Hans Jonas und die Bioethik

Am 5. Februar 2013 jährte sich, leider ohne grosse mediale Resonanz, der Todestag des Philosophen zum 20. Mal. Sowohl die Probleme, mit denen er sich beschäftigte, als auch seine Lösungsansätze haben bis heute nichts an Aktualität eingebüsst, wie ich in dieser kleinen Hommage aufzeigen möchte.

Die fundamentale Auseinandersetzung mit der modernen Technik bildet den Hintergrund des Jonas’schen Entwurfs einer neuen, verantwortungsbasierten Ethik.1 Sie findet zunächst auf dem Gebiet der Medizin Anwendung, genauer in den von Jonas so genannten «Techniken des Todesaufschubs» und der künstlichen Befruchtung. Im ersten Teil gehe ich auf das Lebensende, im zweiten Teil auf den Lebensanfang ein.

Das Recht auf den würdigen Tod

Jonas spricht sich für ein «Recht auf einen würdigen Tod» aus. Er versteht darunter aber nicht wie gemeinhin die Zulässigkeit des aktiven ärztlichen Eingreifens, um das Leben eines Sterbenden zu beenden, der bei Bewusstsein darum bittet. Jonas ist somit gegen eine so verstandene Euthanasie, vor allem weil er sie mit dem Ethos des Arztberufs für unvereinbar hält.

In welchem Sinn spricht er dann von einem «Recht zu sterben»? Für Jonas beinhaltet dieses zunächst, den eigenen, unmittelbar bevorstehenden Tod erfahren zu können. Dem Sterbenden muss ermöglicht werden, dem Tod ins Gesicht schauen zu können, wenn er für ihn Wirklichkeit wird – und ihm auf je eigene Art und Weise zu begegnen, weil der Tod keine Schmähung des Lebens ist, sondern zum Leben gehört.

Jonas schreibt: «Etwas vom Geiste des katholischen Sterbesakraments ist hier in die ärztliche Ethik übersetzbar: Der Arzt sollte bereit sein, den wesentlichen Sinn des Todes für das endliche Leben zu ehren (entgegen seiner modernen Entwürdigung zu einem unnennbaren Missgeschick), und einem Mitsterblichen nicht sein Vorrecht versagen, zum herannahenden Ende in ein Verhältnis zu treten – es sich auf seine Weise anzueignen, sei es in Ergebung, Versöhnung oder Auflehnung, jedenfalls aber in der Würde des Wissens.»2

Die Würde, von der Jonas hier spricht, ist kein normativer Begriff («eine Angelegenheit im Felde nicht des Tuns, sondern des Seins»), sondern der weltliche Begriff für etwas Religiöses, das im Katholizismus seinen Ausdruck im Sakrament der «letzten Ölung» gefunden hat.3 Freilich wird damit das bioethische Problem der Euthanasie nicht gelöst. Es ist jedoch bezeichnend, dass Jonas seine Überlegungen mit diesen Gedanken beginnt.

Wenn er, wie gesagt, nicht für die Euthanasie eintritt, bedeutet das nicht, dass er dem Patienten das Recht abspricht, über sein Leben zu verfügen: «Es ist offenbar etwas anderes, einen hoffnungslos Kranken und Leidenden dazu zu zwingen, sich weiterhin einer Erhaltungstherapie zu unterziehen, die ihm ein Leben erkauft, das er nicht des Lebens wert erachtet. Niemand hat das Recht, geschweige die Pflicht, dies jemandem in lang hingezogener Verneinung der Selbstbestimmung aufzuzwingen.»4 Hier taucht implizit eine andere Bedeutung von «Würde» auf, nicht mehr eine ontologische, sondern eine normative.

Die Entscheidungsfreiheit des Patienten muss respektiert werden. Ohne seine freie und bewusst geäusserte Zustimmung darf keine medizinische Behandlung an ihm erfolgen, auch wenn dies tödliche Konsequenzen hätte. Aus dem bereits erwähnten Grund darf der Arzt aber den Tod eines Patienten nicht direkt herbeiführen. Wie wäre es aber, wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstsein wäre und dieses endgültig nicht mehr wiedererlangen könnte?

