Gute Theologie fördert gelingendes Leben

Interview mit Miroslav Volf zum Thema Glaube & Globalisierung

In einer Welt die immer pluralistischer wird, haben alle Menschen ein gemeinsames Anliegen: Wie kann das Leben gelingen, was braucht es für ein erfolgreiches, gutes Leben? Der Theologe Miroslav Volf ist überzeugt: Dazu braucht es eine gute Theologie mit Jesus Christus im Zentrum. Im Interview erläutert er ausserdem seine Position zu Friede und Versöhnung, zum interreligiösen Dialog – speziell mit dem Islam – und zum Umgang mit dem Säkularismus.

Miroslav Volf, Sie haben viel über Friede und Versöhnung geschrieben. Würden Sie sich als Pazifisten bezeichnen?

Ja, ich bin ein Pazifist, aber einer, der bereit ist, in Extremsituationen Kompromisse einzugehen. Bonhoeffer ist mein Vorbild: Ich denke, dass ein Kompromiss manchmal notwendig ist, wobei man sich bewusst sein muss, dass es ein Kompromiss ist. Wir müssen immer die Feindesliebe bezeugen, die, wie ich denke, eines der wesentlichen Merkmale des christlichen Glaubens ist und eine Folge der Tatsache, dass Gott Liebe ist, dass Christus für die Gottlosen gestorben ist und dass Gott die Sünder rechtfertigt.

Eines Ihrer Schwerpunktthemen lautet «Vergebung und Versöhnung». Steht dahinter Ihre persönliche Biografie?

Natürlich. Unsere Biografien beeinflussen uns zwar, aber sie bestimmen uns nicht, sie lassen uns Freiheit. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die Vergebung und Versöhnung praktiziert hat; ich wurde von einem Kindermädchen grossgezogen, das einen fröhlichen und gewaltlosen Lebensstil verkörperte. Ausserdem wuchs ich in einer Minorität auf, in einer christlichen Gemeinschaft, die von einem mehr oder weniger kirchenfeindlich gesinnten Umfeld umgeben war. Dieser Umstand hätte sicherlich das Potenzial gehabt, eine Reaktion zu erzeugen und mich zu einer Person zu machen, die auf Kontrolle und Vergeltung aus ist. In vielen anderen Biografien und auch in meiner wurde ein konkretes Verständnis des christlichen Glaubens – ich nenne es die Umarmung («embrace») eines authentisch christlichen Glaubens – bestimmend. Sie hat mich in Richtung Vergebung und Versöhnung geführt.

Können Sie das Konzept «Exclusion and Embrace » kurz beschreiben?

Wir leben in einer pluralistischen Welt, in der unsere Identitäten ständig hinterfragt werden, manchmal durch friedfertige Begegnungen, manchmal durch sozialen Druck und zuweilen auch durch unverhohlene Gewalt. Wenn wir eine defensive Haltung einnehmen, schliessen wir andere aus unserer Identität aus und bestehen darauf, dass unsere persönlichen, kulturellen, religiösen oder nationalen Identitäten unvermischt sind. Im Gegensatz zur Exklusion («exclusion») steht die Umarmung («embrace») für eine Überzeugung, dass der Andere immer schon zu uns gehört und wir zu ihm. Sie steht somit für eine bestimmte Art und Weise der Erhaltung von Grenzen, die von der Liebe geprägt ist und in welcher beide Seiten ihre Grenzen – und damit ihre Identitäten – bestätigen und sie dennoch durchlässig lassen. So lernen wir voneinander, uns den jeweils Anderen anzupassen, schaffen in uns Raum für sie und schenken uns ihnen. Natürlich kann nicht alles umarmt werden; die dreckigen Schuhe müssen draussen bleiben. Diese komplexe Art des Aushandelns von Identität ist eine Voraussetzung für ein Miteinanderleben in einer komplexen Welt als Familien, als Gemeinschaften, als Nationen und als globale Gemeinschaft von Staaten. Das Bild der Umarmung geht auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn zurück, in dem der Vater den zurückkehrenden Sohn umarmt. Die körperliche Umarmung steht symbolisch für die Annahme und die Aushandlung von Identität: Weil der Vater nicht ohne Sohn sein wollte, musste seine Identität einen Wandel vollziehen: Er musste akzeptieren, vom Vater einer vereinten Familie zum Vater eines verschwenderischen Sohnes und schlussendlich, nach der Rückkehr dieses Sohnes, zum Vater eines verärgerten älteren Sohnes zu werden … Seine Identität musste sich verändern – damit er bleiben konnte, wer er war: der liebende Vater, der nicht ohne seine Söhne sein möchte. Derselbe zu bleiben und sich doch zu verändern – beides wurde von der Liebe des Vaters bestimmt.

