwagens, der die Familie Cash auf einer mühevollen Reise aus der bitteren Armut von Kingsland in ein neues, erträgliches Leben unter den Baumwoll-Farmern von Dyess/Arkansas bringen sollte (vgl. Cash / Carr 24 und Hilburn 14 f.). Harte Arbeit; Naturkatastrophen und Gewalt; das Trauma und die lebenslange Trauer um den verehrten Bruder Jack, der durch einen Unfall im Sägewerk von Dyess ums Leben kam; seelische Grausamkeit, die er durch den eigenen Vater erleben musste – «jammerschade, dass es nicht du warst anstelle von Jack» (Hilburn 33) –, Verletzungen, die er geliebten Menschen zufügte; Konflikte mit dem Gesetz; Autounfälle; Schicksalsschläge im Freundeskreis; Phasen beruflichen Misserfolges; spirituelle Anfechtungen und religiöse Ängste; seelische Leiden und in den letzten Lebensjahren vor allem körperliche Schmerzen – all das gehört zu Cash.

Über all das kann er schreiben und singen. Erfahrungen von Dunkelheit, die es ihm ermöglichen, den Traurigen, Ausgegrenzten, Gestrauchelten und Unterdrückten eine Stimme zu verleihen. «I shot a man in Reno just to watch him die» oder «Early one morning while making the rounds, I took a shot of cocaine and I shot my woman down»: beklemmende Zeilen, die Cash schreibt, lange bevor an Gangsta-Rap zu denken ist.

Im Oktober 1965 drucken Hunderte von Zeitungen weltweit das Bild eines in Handschellen gelegten Cash. Begleitet von zwei US-Marshalls steht er gedemütigt vor einem Gerichtsgebäude, nachdem er am Tag zuvor am El Paso Interna- tional Airport wegen Drogenbesitzes verhaftet worden ist. Eine Drogenabhängigkeit, die nun öffentlich wird und die – anders als es Mangolds Film «Walk the Line» suggeriert – auch die Ehe mit June Carter bis zu deren Tod 2003 immer wieder vor grosse Herausforderungen stellt.
Vor diesem Hintergrund wirkt Cash absolut glaubwürdig, als er vor Strafgefangenen auftritt – ein Hirte, der den Geruch der Schafe angenommen hat. Seine Konzertmitschnitte aus Folsom und später San Quentin sorgen für Furore. Auch veröffentlicht er in den 1960ern anspruchsvolle, sozialkritische Alben zur Historie Amerikas, zum Umgang mit den Indianern und zur Geschichte der Arbeiter.

Lange Zeit produziert Cash Hit um Hit, wird schon zu Lebzeiten zur Country-Legende. Doch lässt sich eine gewisse Verflachung seiner Kunst seit den 1970ern nicht leugnen. Etliches liefert er recht uninspiriert ab, hingegen tendiert seine musikalische Leidenschaft in Richtung eines religiösen Eifers (Hilburn 520). Cash tritt bei evangelikalen Crusades seines spirituellen Mentors Billy Graham auf, versieht seine TV-Show (1969–1971) mit geistlichen Themen, dreht in Israel einen Jesus-Film (1973) und schreibt einen Roman über den Apostel Paulus (1986). Cash steht mehr und mehr für die traditionellen Werte Amerikas, für Rechtgläubigkeit und heile Familie. «Seiner Kunst geht allmählich die rebellische Note ab» (Hilburn 521). Zwar treibt ihn weiterhin eine rastlose Seele an – «er ist gleichzeitig auf hell erleuchteten Wegen und in den dunklen Gassen unterwegs» (Thomson 72) –, doch es gelingt ihm nicht, seiner Zerrissenheit musikalischen Ausdruck zu verleihen. Seine Kunst verliert zunehmend an Tiefe und Fokus. Cash gerät in eine künstlerische Abwärtsspirale. Selbst Columbia Records verlieren schliesslich die Geduld und kündigen dem einstigen Erfolgsgaranten nach Jahrzehnten den Vertrag. Cash ist verunsichert und deprimiert.

Ecce homo

Da begegnet Cash Anfang der 1990er-Jahre dem knapp 30 Jahre jüngeren Rick Rubin, der sich als unkonventioneller Produzent einer neuen Generation von Musikern bereits einen Namen gemacht hat. Seit Cash ihm seine Version des Songs «Delia’s Gone» vorgetragen hat, meint Rubin, den Hebel gefunden zu haben, um das verschüttete Potenzial des Altmeisters freizulegen. Der Song erzählt eine Geschichte von äußerster Brutalität – und Reue: Ein wegen Mordes Verurteilter findet keinen Schlaf, da ihn die Bilder seiner grausamen Tat heimsuchen. Um sich am Betrug durch seine Frau zu rächen, bindet er diese an einen Stuhl, schiesst ihr mit einer Pistole in die Seite, bleibt sodann aber nicht unberührt vom Leiden der qualvoll Sterbenden und erlöst sie schliesslich durch einen zweiten Schuss. Hier ist sie wieder spürbar, die dunkle, harte, aber auch verletzliche Seite Cashs – Cash pur!

«Auch die übrigen auf dem Album versammelten Songs, die von Cash mit rauer Stimme zur akustischen Gitarre gesungen werden, lassen in die dunklen Ecken der amerikanischen Seele schauen» (Kritik der Los Angeles Times nach Hilburn 687). Selbst wenn dem Album von 1994 (wie auch American Recordings II und III) zunächst kein grosser kommerzieller Erfolg beschieden ist, so wird es doch hervorragend besprochen und prämiert. Cash spürt die neue Wertschätzung seiner Kunst und setzt die Zusammenarbeit mit Rubin trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme bis zu seinem Lebensende fort.

