«Gott sucht Arbeiter für die Ernte»

Die Pfarreien St. Martin und St. Marien in Thun gehen in der Katechese ganz neue Wege: von verpflichtender zu freiwilliger Teilnahme, von wöchentlichem Unterricht zu einzelnen Modulen.

Interviewpartnerinnen Conny Pieren (links) studierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Deutschland und besuchte in Luzern das Religionspädagogische Institut. Sie ist seit 2011 als Katechetin in der Pfarrei St. Marien Thun tätig, davor arbeitete sie vier Jahre lang in der Pfarrei Dreifaltigkeit in Bern. Pia Krähenbühl (Jg. 1959) besuchte das Katechetische Institut in Luzern und unterrichtet seitdem in der Pfarrei St. Martin in Thun. Als langjährige Mitarbeiterin hat sie schon viele Entwicklungen in der Katechese begleitet und mitvollzogen. Sie findet es extrem spannend und ein ungemeines Privileg, am jetzigen Pfarrei- und Katecheseprozess mitarbeiten zu dürfen.

 

Über die Fachstelle Religionspädagogik in Bern erfuhr ich, dass die Pfarreien St. Martin und St. Marien in Thun im Schuljahr 2017/2018 ein «Brachjahr» einlegten. Das weckte meine Neugier, und so reiste ich zu einem Gespräch mit Pia Krähenbühl, leitende Katechetin in der Pfarrei St. Martin, und Conny Pieren, leitende Katechetin in der Pfarrei St. Marien, nach Thun.1

SKZ: Was führte Sie dazu, ein Brachjahr einzulegen?
Pia Krähenbühl (PK): Der Unterricht war bislang im Pastoralraum Berner Oberland streng reglementiert.

Conny Pieren (CP): Er fand wöchentlich statt und war stark an der Schule orientiert. Wir gingen davon aus, dass die Glaubensweitergabe in Familie und Gemeinde geschieht. Aber der Lernort Familie ist so nicht mehr gegeben. Ich erlebe oft eine Diskrepanz zwischen dem, was die Kinder im Unterricht lernen und zu leben üben und der Situation zu Hause. Wenn Eltern nicht leben, was die Kinder im Unterricht einüben, dann eröffnet sich für das Kind eine grosse Kluft.

Wie gestalteten Sie dieses Brachjahr?
PK: Der Prozess begann schon vorher. Vor fünf Jahren gab es einen grösseren Wechsel im Seelsorgeteam St. Martin und mit ihm kamen neue Ideen für die Pastoral. Auch waren und sind wir daran, die Zusammenarbeit zwischen den Pfarreien St. Marien und St. Martin zu fördern. Wir begannen, gemeinsam unsere neuen Ideen auf der Unterrichtsstufe der zweiten Klasse auszuprobieren. Das Projekt wurde von einem Coach begleitet. Die Unterrichtszeiten wurden erheblich reduziert und gemeinsame Elterntage eingeführt. Das Projekt war sehr aufwendig, sodass wir gar keine Zeit hatten, neben dem Unterricht auf den anderen Stufen das Projekt weiterzuentwickeln. Deshalb legten wir im Schuljahr 2017/ 2018 so etwas wie ein Brachjahr ein. Wir haben den Unterricht und alle weiteren katechetischen Angebote massiv reduziert. Im 2018/2019 boten wir dann auf der Unter- und Mittelstufe für die Kinder und ihre Eltern drei Tage zu je einem Thema an. Diese Tage fanden an einem Wochenende statt, die Eltern konnten den Samstag oder Sonntag wählen. Die Teilnahme erfolgte auf Einladung und war freiwillig. Erstaunlicherweise nahmen pro Tag um die 160 bis 200 Kinder und Eltern teil, was jeweils organisatorisch und logistisch eine grosse Herausforderung war. Wir Katechetinnen begleiteten an einem Wochenende gegen 400 Personen. Einzig die Vorbereitungen auf die Erstkommunion und die Firmung liefen wie gewohnt. Die Reduktion der Angebote gab uns Zeit und Kraft, die Katechese weiterzuentwickeln. Wir investierten an die 100 Sitzungsstunden. Und die Entwicklung ist nicht abgeschlossen, sie geht weiter.

CP: Ich würde gerne auch auf der Mittelstufe mit Modulen arbeiten.

PK: Mit der sechsten Klasse kann ich mir dies gut vorstellen. Die Kinder könnten an den Modulen der Oberstufe teilnehmen. Für die vierte und fünfte Klasse würde ich ein eigenes Programm aufstellen.