Der Degradierung ein Ende setzen

In diesem Fall hält Jonas den Abbruch der medizinischen Behandlung für gerechtfertigt: Einen Patienten, welcher sein Bewusstsein definitiv verloren hat, sterben zu lassen, bedeutet nur, der «Degradierung» ein Ende zu setzen, welcher ihn das «aufgezwungene Fortbestehen» aussetzt.5 Um das zu bewahren, was eine Person einmal war – was heute durch die technischen Mittel der Medizin und den aufgeschobenen Tod vernebelt zu werden droht –, hält Jonas einen Behandlungsabbruch nicht nur für zulässig, sondern sogar für geboten.

Damit geht er noch über das hinaus, was schon Papst Pius XII. in seiner berühmten und m. E. noch aktuellen Ansprache an Anästhesisten geäussert hat.6 Auch wenn der Begriff nicht ausdrücklich erwähnt wird, wird hier die Würde als unbedingtes Prinzip verstanden, das über der Selbstbestimmung, ja sogar über dem Leben steht. Wenn das Weiterleben eines Patienten objektiv entwürdigend erscheint, zwingt uns gerade jene Idee von Menschlichkeit, ihn sterben zu lassen.

Diese Überlegung ist sicherlich von allgemeiner Tragweite (und könnte vielleicht auch auf Fälle von dauerhaftem Wachkoma und von Neugeborenen mit schweren Missbildungen ausgedehnt werden). Im zitierten Abschnitt bezieht sich Jonas aber ausdrücklich nur auf den klinischen Zustand des so genannten «Hirntodes». Bekanntlich war Jonas der erste bedeutende Kritiker dieser Neudefinition des Todes. Er war gegen diese neue Methode, den Tod auf Basis neurologischer Kriterien zu definieren, weil er sie für ad hoc ausgedacht hielt: zur Rechtfertigung der bestehenden Praxis der Organentnahme an Patienten, welche zwar in eine «Zwielichtzone» zwischen Leben und Tod eingetreten, aber noch nicht tot sind.

Als Jonas seine Kritik erstmals formulierte, war die neue Definition gerade erst eingeführt worden, und so war seine Position sofort against the stream (was er umgehend erkannte und seinen Beitrag so betitelte). Nach 40 Jahren ist ein Grossteil dieser Kritik von der Wissenschaftsgemeinschaft im Prinzip aufgenommen worden, auch wenn sie nicht aufhört, die Gültigkeit des neurologischen Todeskriteriums in der öffentlichen Meinung zu verbreiten, weil die Transplantationstätigkeit auf ihm beruht.7

Jonas bemerkte zutreffend: «Die Feigheit der modernen Säkulargesellschaft, die vom Tode als dem unbedingten Übel zurückschreckt, braucht die Versicherung (oder Fiktion), dass er schon eingetreten sei, wenn die Entscheidung zu treffen ist.» So vergisst man jedoch, «dass der Tod seine eigene Richtigkeit und Würde haben kann und der Mensch ein Recht darauf, dass man ihn sterben lässt.»8

Organentnahme an Hirntoten

Hier kehrt das bereits ausgemachte Motiv wieder: der Respekt der Würde des Todes im Gegensatz zu dem, was wir heute als «lebensverlängernde Massnahmen» bezeichnen. Aber warum ist Jonas – obwohl er in diesem Fall den Behandlungsabbruch für zulässig, ja sogar für geboten hält – gleichzeitig dezidiert gegen die Organentnahme in diesem Stadium? Wenn der Patient in diesem Zustand noch lebt, dann tötet ihn gerade die Organentnahme: Die menschliche Abscheu dem Töten gegenüber und die Gesetzgebung müssten die Organentnahme bei schlagendem Herzen eigentlich verbieten.

