«Ich würde die Enzykliken des Papstes lesen»

Christian Levrat engagiert sich als Ständerat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) für eine sozialere und gerechtere Schweiz. Was ihn aktuell beschäftigt, erzählt er im Interview mit der SKZ.

Christian Levrat (Jg. 1970) war während zwölf Jahren Präsident der Sozialdemokratische Partei der Schweiz. 2003 wurde er in den Nationalrat gewählt, seit 2012 ist er im Ständerat.

 

SKZ: Sie waren zwölf Jahre lang Präsident der SP. Wo und wie haben Sie die Partei geprägt?
Christian Levrat: Ich möchte zwei Elemente herausnehmen. Ich habe einen klaren Fokus auf die sozialen und wirtschaftlichen Fragen gelegt, sowohl ausserhalb des Parlaments z. B. mit Volksinitiativen sowie im Parlament, wenn es z. B. darum ging, für wirksame flankierende Massnahmen oder für eine gerechte Steuerpolitik zu kämpfen. Dieser Fokus auf soziale und wirtschaftliche Fragen ist mir sehr wichtig und hier ist auch die historische Rolle der SP in der Schweizer Demokratie. Diese Rolle droht immer wieder aus dem Blick zu geraten und deshalb ist es erforderlich, eine Parteileitung zu haben, die relativ strikt darauf fokussiert. Daneben war es mir immer ein Anliegen, die Partei als eine wirksame Bewegung zu positionieren, der es gelingt, innerhalb von wenigen Wochen ein Referendum zu ergreifen oder eine Kampagne auf die Beine zu stellen und zu gewinnen. Den letzten Tatbeweis dafür haben wir im September bei der Abstimmung über die Kinderabzüge erbracht. Es ist für die konkrete politische Arbeit sehr wichtig, dass die Position der SP nicht als «nice to have» gesehen wird, sondern als konkrete Forderung, die wir notfalls per Volksabstimmung durchsetzen.

Was konnten Sie als Politiker noch nicht erreichen?
Das Thema der Ausländerpolitik begleitete mich von meiner ersten Anstellung bei der Caritas Schweiz, danach als Leiter des Rechtsdienstes der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bis hin zur politischen Arbeit. Hier haben wir als Partei nie die richtigen Worte gefunden und sind nach wie vor in einer schwierigen Minderheitsposition. Ein Teil der Bevölkerung versteht unsere Haltung nicht. Viele möchten, dass wir die Grenzen schliessen und eine härtere Ausländerpolitik betreiben. Es ist schwierig, die Leute davon zu überzeugen, dass wir in der Migrationspolitik einen menschlich offenen Kurs fahren müssten – das erfahren die Kirchen genau gleich. Es geht nicht darum, alle Ausländerinnen und Ausländer aufzunehmen, sondern darum, jene, die hier sind, würdiger zu behandeln und in ihnen in erster Linie Menschen zu sehen und sie nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Das ist in all den Jahren nicht gelungen. Die Migrationsfrage hat in der öffentlichen Diskussion eine Dimension, die sie nicht unbedingt haben müsste; man könnte das Ganze viel nüchterner angehen, aber offensichtlich gelingt es nicht.

Welches sind Ihre wichtigsten politischen Anliegen für die Zukunft?
Was jetzt unmittelbar nötig ist, ist eine vernünftige Antwort auf die durch Covid-19 verursachten Probleme. Es kann nicht sein, dass eines der reichsten Länder der Welt weder gesundheitspolitisch noch wirtschaftspolitisch in der Lage ist, die Menschen zu unterstützen. Wir haben praktisch durch ganz Europa gesehen die höchste Anzahl an Toten und gleichzeitig den höchsten wirtschaftlichen Schaden. Diese Situation wird über diese Wochen hinaus Spuren hinterlassen. Für mich ist klar: Die Antwort lautet Solidarität. Wir müssen uns intensiver mit der Gesundheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger beschäftigen und gleichzeitig die wirtschaftliche Unterstützung ausbauen, um zu verhindern, dass es zu massivem menschlichem Leid kommt. Es wird sehr viel von den Unternehmen gesprochen, doch dahinter stehen Menschen: nicht nur die Unternehmerinnen und Unternehmer, sondern auch Angestellte, die ihre Stellen verloren haben. Ein anderes Anliegen ist die Klimadiskussion. Diese wird im Moment ein wenig verdrängt, aber die Probleme bleiben. Wir müssen die wichtige Abstimmung über das CO2-Gesetz gewinnen. Das Gesetz ist sehr moderat und ein sehr vorsichtiger schweizerischer Kompromiss, doch es ist der erste Schritt, der gemacht werden muss, um die klimapolitischen Ziele des Pariser Abkommens zu erfüllen. Das dritte Anliegen sind die Sozialversicherungen. Wir hatten mit der «Altersvorsorge 2020» ein Projekt auf den Tisch gelegt, das funktioniert hätte; leider wurde es von der Bevölkerung abgelehnt in einer unheiligen Allianz zwischen denjenigen, die fanden, es ginge zu weit, und denjenigen, die der Meinung waren, dass das Rentenalter der Frau nicht erhöht werden kann. Jetzt braucht es eine neue, mehrheitsfähige Lösung. Ich persönlich bin gegen Leistungsverschlechterungen inklusive Erhöhung des Rentenalters der Frau, aber wir müssen einen Kompromiss finden. Und ich hoffe, dass es bis zum Ende dieser Legislatur gelingen wird.