Sehen Sie angesichts der aktuellen Konflikte neue Ansätze für die Lösung von Konflikten?

Im Buch «Flourishing: Why We Need Religion in a Globalized World», das demnächst durch «Yale University Press» veröffentlicht wird, argumentiere ich, dass der christliche Glaube und andere Weltreligionen wesentlich zum Frieden beitragen können. Dieser Beitrag besteht in der neuen Bestätigung einer richtig verstandenen Transzendenz und des zentralen Platzes dieser Transzendenz – bei Gott selber – in unseren Leben. Dies sehe ich als Schlüssel sowohl für persönliche Zufriedenheit als auch für globale Solidarität. Und diese sehe ich wiederum als Schlüssel zu einer effektiven Fürsorge für diesen Planeten. Wir sind für Gott geschaffen, dies hat Augustinus richtigerweise und stark betont. Ich argumentiere in meinem Buch auch, dass die Beziehung zu Gott unsere Freude an der Welt sowohl verstärkt als auch vielschichtiger macht – und auf diese Weise der Konsumsucht entgegenwirkt, die aus der systematisch erzeugten Unzufriedenheit über das, was ist, resultiert. Diese Argumentation stelle ich einer Kritik am christlichen Glauben entgegen, die behauptet, dass eine Bindung an Gott den angemessenen Wert alltäglicher Realitäten verwischt. Es ist eine Antwort auf zwei Arten von Nihilismus, die sich für alle sichtbar auf der Weltbühne bekämpfen: Auf der einen Seite die weltverneinenden und weltzerstörenden fundamentalistischen Religionen, die mit der anderen Seite, den areligiösen Nihilismen, welche beliebige Werte postulieren, zusammenprallen. Der Konflikt verläuft zum einen zwischen den religiösen Fundamentalisten selbst, die sich mit einem Klammergriff an ihren Begriff des jeweiligen transzendenten Sinns hängen, und zum andern zwischen diesen religiösen Fundamentalisten und den areligiösen Freidenkern (Säkularisten), die für Lust und Freude bei der Gestaltung ihres Lebens kämpfen.

Was bedeutet das für den Dialog mit Religionen?

Die Theologie der Umarmung («embrace») ist in vieler Hinsicht auch ein Programm für den Dialog mit Weltreligionen. Der Kerngedanke kann durch die Formulierung «starke Identitäten mit durchlässigen Grenzen» ausgedrückt werden. Im Buch «Captive to the Word of God» habe ich diese Grundhaltung «weiche Differenz» («soft difference») genannt. Im interreligiösen Dialog muss ich mich selbst bleiben, sonst löst sich der Dialog selbst auf. Wenn ich mich aber gar nicht verändere, macht der Dialog keinen Sinn. Für mich wird eine solche Grundhaltung von zwei zentralen christlichen Überzeugungen gestützt: erstens vom Glauben, dass Christus – als Licht, das alle erleuchtet – die Quelle aller Weisheit ist, wo auch immer Weisheit gefunden werden kann, einschliesslich der Religionen. Zweitens vom Bewusstsein, dass mein eigenes Verständnis von Christus und von der Weisheit, die in Christus ist, immer unvollständig bleibt. Indem ich mit einer Person andern Glaubens – oder anderer Weltanschauung – im Dialog stehe, kann ich sowohl von ihr lernen als auch hoffen, ihr Weisheit zu vermitteln; ich kann mich selbst bleiben und gleichzeitig eine Veränderung durchlaufen. Der Dialog ist aber nur ein Aspekt der Begegnung zwischen Religionen. Wir brauchen einen politischen Rahmen pluralistischer Demokratie, welcher die Gewissensfreiheit aller schützt und alle gleich behandelt. Das heisst, dass die politischen Voraussetzungen gegeben sind, dass jede Religion ihre eigene Vision von gelungenem Leben öffentlich artikulieren kann. Wir brauchen «religionsfreundliche» Demokratien – sozusagen genuine pluralistische Demokratien –, und wir brauchen «pluralistische, Demokratiefreundliche » Religionen. Beide bieten gemeinsam einen institutionellen und kulturellen Rahmen für die Art von Dialog, den ich beschrieben habe. Ein Dialog, der nicht nur von privaten Gesprächen lebt, sondern auch zu einer öffentlichen Konversation wird.