Eine aussergewöhnliche Coverversion markiert schliesslich einen Höhepunkt der fruchtbaren Zusammenarbeit des ungleichen Duos: «Hurt». Der reichlich verstörende Text erzählt von einem älteren Menschen, der voller Gewissensbisse Rückschau auf sein Leben hält. Rubin gibt dazu ein Musikvideo in Auftrag. Da es Cashs Gesundheitszustand nicht anders zulässt, muss das Video in seinem Haus gedreht werden. Szenen, in denen Cash Gitarre oder Klavier spielt, wechseln mit solchen, in denen verstaubte oder ramponierte Gegenstände seines ruhmreichen Lebens präsentiert werden, aufgenommen im verwahrlosten, noch zu seinen Lebzeiten bereits wieder geschlossenen House-of-Cash-Museum. So verweisen die zerbrochenen Glasscheiben seiner gerahmten Goldenen Schallplatten auf die Vergänglichkeit des irdischen Ruhms. Der Lebens- rückblick wird im Clip zudem durch kurze Film- sequenzen realisiert, die Cash auf dem Höhepunkt seines Schaffens zeigen. Gerade der Kontrast zwischen dem äusserst gebrechlich wirkenden Cash und dem vitalen Selbst früherer Zeiten geht unter die Haut.

In einer Szene sitzt Cash an einem übervoll gedeckten Bankett, greift einen Weinbecher und vergiesst den Inhalt auf dem Tisch. Schliesslich hämmert er auf den Tasten des Klaviers, so als begleiteten die Töne das Einschlagen der Nägel bei der Kreuzigung Jesu, die anhand von Sequenzen aus seinem Film ««The Gospel Road» dargestellt wird. Besonders bewegend ist der kurze Auftritt von June Carter, die sichtlich gerührt auf der Treppe stehend von oben auf ihren geliebten Mann blickt. Wie wir heute wissen, hatte sie am Vortag des Drehs erfahren, dass sie selbst unheilbar erkrankt ist. «Es ist eine schockierende Dosis Sterblichkeit, die wir hier vorgeführt bekommen» (Romanek nach Hilburn 751).

Mit seinen teils erst nach Cashs Tod (2003) veröffentlichten Aufnahmen der American Recordings I–VI und dem famosen Schlussakkord des «Hurt»-Videos sichert und erweitert Rubin das bedrohte künstlerische Vermächtnis Cashs – und wird zum generationsübergreifenden Ikonografen einer Legende. «Die aufgenommenen Songs, ob von Cash selbst geschrieben oder gecovert, zeigen das schwärzeste Schwarz und das weisseste Weiss, seinen ewigen Zwiespalt, den er sich bis zum Ende von der Seele singen musste» (Thomson 210).

Die wandernden Verwundeten

Wenn uns Ikonen etwas über das Leben, über die Gegenwart Gottes unter den Menschen nahebringen und wirklich greifbar machen können, ist Cash wohl am ehesten eine Ikone des Kampfes zwischen Licht und Dunkel. Seine Kunst wählt die Themen «Love», «God», «Murder» (Albumtrilogie von 2000) und zielt auf den Homo Viator, der auf seiner Wanderschaft Liebe und Glauben sucht – aber immer wieder vom richtigen Weg abkommt. «We are the walking wounded» (Johnny Cash in Muldoon, 125 f.): Wir sind die wandernden Verwundeten. «Und viele sind wir» – so Cash in einem posthum veröffentlichten Text aus den 1970ern. Tochter Rosanne hat ihn jüngst auf dem von ihrem Halbbruder John Carter Cash produzierten Album «Johnny Cash: Forever Words – The Music» (2018) zu einem berührenden Song ausgestaltet.

Dunkel und geerdet

Cashs Gotteslob klingt nicht hell und engelsgleich, sondern dunkel und geerdet. Wir hören Country. Wie Johannes der Täufer hat Cash eine Menge Zeit in der Wüste verbracht. «Seine Stimme hat jedenfalls definitiv mit Heuschrecken und Honig zu tun» (Bono nach Hilburn 784).

Wer sich von der modernen Ikone Johnny Cash («one oft he icons of our time and culture» [Dan Haseltine in Urbanski VII]) berühren lässt, hat Anteil am Kampf zwischen inneren Abgründen und guten Sehnsüchten, zwischen den dunklen Seiten der menschlichen Seele und dem Licht des Glaubens.

Jürgen Brinkmann und Björn Mrosko

 

Mit freundlicher Genehmigung:

∙ Jürgen Brinkmann/Björn Mrosko, Der mit den Verdammten singt: Johnny Cash. Erstveröffentlichung in: Katechetische Blätter, 142 Jg., Heft 6, © Matthias Grünewald Verlag in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2017, Patmos Verlagsgruppe.

∙ Jürgen Brinkmann/Björn Mrosko, Der mit den Verdammten singt: Johnny Cash. In Stimmen der Zeit, Heft 143-2018, Verlag Herder, unter www.herder.de/stz/hefte/archiv kostenpflichtig zum Download bereit.

Jürgen Brinkmann und Björn Mrosko

Jürgen Brinkmann ist Seelsorger und Lehrer für Religion und Deutsch an der Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg.

P. Björn Mrosko SJ ist geistlicher Leiter der Katholischen Studierenden Jugend Hamburg sowie Schlagzeuger in diversen Country- und Rockabilly-Bands.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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