Jonas ist sich durchaus bewusst, dass der «Hirntote» bereits in den Sterbeprozess eingetreten ist und dass man die Tötung eines Sterbewilligen nicht auf die gleiche Stufe stellen darf wie den Eingriff zur Organentnahme an einem Hirntoten. Trotzdem hält er einen Körper im irreversiblen Koma für unverletzbar, und dessen Unverletzlichkeit «gebietet, dass er nicht als blosses Mittel benutzt wird». Hier wird der Begriff der Würde wieder anders gebraucht, nämlich in der Tradition Kants und dessen Formulierung des kategorischen Imperativs. Demnach sollen wir die eigene Person und diejenige jedes anderen «jederzeit (…) als Zweck, niemals bloss als Mittel»9 behandeln. Auch wenn mit der Rettung anderer Patienten einem vornehmen Zweck gedient würde, behandelte man den Hirntoten als Mittel und verletzte deshalb dessen Würde.

Diese Konsequenz scheint unwiderlegbar zu sein. Aber vielleicht ist sie es doch. Sicherlich wird der Organspender auf den ersten Blick gleichsam «verdinglicht». Wenn sich jedoch der damit verfolgte Zweck mit dem Willen des Patienten decken würde, dann wäre er nicht mehr das schiere Mittel, sondern würde sich selbst des verfolgten Zwecks bemächtigen. Was sonst eine «Verdinglichung» wäre, vermöchte das Ende eines Menschenlebens in die Hoffnung für ein anderes zu wandeln.

Entgegen dem gemeinhin Gedachten setzte sich Jonas nicht nur mit dem Einfluss der Technologie auf die Probleme am Lebensende, sondern auch mit der künstlichen Befruchtung auseinander. Deren Technologien sind für ihn, wie wir sehen werden, vor allem im Hinblick auf die Eugenetik von Bedeutung. Aber so viel vorweg: Wer bei Jonas Gedanken zur moralischen Stellung des Embryos und dessen Würde erwartet, wird enttäuscht.

Über die künstliche Befruchtung

So gross die Bedeutung der Würde bei Jonas’ Gedanken zum Lebensende war, so klein scheint sie bei seinen Gedanken zum Lebensanfang zu sein. Wohlverstanden bedeutet dies nicht, dass man mit Embryonen alles machen darf, was man will. Aber Jonas’ Argumentation geht nicht vom Embryo aus, sondern fragt zunächst nach dem Charakter des Rechts, das einem zeugungsunfähigen Paar zusteht, welches sich für die künstliche Befruchtung entscheidet.

Es handelt sich für Jonas um ein eher «schwaches » Recht, das nur auf die Befriedigung eines Wunsches hin gerichtet ist. Auch wenn der Kinderwunsch durchaus legitim ist und wir ihn sogar zu den unverzichtbaren Rechten jedes Menschen zählen wollten, könnte von diesem Recht nicht unbeschränkt Gebrauch gemacht werden, da es immer gegen andere, in gleicher Weise unveräusserliche Rechte abzuwägen wäre.

Beispielsweise lehnt Jonas die heterologe Insemination ab, geht sie doch damit einher, dem zu zeugenden Kind «das natürliche Recht zu nehmen, um seine Herkunft zu wissen».10 Auch die Surrogatschwangerschaft ist für ihn – ausser in Ausnahmefällen – unzulässig, weil eine Schwangere ein natürliches Recht sowohl auf die Kontrolle der laufenden Schwangerschaft als auch auf das Kind hat. Jonas’ Aufmerksamkeit gilt im Besonderen den im Labor durchgeführten Befruchtungstechniken, die überzählige Embryonen hervorbringen. Hier geht es um die Frage nach deren Tiefgefrierung und die Möglichkeit, den Embryo vor der Einpflanzung zu untersuchen, um ihn im Fall von Defekten zu vernichten.