Die wichtigste Herausforderung scheint heute der Umgang mit dem Islam. Besonders nach dem Schock von 9/11. Würden Sie der These widersprechen, dass der Islam Gewalt bereits in seiner DNA hat? Also ein Gewaltproblem schon in seiner Entstehungsgeschichte?

Man könnte auch argumentieren, dass das Judentum und das Christentum Gewalt in ihrer DNA haben. Sind nicht der Exodus und die Landnahme des gelobten Landes letztlich fundamental für diese beiden Glaubenstraditionen? Ich lebe zurzeit in einem Land, in dessen Ursprüngen man sich auf genau diese Traditionen berufen hat, um Ureinwohner mit Waffengewalt zu unterdrücken. Umgekehrt wirkt die erste Phase der Anfänge des Islams, die mekkanische Phase, ziemlich friedlich. Ich argumentiere, dass der Islam friedfertig interpretiert werden kann – und dass er von glaubwürdigen und hoch respektierten Vertretern des Islams so interpretiert wurde. Religionen wie auch der Islam lassen sich nicht auf einen Punkt reduzieren. Sie enthalten eine Vielzahl von Motiven, und diese Motive werden unterschiedlich umgesetzt, abhängig von den jeweiligen Umständen. Einige Religionen mögen stärkere pazifistische Motive haben als andere, trotzdem ist keine der Weltreligionen an sich gewalttätig.

Was ist bei Begegnungen und Dialogen mit Muslimen besonders zu beachten?

Christen müssen die Frage der religiösen Freiheit – Glaubensfreiheit, die Freiheit, den Glauben zu praktizieren, die Freiheit, den Glauben zu verbreiten – und die Gleichberechtigung jeder Person (und auch jeder Religion) hervorheben, wenn sie sich in einer vorgegebenen (politischen) Gesellschaft öffentlich artikulieren wollen. Wenn wir das tun, müssen wir uns aber bewusst sein, dass Christen selbst während vielen Jahrhunderten diese religiöse Freiheit nicht anerkannten; in Wirklichkeit unterstützt die Mehrheit der Christen religiöse Freiheit erst ab der Mitte des letzten Jahrhunderts. Ich stehe nun seit vielen Jahren in interreligiösen Dialogen, nicht nur mit dem Islam. Die erste Frage, die ich mir dabei immer stelle, ist: «Was kann ich von ihnen lernen, über mich selbst, über sie und über unsere gemeinsame Beziehung?» Ich beginne mit einer Haltung des «Noch-nicht-Verstehens» – das ist nicht dasselbe wie Ignoranz! – und lasse mein Ver ständnis vom Gespräch formen. Aber ich gehe auch davon aus, dass meine Gesprächspartner etwas von mir lernen müssen, womöglich sogar die Grundhaltung des «Noch-nicht-Verstehens».

Wie sollen Christen mit dem muslimischen Gottesbild von Allah umgehen? Allah scheint sich stark vom christlichen Gott zu unterscheiden.

Nun, ich habe ein ganzes Buch über dieses Thema geschrieben. Soweit ich betroffen bin, sieht die Antwort schlicht so aus: Christen und Muslime haben denselben Gegenstand der Anbetung, aber sie verstehen diesen Anbetungsgegenstand teilweise auf unterschiedliche Art und Weise. Die bedeutenden Unterschiede betreffen die dreieinige Natur Gottes und die Annahme, dass das eigentliche Wesen Gottes seine Liebe ist. Aber es gibt auch bedeutsame Ähnlichkeiten. Sie sind gross genug, um eine moralische Grundlage für ein gemeinsames Leben zu begründen. Damit meine ich nicht die Basis für eine Übereinstimmung in allen Dingen, aber die Grundlage dafür, die Unterschiede herauszuarbeiten und mit ihnen leben zu können.

Sie sagen, dass Muslime den gleichen Gott haben wie die Christen. Eine These, der viele Christen widersprechen.