In sozialen Fragen sind sich die SP und die Katholische Kirche oft einig. Könnte hier mehr zusammengearbeitet werden?
Das ist eine Frage, die in erster Linie die Kirche beantworten muss. Dahinter steht die Frage des gesellschaftlichen Engagements der Kirche. In der Auseinandersetzung, die nach der KVI-Abstimmung im Gang ist, gehöre ich zu denen, die hoffen, dass sich die Kirche engagiert. Ich kann mir aufgrund des Neuen Testaments kaum vorstellen, dass die Kirche zum Schluss kommt, dass sie in der Gesellschaft nichts zu suchen hat. Aber es gibt in der Kirche auch andere Kräfte. Wir waren aber immer froh um die klaren Stellungnahmen der Kirche gerade im Migrationsbereich. Im Engagement zugunsten der sozial Schwächsten ist die Stimme der Kirche eine wichtige. Hier spielen auch die Hilfswerke eine grosse Rolle. Ich bin selber praktizierender Katholik und mir ist das soziale Engagement der Kirche in gesellschaftlichen Fragen wichtig. Ich bin überzeugt, dass die Kirche Seite an Seite mit jenen Menschen stehen muss, die in ihrem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. Aus diesem Grund finde ich die Schriften der Päpste Johannes Paul II. und Franziskus hoch interessant. Ich habe nie wirklich verstanden, warum die Kirche so viel Zeit und Energie mit Fragen zur Sexualität und Moral verliert. Ich habe den Eindruck, diese helfen niemanden. Hingegen kann die Kirche durch klare Stellungnahmen in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Ordnung sehr viel Gutes tun.

Hätten Sie einen Tipp für die Katholische Kirche für die Zukunft?
Ich würde die Enzykliken des Papstes lesen. Dort ist die Marschrichtung relativ klar. Es gibt Dinge, über die ich immer wieder den Kopf schüttle: Ich leite einen weltweiten Ausschuss, der sich im französischsprachigen Raum um Fragen im Zusammenhang mit Aids kümmert. Da ist die Kirche nicht immer hilfreich. Aber ich finde, dass die Kirche zu ihren Werten stehen und sich auch in gesellschaftlich schwierigen Fragen engagieren soll. Das ist, was ich mir wünschen würde.

Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin als Katholik aufgewachsen, hatte den verstorbenen Bischof Bernard Genoud als Philosophielehrer am Gymnasium und besuchte parallel zum Jusstudium in Freiburg Philosophievorlesungen. Ich bin so in einem «Thomisten-Umfeld» aufgewachsen. Ich habe diese Leute immer bewundert, und auch wenn ich nicht alle ihre Schlussfolgerungen teile, finde ich die Stringenz, mit der die Thomisten argumentieren, sehr beeindruckend. Heute bin ich eher ein sozial engagierter Mensch und habe in erster Linie Kontakt mit diesem Teil der Kirche. Während meiner Tätigkeit bei der Caritas hatte ich viele Kontakte zu den katholischen und reformierten Pfarreien in Freiburg; wir haben gemeinsam Migrationsprojekte aufgebaut. Ich habe heute noch Freunde, die in der Kirche arbeiten, daraus ergeben sich spannende Diskussionen. Ich kann es so zusammenfassen: Ich war schon sehr früh einer derjenigen, die von linker Seite Papst Johannes Paul II. verteidigt haben. Während andere über seine moralische Position tobten, bewunderte ich immer seine Weltsicht und sein Engagement für die sozial Schwächsten sowie seinen Einsatz für eine stärkere Solidarität mit dem Süden. Es war nicht selbstverständlich, dass er als Pole zu dieser Haltung gekommen ist. Ich gehöre zu denen, die davon überzeugt sind, dass heute Papst Franziskus der Kirche sehr viel Gutes tut. Es war auch notwendig.

Was ist der Privatperson Christian Levrat wichtig?
Wahrscheinlich meine Verankerung in einer Region. Ich lebe in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Ich muss durch meine Arbeit und meine Aufgaben im Parlament sehr viel in der Schweiz und in der Welt herumreisen. Am Ende ist meine Verankerung im Freundeskreis, im Bekanntenkreis und in meiner Nachbarschaft für mich zentral. Ich werde dort nicht als Politiker wahrgenommen. Und gerade dieses Umfeld leidet während dieser Corona-Krise. Die zufälligen und spontanen Treffen, die es in einem Dorf gibt, fallen weg. All diese etwas weiteren Kontakte sind mir sehr wichtig. Dies ist mir nach fast einem Jahr unter Corona-Bedingungen noch klarer geworden.

Interview: Rosmarie Schärer
 

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