Doch Jonas scheint diesen Problemen nicht bis auf den Grund nachzugehen: Bei der Erzeugung überzähliger Embryonen handelt es sich ihm zufolge um «ein gänzlich neues, abgründiges und sittlich so vexierendes Problem, dass man es fast um jeden Preis vermeiden soll». Gar für «widriger» hält er es, Embryonen einzufrieren.11 Noch lakonischer gibt er sich bezüglich der pränatalen Diagnostik: «Dazu wäre viel zu sagen, aber meine Zeit läuft ab».12 Jonas beschränkt sich auf die Feststellung, dass bei der künstlichen Befruchtung, wo es um den Schutz von Wünschen geht, diese nicht notwendigerweise alle befriedigt werden müssen: «Weit besser ist’s, die Last der Kreatürlichkeit zu tragen, der Erfüllung mancher Sehnsucht zu entsagen, als solcher möglichen Erfüllung Heiliges zu opfern, womit ausser mit ihrer Macht die Menschenart das Natursein übersteigt.»13

Somit ist weder von der Würde noch von deren ontologischen bzw. deontologischen Gehalten die Rede. In den letzten Zeilen seines Beitrages versucht Jonas aber, auf den Begriff des Heiligen Bezug zu nehmen. Jener kommt – in engem Zusammenhang mit der Menschenwürde – dort ins Spiel, wo das Problem der Manipulation bei gentechnischen Eingriffen in das menschliche Genom aufgeworfen wird. Auch in diesem Zusammenhang ist Jonas’ Haltung differenzierter und weniger «fundamentalistisch », als man auf den ersten Blick hätte vermuten können.

Die nähere Betrachtung dieses Aspekts lässt uns noch mehr dazu sagen, wie sich Jonas zur künstlichen Fortpflanzung stellt. Man könnte eine Analogie herstellen zwischen (als zulässig erachteter) passiver Sterbehilfe und (abgelehnter) aktiver Sterbehilfe auf der einen Seite sowie (weitgehend zuzulassender) negativer Eugenetik und (kategorisch abgelehnter) positiver Eugenetik auf der anderen. Die erstgenannte Form der Eugenetik zielt auf die Erhaltung des menschlichen Erbguts, während die zweite dessen Perfektionierung oder gar die Schöpfung eines neuen, post-humanen Wesens anstrebt: John Harris spricht von einem neuen Stamm, der aus der Verwendung von biologischem Material der gegenwärtigen Spezies entsteht.14 Statt bei diesem Punkt zu verweilen, möchte ich näher auf die «negative oder vorbeugende Eugenik» eingehen, konzentriert sich doch die heutige bioethische Diskussion (die futurologischen Stimmen ausgenommen) auf diese.15

Positive und negative Eugenetik

Zweifelsohne hatte die Technik der künstlichen Befruchtung der Eugenetik entscheidenden Auftrieb verschafft. Insofern sich die Eugenetik aber auf die Prävention schwerer Erbkrankheiten beschränkt und sich nicht dem schieren Fortschritt verschreibt, scheint Jonas ihrer Zulässigkeit nicht abgeneigt zu sein. Wenn es dank dieser Technologie möglich ist, gesunde Kinder auf die Welt zu bringen, weshalb sollte man dann kranke Kinder zeugen? Abstrakt betrachtet eine rhetorische Frage. Es besteht aber das konkrete Problem, dass ausgerechnet der Einsatz dieser Technologie eine Selektion von Embryonen bedingt. Das wäre noch nicht der Fall, wenn der Träger einer Erbkrankheit auf eigene Nachkommen verzichten sollte, um die Krankheit nicht weiterzugeben. Hier bewegten wir uns noch ganz im Bereich der Präventivmedizin: Nach einer ärztlichen Beratung würde darauf verzichtet, ein Kind auf die Welt zu bringen, um ihm ein unglückliches Leben zu ersparen. Die Entscheidung würde immer noch im Voraus gefällt, wenn also das betroffene Individuum nur hypothetisch existiert. Deshalb könnte auch keines seiner Rechte verletzt werden. Vielmehr könnte man fragen, ob Eltern die Rechte ihres Kindes nicht verletzten, wenn sie es trotz absehbaren Gesundheitsschäden auf die Welt brächten.