Ich verneine nicht die Unterschiede; es wäre unmöglich und töricht, das zu tun. Ich verneine aber, dass die Unterschiede derart sind, dass angenommen werden muss, dass entweder Muslime oder Christen, die ja beide Monotheisten sind, nur einen Götzen anbeten. Natürlich kann ich nicht all meine Argumente für diese Position hier entfalten. Ich bitte die Leser deshalb, mein Buch «Allah: A Christian Response» zu konsultieren und sich dann selbst eine Meinung zu bilden. Diese Frage ist wichtig, und sie verdient sorgfältiges Nachdenken. Aber eines dürfen wir nicht vergessen, und es kann relativ kurz gesagt werden: Die Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen Darstellungen Gottes sind nicht viel grösser als die Unterschiede zwischen jüdischer und christlicher Gottesbeschreibung. In der Tat sind die wichtigsten Unterschiede der jüdischen und muslimischen Gottesdarstellung auf der einen und der christlichen Darstellung auf der anderen Seite vergleichbar. Ich kenne aber keinen verantwortungsbewussten Christen, der sagen würde, dass Juden einen anderen Gott anbeten als die Christen.

Ist es für Sie akzeptabel, wenn Muslime beteuern, gewalttätige Islamisten seien keine Muslime?

Wenn eine solche Beteuerung im Bezug auf Islamisten gemacht wird, wie die derzeitige Führung des Islamischen Staates sie darstellt, dann sind sie für mich zweifellos akzeptabel. Ich denke, der offene Brief an Al-Baghdadi: «The Open Letter to Al-Baghdadi » (www.lettertobaghdadi.com) zeigt genau das. Ich pflege persönliche Freundschaften zu einigen der religiösen Gelehrten, die den Brief unterschrieben haben. Der Islamische Staat ist sowohl nicht-islamisch als auch kein legitimer Staat.

Welche persönlichen Voraussetzungen erfordert das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen?

Die Wahrheit in Liebe auszusprechen – und ein Bewusstsein dafür zu haben, dass dies ein Ideal ist, welches wir oftmals nicht wirklich verkörpern und dem wir auch nicht entsprechen, wenn wir meinen, dass wir es tun. Es braucht auch Mut. Ich glaube, dass Angst – mehr als alles andere – die Beziehung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen zersetzt. Wir fürchten das Andere und projizieren dann das, was wir fürchten, auf das, was sie sind.

Gibt es aktuell einen glaubwürdigen Dialog zwischen Christen und Muslimen mit nachhaltigen Perspektiven für den gegenseitigen Umgang der beiden Weltreligionen?

Dialoge produzieren keine unmittelbaren Resultate. Ich erinnere mich daran, wie ich vor vielen Jahren Teil des römisch-katholisch/pfingstlerischen Dialoges war, als der katholische Vorsitzende Killian McDonnald, den ich sehr bewundere, oft darlegte, dass Dialoge nichts für diejenigen sind, die von Effizienz besessen sind, sondern für diejenigen, die bereit sind, längerfristig zu denken. Das Gleiche stimmt für den Dialog zwischen Christen und Muslimen. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass eine Gruppe im interreligiösen Dialog nicht einer Arbeitsgruppe in einem Kontrollraum gleicht, sondern Leuten, die den Boden bearbeiten und einen Garten anpflanzen. Und natürlich sind Gespräche nicht das Einzige, das getan werden muss, um die Beziehungen zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften zu verbessern. Ihre Spannungen haben auch ökonomische, politische und kulturelle Dimensionen.

Zu einem andern Thema: Sie sprechen von «human flourishing». Was meinen Sie damit, welche Konsequenzen hat das Konzept für die christliche Kirche?

