Heilsames Gegenprogramm

Die Regula Benedicti ist seit Jahrhunderten die Grundlage monastischer Orden. Und hat nach Meinung von Thomas Englberger, Kanzler des Bistums St. Gallen, bis heute nichts an Aktualität eingebüsst.

Sieht man einmal vom Koran ab, hat wohl kein Text, der in spätantiker Zeit entstand, so sehr Geschichte geschrieben und nachfolgende Jahrhunderte geprägt wie die Mönchsregel des Benedikt von Nursia. Benedikts Regel, verfasst um das Jahr 540, ist weder die früheste noch die einzige Zusammenstellung von Anweisungen für das gemeinschaftliche Mönchsleben. Dennoch hat keine der vorausgegangenen oder der nachfolgenden Ordensregeln den lateinischen Westen der Christenheit auch nur annähernd so stark beeinflusst wie die Regula Benedicti. Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa war so von der benediktinischen Kultur durchdrungen, dass man ihren Verfasser nicht zu Unrecht als «Vater des Abendlandes» bezeichnet hat.

Eine Gemeinsamkeit der Regel Benedikts und des Koran besteht darin, dass sie seit frühesten Zeiten und bis heute rezitiert werden. Die Regel soll zwar auch gelesen, vor allem aber vorgelesen werden. Die Eröffnungsworte legen es nahe: «Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens!»1 In Klöstern der benediktinischen Tradition ist es üblich, bei den Mahlzeiten als Teil der Tischlesung Tagesabschnitte aus der Regel zu hören. Die Speise für den Körper ergänzt die Nahrung für den Geist. Statt bei Tisch über die Bedeutung des Gehörten zu diskutieren (was ausdrücklich untersagt wird), geht es darum, sich schweigend beim Zuhören imprägnieren zu lassen.

Durch seinen tagtäglichen Gebrauch soll ein Text die formen, die ihn hören. Wie ein Musikstück, das durch seine Aufführung stets frisch klingt (und sei es auch jahrhundertealt), überspielt die Rezitation der Worte den Graben, der Gegenwart und Entstehungszeit trennt. Die Zuhörenden fühlen sich unmittelbar angesprochen. Darüber könnte man beinahe vergessen, wie sehr die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zur Zeit Benedikts sich von den heutigen unterscheiden. Die Regula Benedicti erlebte daher (auch darin dem Koran nicht unähnlich) im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Versuche, sich durch strikt wörtliche Befolgung in die Ursprungszeit zurückzuversetzen. Die Reform des Mönchtums erlag nicht der reaktionären Versuchung. Die Zisterzienser sind dafür das berühmteste Beispiel, die Trappisten das radikalste.

Ob die rigorose Einhaltung des Wortsinns wirklich die Autorität eines geistlichen Textes beweist, kann man hinterfragen. Sogar, ob jahrhundertealte Anweisungen überhaupt mehr sein können als literarische Zeugnisse einer untergegangenen Epoche. Gewiss ist aber, dass wir heute in einer global vernetzten Kommunikationsgesellschaft mit sich permanent gegenseitig überschreibenden Neuigkeiten, zur Schau gestellten Meinungen und gnadenlosen Urteilen längst nicht mehr nur einem Text ausgesetzt sind, der auf uns einwirkt. Statt die Seele zu formen, von der zu reden überhaupt aus der Mode gekommen ist, formatieren wir Datenträger. In jener Sintflut der Informationen, in der wir unterzugehen drohen, und einem nie verstummenden Stimmengewirr böte jedenfalls die Benediktregel mit ihren klar bemessenen Zeiten des Lesens, des Hörens, des Sprechens und des Schweigens ein heilsames Gegenprogramm.

Thomas Englberger


Thomas Englberger

Thomas Englberger (Jg. 1966) arbeitete einige Jahre am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) sowie im Pastoralamt des Bistums St. Gallen. Nach zehn Jahren im Ausland kehrte er im September in die Schweiz zurück und ist seither bischöflicher Kanzler in St. Gallen. (Bild: Nicole Schilling)