Die Diskussion ändert sich aber mit dem Aufkommen der pränatalen Diagnostik, welche es erlaubt, Embryonen mit Gendefekten auszusondern und sich auf Basis des durchgeführten screenings für eine Abtreibung zu entscheiden oder aber – bei der künstlichen Befruchtung – nicht zur Einpflanzung des in vitro befruchteten Eis zu schreiten. Dies wäre zwar keine Abtreibung, würde aber zum gleichen Resultat führen, nämlich zur Beendigung eines Menschenlebens, wenn auch in dessen primitivstem Entwicklungsstadium.

Jonas zufolge (der nur vom ersten der gerade erwähnten Fälle ausgeht) würde bereits hier – fast unbemerkt – ein Schritt von der negativen Eugenetik hin zur perfektionierenden Eugenetik getan, was aber auf die Zulässigkeitsfrage keinen praktischen Einfluss haben soll: Jonas geht realistischerweise von der gesellschaftlichen und rechtlichen Situation aus, dass der Schwangerschaftsabbruch heute der freien Entscheidung der Frau anheimgestellt ist. Ohne sich in diesem Zusammenhang wertend über diese Frage zu äussern, hält es Jonas vor deren Hintergrund für schwerlich bestreitbar, dass eine Frau, die durch pränatales screening Kenntnis von der Krankheit ihres ungeborenen Kindes hat, abtreiben darf.

Welche Gendefekte erlauben eine Abtreibung?

Hier eröffnet sich folgendes Problem: Welche Gendefekte oder welche Krankheiten sind schwer genug, um eine Abtreibung – auch moralisch – zu rechtfertigen? Wir betreten ein Feld, auf welchem sich keine klaren Grenzen ziehen lassen, was sich aber aufdrängen würde. Demgegenüber scheint Jonas nur eine Unterscheidung zu machen, nämlich zwischen negativer Eugenetik (welche den Erhalt der Spezies bezweckt, indem sie diese vor bestimmten Krankheiten schützt), und positiver Eugenetik (welche die Spezies zu perfektionieren versucht).

Im Wesentlichen akzeptiert er die erste und lehnt die zweite ab. Sicherlich sind die Übergänge bisweilen fliessend. Aber wie es im Fall der Euthanasie möglich ist, zwischen Erlaubtem (sterben lassen) und Unerlaubtem (töten) zu unterscheiden, so können – auch wenn eine Grauzone weiterbesteht – in gleicher Weise Eingriffe für die Gesundheit des Ungeborenen und Eingriffe mit ambitiöserem Charakter auseinandergehalten werden.

Aus dem Gesagten sollte klar werden, dass Jonas keineswegs gegen die Anwendung pränataler Diagnoseverfahren ist, die unausgesprochen eine Selektionsfolge haben – sofern dies nur der Prävention schwerer Krankheiten dient. Man kann davon ausgehen, dass er sich zur umstrittenen Präimplantationsdiagnostik, wo die Selektion der Embryonen in vitro erfolgt, analog geäussert hätte.

Die Zustimmung zu einem begrenzten Einsatz dieser Verfahren stünde jedenfalls mit seiner allgemeinen Haltung zur pränatalen Diagnostik im Einklang. Wäre es eine erstaunliche Folgerung, dass Jonas sich in den Fragestellungen rund um das Lebensende «konservativ» äussert, aber bezüglich des Lebensanfangs «liberale» Positionen einnimmt? Doch diese Etikettierungen sind irreführend: Wir sollten uns vielmehr fragen, was Jonas dazu bringt, sich zur Eugenetik hin zu öffnen, wenn sie ausschliesslich dem Schutz vor Gendefekten dient. M. E. liegt dies daran, dass er den Embryo als solchen niemals als Träger der menschlichen Würde betrachtet.