«Human flourishing» ist ein sehr formbarer Begriff, der heute in einigen Kreisen beliebt ist. Ich denke damit ungefähr an das, was man meint, wenn man vom «guten Leben», vom «blühenden Leben» oder vom «sinnerfüllten Leben» spricht. Jeder dieser Begriffe hat natürlich teilweise unterschiedliche Bedeutung und kommt aus unterschiedlichen intellektuellen Traditionen. Für mich wurde es die zentrale, wegleitende Idee, welche die Mission der Kirche und das Engagement mit den anderen Religionen bestimmt. Wir leben in einer Kultur, die sich nach dem «lebenswerten Leben» sehnt, aber gleichzeitig, wie David Foster Wallace geschrieben hat, «wissen wir» nicht nur «nicht, wie man sinnvoll lebt (…). Wir scheinen nicht einmal fähig zu sein, uns etwas länger auf diese Frage zu konzentrieren.» Wir denken intensiv darüber nach, wie wir in verschiedensten Bestrebungen Erfolg haben können, aber nicht darüber, wie wir als Menschen erfolgreich sein können. Die Frage nach dem guten Leben ist die Frage, um die sich der ganze christliche Glaube dreht, die eine Frage, in welcher alle anderen Fragen enthalten sind. Das ist so, weil die Frage nach dem guten Leben für den christlichen Glauben immer schon die Frage nach Gott, und noch genauer, die Frage nach dem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, ist. Das gilt auch umgekehrt, die Frage nach Gott, der in Christus menschliches Leben und Schicksal angenommen hat, ist immer und unausweichlich die Frage nach dem guten Leben – nach seiner Form, der Motivation, es zu leben, den Ressourcen, um es bestehen zu können, dem Versprechen, es zu gewinnen, der Freude, es zu feiern, und der Notwendigkeit, es zu bezeugen.

Sie sprachen auch schon von einem «Traum der theologischen Erneuerung». Was meinen Sie damit?

Wenn man die Theologie um die Idee des guten Lebens herum organisiert – Leben, das gut funktioniert, das gut geführt wird, das sich gut anfühlt – alle drei in ihrer gegenseitigen Durchdringung –, dann befindet man sich auf dem Weg der Erneuerung. Die heutige Theologie steckt in einer tiefen Krise. Nur sehr wenige Menschen beschäftigen sich damit; sehr wenige Wissenschaftler oder alltägliche Menschen respektieren sie. Es gibt viele Gründe für diese Krise. Einer dieser Gründe ist, dass die Theologie vergessen hat, sich auf Gott und seine Beziehung zur Welt zu konzentrieren, dass sie die Welt und unser Leben nicht im Licht von Christus interpretiert, dass sie sich von der Frage nach dem guten Leben entkoppelt hat – genau die Frage, mit welcher sich Menschen heute beschäftigen möchten, aber nicht genau wissen, wie. Und sie wissen nicht, wie sie sich damit beschäftigen können, weil auch unsere Universitäten «den Sinn des Lebens abgeschrieben haben», wie einer meiner Kollegen schreibt.

Was erhoffen Sie sich von der Konferenz in Freiburg?

Ich könnte diese Hoffnungen auf viele verschiedene Arten und Weisen ausdrücken. Hier ist eine davon: Das Ziel meiner Vorträge – wie auch das Ziel des Buches, auf welchem sie basieren – ist es, zu zeigen, dass Religion, und noch spezifischer der christliche Glaube, eine Einheit von tiefer Sinnhaftigkeit und Freude im Alltag möglich machen. Mein Hauptargument wird folgendes sein: Der christliche Glaube – und auch andere Weltreligionen – ist fähig, die beiden Nihilismen auszutreiben: den Nihilismus derjenigen, die die Welt verneinen und zerstören, und den Nihilismus derjenigen, welche willkürliche Werte erfinden – und die sich gegenseitig anstacheln, sich um die ganze Welt herum gegenseitig verfolgen und dabei Verwüstung und Sinnlosigkeit verbreiten, während sie diesen Planeten und unsere Hoffnungen zu Staub zerreiben. Ich hoffe, dass die Konferenz die Entdeckung von neuen Wegen anregt, auf denen der christliche Glaube als das Wasser des Lebens unsere Leben, unsere Gemeinschaften und unseren natürlichen Lebensraum erblühen lässt.

Sehen Sie Perspektiven für die Kirchen in Europa? Einer Kirche, die dem Säkularismus und dem Diktat der Beliebigkeit entgegentritt?

Ich bin genügend beunruhigt über den Säkularismus oder über das «Diktat der Beliebigkeit», dass ich darüber schreibe. Aber es ist nicht mein Hauptanliegen. Ich sorge mich eher über die Authentizität unserer eigenen Leben als Christen und über die Authentizität unserer Vorstellungen von gelingendem Leben. Wir wählen die Zeit nicht aus, in der wir leben. Wir wählen das Leben, das wir leben in der Zeit, die uns zugeteilt ist. Lasst uns nicht über schlechte Zeiten klagen; lasst uns stattdessen leben: mit Freude über das gute Leben, zu welchem Gott uns berufen hat. Ich glaube, für Gemeinschaften, welche ein solches Leben verkörpern und fähig sind, es mit intellektueller Redlichkeit und mit Vorstellungskraft zu artikulieren, stehen die Aussichten gut.

