Gut alt werden – eine lebenslange Aufgabe

Armenhaus für «bedürftige Greisinnen und Greise». (Bild: Pro Senectute Schweiz)

 

Zu Beginn meiner Präsidentschaft von Pro Senectute Schweiz feierte die Organisation ihren 100. Geburtstag. Das Jubiläumsjahr rief in Erinnerung, wie sehr sich die Lebensumstände verändert haben. Das heutige Konzept eines Lebens mit Kindheit, Familienzeit und Pensionierung war vor 100 Jahren undenkbar. Damals war Kinderarbeit gang und gäbe, die Pensionierung inexistent. Die Generation unserer Urgrosseltern arbeitete im Gleichklang von «ora et labora» bis zu ihrem Tode. Wer nicht mehr arbeiten konnte und ohne familiäre Unterstützung dastand, wurde armengenössig. Ein bitteres Los, das die Gründer von Pro Senectute, aber auch kirchliche Kreise schon früh mit Sammlungen zu lindern suchten. Erst die 1947 geschaffene AHV sollte hier Abhilfe bringen.
Die Lebenssituation alter Menschen wurde neben wirtschaftlichen Faktoren aber auch durch die veränderte Demografie geprägt. In den 1950er-Jahren entstanden Altersheime an lauschigen Waldrändern im Grünen und weitab vom Schuss. Das Konzept dahinter: die Pensionäre sollten den Ruhestand im Grünen beschaulich angehen und die kurze noch verbleibende Lebenszeit geniessen. Ab den 1960er-Jahren veränderte sich die Vorstellung eines erfüllten Alterns parallel zur wachsenden Lebenserwartung schrittweise. Die Selbstverantwortung wurde neu im Leben älterer Menschen verortet. Ob Sport oder Vereinsleben: Ein fittes, gesundes Altern galt als Quintessenz eines erfolgreichen Lebens und dafür hatte jeder und jede – so der oft gehörte Tenor − selber die Verantwortung zu übernehmen.
Heute beeinflussen Prämissen wie Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit unser Altersbild. Ob neue Liebe, Ausbildung, Reisen oder beruflicher Neustart, das Alter scheint inexistent, verschiebt sich nach hinten und ist für viele erst dann eine Tatsache, wenn sie im Alltag Hilfe benötigen. Sehr alte und gebrechliche Menschen verschwinden entsprechend dieser Logik oftmals aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es gibt sie zwar, aber sie sind unsichtbar.
Zugegeben, ich bediene mich hier vieler Stereotypen. Die Frage aber bleibt: Wie werden wir angesichts einer hohen Lebenserwartung bei mehrheitlich intakter Gesundheit gut alt? Die Antworten füllen ganze Bücherregale an Ratgeberliteratur. Man denke an die viel zitierte Muskelmasse, die wir alle – selbstredend und selbstverantwortlich – ab dem 30. Lebensjahr trainieren sollten, um deren Abbau entgegenzuwirken.
Gesundheitsprävention in Ehren, mich persönlich interessiert aber besonders auch, wie es fragilen Menschen gelingt, ihr Leben gut zu meistern. Meine Grossmutter pflegte zu sagen: «Alles, was du in dein Leben investierst, kommt in der einen oder anderen Form zurück.»
An ihr bewunderte ich, dass sie zeitlebens offen war für Neues und auch nach dem selbstbestimmten Umzug ins Altersheim beharrlich und stetig daran arbeitete, am neuen Wohnort Bekanntschaften zu knüpfen. Vielleicht ist dies das Fundament für ein gutes Altern – ein Leben lang gut und in Einklang mit sich selber zu leben?


Eveline Widmer-Schlumpf*

 

* Eveline Widmer-Schlumpf (Jg. 1956) studierte Rechtswissenschaft. Sie arbeitete als Rechtsanwältin und Notarin. Von 1999 bis 2007 war sie Finanzdirektorin des Kantons Graubünden. Im Dezember 2007 wurde sie in den Bundesrat gewählt. Auf Ende 2015 trat sie als Bundesrätin zurück. Seit 2017 ist Schlumpf Präsidentin des Stiftungsrats von Pro Senectute Schweiz. (Bild: Nadia Neuhaus)