Der Embryo hat für ihn zwar das «Recht auf Leben», aber dieses Recht ist – wie jedes andere – nicht absolut und unantastbar. Nur die Würde ist ein Prinzip, das jeder Abwägung entzogen ist, aber eben die Schutzwirkung dieses Prinzips kommt dem Embryo als solchem nicht zu. Bekanntlich beruht in der gegenwärtigen bioethischen Debatte ein Grossteil der Kritik an der Präimplantationsdiagnostik auf dem Vorwurf, sie verletze das Prinzip der Menschenwürde. Es scheint mir aber nicht möglich, eine solche – möglicherweise auch berechtigte – Argumentation unter Berufung auf Jonas zu rechtfertigen, auch wenn namhafte Interpreten wie Dietrich Böhler dies taten. 16 Aus einer Formulierung von Jonas geht hervor, was erlaubt ist: «Verhütung von Unglück allein (…), kein Probieren neuartigen Glückes».17

So sehr Jonas für bestimmte Formen präventiver Eugenetik Verständnis zeigt, so dezidiert feindlich steht er jeglicher Form von positiver, perfektionierender oder sogar kreationistischer Eugenetik gegenüber. 18 Noch heute ist seine grundlegende Kritik des reproduktiven Klonens aktuell. Freilich würde letzteres, wenn es die menschliche Einzigartigkeit replizieren möchte, der gegenwärtigen Spezies noch Tribut zollen. Das grosse Risiko liegt für Jonas in der kreationistischen Eugenetik, die dem Menschen zumuten will, das Schicksal der Schöpfung in die eigenen Hände zu nehmen und so vom Geschöpf zum Schöpfer zu werden.

Der Mensch als Ebenbild Gottes

Der grosse Traum der Gentechnologie – der zum unendlichen Albtraum mutieren kann – ist die Schöpfung eines neuen, beinahe unsterblichen Stammes, durch direkten Eingriff in das Erbgut der bestehenden Spezies. Somit könnte der Mensch nicht nur seine äussere Erscheinung verbessern, sondern sich ein vollkommen neues Antlitz geben. Gegen diese keineswegs utopische Vorstellung zieht Jonas ins Feld. Er erinnert an sein grundlegendes ontologisches Prinzip («dass eine Menschheit sei»),19 führt aber auch rein deontologische Argumente an, wie zum Beispiel: «Taten an anderen, für die man diesen nicht Rechenschaft zu stehen braucht, sind unrecht.»20

Doch noch nicht genug: Jonas geht davon aus, dass von dieser Problematik die «Kategorie des Heiligen » nicht ferngehalten werden kann. Und diese verbindet sich untrennbar mit der Vorstellung des als «Ebenbild Gottes» geschaffenen Menschen, die uns nach wie vor Ehrfurcht gebietet. Es ist die Unantastbarkeit dieser transzendenten Vorstellung, welche die Grundlage der dignitas bildet. Wir sollen den Menschen nicht unsterblich werden lassen, sondern so leben, dass es lohnen würde, unsterblich zu sein.

Gerade dieses Festhalten an der Auffassung des Menschen als «Ebenbild Gottes», die in Jonas’ Arbeiten immer wieder in Erscheinung tritt, führt zu einer grundsätzlicheren Überlegung, mit der ich schliessen möchte. Für viele Interpreten ist der Jonas’sche Versuch, eine Verantwortungsethik zu entwickeln, völlig unabhängig von der Religion. Kurz und gut: keine Vermischung von Glaube und Vernunft. Demgemäss wären einige seiner Arbeiten zu theologischen Themen wie «Der Gottesbegriff nach Auschwitz» (1968 auf Englisch, 1984 revidierte Fassung auf Deutsch) oder «Materie, Geist und Schöpfung» (1988) ohne Einfluss auf seinen grundlegenden Ethischen Diskurs geblieben – und somit allenfalls Spuren einer spekulativen Theologie. Aber vielleicht müsste man diesen Spuren ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken.

Ethik und Ontologie als Verbündete der Theologie

In der Tat durchdringt jene theologische Dimension, die mit seiner Zugehörigkeit zum Judentum zusammenhängt, auch das rein ethische Denken von Jonas. Sie ist nicht etwa dessen Ergebnis, sondern vielmehr dessen Ausgangspunkt, wie ein Aufsatz aus dem Jahr 1968 schön zeigt.21 Demnach müssen sich Ethik und Ontologie mit der Theologie verbünden, wenn sie versuchen wollen, das Fortschreiten der Wüste aufzuhalten.