Die Fragen an Miroslav Volf stellte Fritz Imhof. Das Interview wurde schriftlich geführt.

 


 

Der Interviewer Fritz Imhof ist Theologe und freischaffender Journalist. Er arbeitet als Freier Mitarbeiter u. a. für das Portal «Livenet.ch», das Magazin «idea Spektrum », das Magazin «INSIST» und den Informationsdienst der Schweizerischen Stiftung für die Familie und betreut die Webseite «Liturgieboerse. ch» der Reformierten Landeskirche Aargau.

 

Prof. Dr. Miroslav Volf ist Henry B. Wright Professor für Systematische Theologie an der Yale-Universität und Gründer und Direktor des Yale Center for Faith & Culture. Bekannt ist Volf durch Bücher wie etwa «Allah: A Christian Response» (2011), «Free of Charge: Giving and Forgiving in a Culture Stripped of Grace» (2006), «After Our Likeness: The Church as the Image of the Trinity» (1998) und «Exclusion and Embrace: A Theological Exploration of Identity, Otherness, and Reconciliation » (1996), welches im Jahr 2002 mit dem Grawemeyer Award ausgezeichnet wurde. Miroslav Volf wurde 1956 im heutigen Kroatien geboren. Er studierte in Zagreb und am Fuller Theological Seminary Theologie und promovierte und habilitierte bei Jürgen Moltmann in Tübingen. Sein aktuelles Forschungsinteresse gilt Fragen zu Glaubensformen im Kontext von Globalisierungsprozessen, zwischenmenschlicher Versöhnung und einer theologischen Anthropologie menschlicher Wohlfahrt

 


«Glaube und Globalisierung – Faith and Globalization»

Die Prozesse gesellschaftlicher Veränderung und die Phänomene der Globalisierung betreffen alle Lebensbereiche und interagieren auch mit dem Glauben der Menschen. Daraus ergeben sich theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, auf die es gemeinsam im Dialog zu antworten gilt. In einer zunehmend globalisierten Welt betreffen scheinbar entlegene politische, wirtschaftliche und religiöse Spannungen auch unsere Lebenswelt unmittelbar. Gewalt und Terror bedienen sich religiöser Motive, was dazu führt, dass Angst und Abgrenzung die politischen Diskurse bestimmen. Ein bewusster und nachhaltig geführter Dialog über entscheidende Aspekte des Glaubens und der Globalisierung kann zu einem versöhnten und friedlichen Miteinander führen, welches im 21. Jahrhundert dringlich ist. Diesen aktuellen und herausfordernden Fragen widmen sich die zweiten Studientage zur theologischen und gesellschaftlichen Erneuerung vom 10. bis zum 12. Juni 2015 an der Universität Freiburg i. Ü. Hauptreferent ist der systematische Theologe der Yale University, Professor Miroslav Volf. Die drei Themenfelder Globalisierung, Interreligiöser Dialog und Versöhnung werden auch von anderen Expertinnen und Experten beleuchtet und im Rahmen von Podiumsdiskussionen vertieft, u. a. mit Barbara Hallensleben, Gregor Emmenegger, Thierry Collaud, Hansjörg Schmid, Mariano Delgado, Martin Hirzel und Klaus Leisinger.

Diese Tage stehen allen Interessierten offen und geben Gelegenheit zur Diskussion mit den Referentinnen und Referenten. Tagungssprache ist Englisch, eine Simultanübersetzung auf Deutsch und Französisch ist gewährleistet.

Termin: Mittwoch, 10. Juni 2015, 8.30/9.15 Uhr, bis Freitag, 12. Juni 2015, 13.15 Uhr

Ort: Aula Magna, Université Miséricorde, Avenue de l’Europe 20, 1700 Freiburg

Weitere Informationen: www.glaubeundgesellschaft.ch

 

 

Fritz Imhof

Fritz Imhof

Fritz Imhof ist Theologe und freischaffender Journalist.