Und so scheint es, dass der Mensch nicht ohne Gott auskommen kann. Wohlbemerkt nicht im fatalistischen Sinne des späten Heidegger und dessen «nur noch ein Gott kann uns retten»,22 vielmehr in jenem höchst originellen Sinn, wonach es nicht Gott ist, der uns helfen kann, sondern wir es heute sind, die ihm helfen müssen.

1 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M . 1979.

2 H . Jonas: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M . 1985, 253.

3 Freilich ist dieses Sakrament seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil als «Krankensalbung » nicht mehr nur für die Sterbenden, sondern für alle Kranken bestimmt. Dies kommt aber einer Erweiterung gleich: «Wenn schon das Sakrament der Krankensalbung denen gewährt wird, die an schweren Krankheiten und Schwächen leiden, dann erst recht denen, die im Begriff sind, aus diesem Leben zu scheiden» (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1523).

4 Jonas, Technik, Medizin und Ethik (wie Anm. 2), 247.

5 E bd., 258.

6 Vgl. Pius XII.: Risposte ad alcuni importanti quesiti sulla rianimazione, in: Pio XII: Discorsi ai medici. Roma 1959, 608 – 618.

7 Vgl. dazu P. Becchi: Morte cerebrale e t rapianto di organi. Brescia 2008.

8 Jonas, Technik, Medizin und Ethik (wie Anm. 2), 235 f.

9 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), zitiert aus: I. Kant: Werke in sechs Bändern. Hrsg. von W. Weischedel. Darmstadt 1956, Bd. IV, 61.

10 Vgl. H. Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M . 1992, 159.

11 Vgl. ebd., 157–158.

12 Vgl. ebd., 164.

13 Vgl. ebd., 167.

14 Vgl. J. Harris: Wonderwoman & S uperman. The Ethics of Human Biotechnology. Oxford 1992.

15 Jonas, Technik, Medizin und Ethik (wie Anm. 2), 162 ff.

16 Vgl. D. Böhler: Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Zweiter Teil: Orientierung aus dem Dialog. Warum sich Präimplantationsdiagnostik und Embryonen «verbrauchende» Forschung sich nicht verantworten lassen, in: Orientierung und Verantwortung: Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Hrsg. v. D. Böhler und J. P. Brune. Würzburg 2004, 369– 401.

17 Jonas, Technik, Medizin und Ethik (wie Anm. 2), 201. Vgl. auch S . 219: «Der menschliche Zustand ruft dauernd nach Verbesserung. Versuchen wir zu verhüten, zu lindern und zu heilen. Aber versuchen wir nicht, an der Wurzel unseres Daseins, am Ursitz seines Geheimnisses, Schöpfer zu sein.»

18 Ebd., 162–203.

19 Jonas, Das Prinzip Verantwortung (wie Anm. 1), 91.

20 Jonas, Technik, Medizin und Ethik (wie Anm. 2), 200.

21 Vgl. H. Jonas: Contemporary Problems in Ethics from a J ewish Perspective (1968), nun in: H. Jonas: Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man. Englewood Cliffs NJ 1974, 168 –182. 22 So der Titel des bekannten Interviews, das Heidegger dem «Spiegel» 1966 gab, auf seinen Wunsch aber erst nach seinem Tod publiziert wurde, in: Der Spiegel, Nr. 23, 31. Mai 1976, 193–219

22 So der Titel des bekannten Interviews, das Heidegger dem «Spiegel» 1966 gab, auf seinen Wunsch aber erst nach seinem Tod publiziert wurde, in: Der Spiegel, Nr. 23, 31. Mai 1976, 193–219.

Paolo Becchi

Paolo Becchi

Prof. Dr. Paolo Becchi ist Ordinarius für Rechts- und Staatsphilosophie an der Universität Luzern und Extra­ordinarius für Rechtsphilosophie an der Univer­sität Genua