CP: Wir sind daran, den Unterricht pfarreiübergreifend zu gestalten. Ab nächstem Jahr haben wir gemeinsame Schülerlisten. Auch haben wir schon Anfragen aus anderen Pfarreien im Pastoralraum Berner Oberland, ob ihre Schüler der Oberstufe an unseren Modulen teilnehmen können. Ich kann mir in Zukunft gut vorstellen, dass Schüler aus anderen Pfarreien des Pastoralraums nach Thun kommen.

Ich merke, Sie entwickeln die Katechese gerade weiter. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, sondern die Erneuerung der Katechese geht Schritt für Schritt. Änderungen sind von Jahr zu Jahr möglich, Sie bringen laufend Ihre Ideen ein. Wir waren denn die Rückmeldungen?
PK: Durchwegs positiv. Die Eltern schätzen aber auch, dass sie jetzt nicht mehr so stark involviert sind wie im Schuljahr 2018/2019. Am diesjährigen Bettag gab es einen Familiengottesdienst mit anschliessendem Apéro, und die Eltern waren ganz erstaunt, dass sie einfach teilnehmen konnten und kein Ämtli übernehmen mussten. Wenn jemand etwas anbieten möchte, z.B. einen Workshop, sind wir offen dafür.

Welche Leitvorstellungen stehen hinter der Erneuerung?
CP: Leitvorstellungen? Natürlich bildet der LeRUKa2 den Rahmen unserer Arbeit. Die Fachstelle Religionspädagogik des Kantons Bern lancierte letztes Jahr das Projekt «Out oft the box – Katechese neu denken».3 Wir werden motiviert, freier zu unterrichten, weniger nach dem Schulsystem zu verfahren und lernzielorientiert zu arbeiten. Die Kinder sollen das christliche Leben erleben; Glaubenszeugnisse – mein eigenes und das von anderen – sprechen sie sehr an. «Out of the Box» lädt ein, weiterzudenken, die eigene Arbeit zu reflektieren, Neues zu wagen. Das Projekt machte mir deutlich, wie schnell ich wieder im Schema von Lernzielen bin, mit klaren Antworten. Die Verkündigung des Evangeliums ist mir ein Herzensanliegen. Das Evangelium ist – in wirtschaftlichen Kategorien gesprochen – ein tolles Produkt, aber wie bringe ich es an die Frau und den Mann? Diese Frage treibt mich sehr um.

Wie wurde die Neugestaltung der Katechese angegangen?
CP: Auf der Oberstufe bieten wir neu Module an.4 Jede Katechetin übernimmt zwei Module, und zwar in einem Gebiet, das ihr liegt, zu einem Thema, das sie begeistert und in dem sie stark ist.

KP: Die Teilnahme an den Modulen ist freiwillig, es gibt keine Pflicht. Wenn die Jugendlichen eines besuchen wollen, müssen sie sich aber anmelden. So sehen wir, ob ein Modul zustande kommt oder nicht. Für mich war es höchst interessant zu sehen, welche Module gewählt werden. Ich war sehr überrascht, dass z.B. das Modul «Meine Zeit – Deine Zeit – Keine Zeit» bei den Jugendlichen auf so grosses Interesse stösst.

CP: Auf der Unter- und Mittelstufe ist der Unterricht immer noch recht reduziert. Für die erste Klasse findet der Unterricht in der Pfarrei St. Marien an fünf Halbtagen zu je zwei Stunden statt, ebenso in St. Martin. Darüber hinaus gibt es einen Gottesdienst mit Eltern und einen gemeinsamen Anlass mit der Pfarrei St. Martin.5 Hinzu kommen Anlässe für die ganze Pfarrei wie der Erntedankgottesdienst am Bettag oder das Palmbinden.

Und die Freiwilligkeit führt nicht zu einem massiven Einbruch der Teilnahme?
PK: Nein. Diese Befürchtung hatten wir auch, aber die Teilnehmerzahlen zeigen ein anderes Bild. Wir haben in beiden Pfarreien zusammen gesamthaft 550 Schüler, davon haben sich 150 aus der Oberstufe für die Module oder den Firmweg angemeldet. Ich habe die Schülerlisten konsultiert; von jenen, die sich nicht angemeldet haben, weisen die meisten einen Migrationshintergrund auf. Die portugiesische und die kroatische Missionspfarrei beispielsweise bieten selber Religionsunterricht an.

Wie ist die Erneuerung der Katechese in die Gesamtpastoral eingebunden?
PK: Seit diesem Wechsel im Seelsorgeteam vor ein paar Jahren sind wir auf dem Weg, die Pastoral der Zukunft aufzugleisen, die Kirche von morgen zu gestalten. Es gilt, einiges an Angeboten loszulassen, um Raum für Neues zu schaffen. Wichtig ist, es braucht ein «Sowohl-als-auch», Bestehendes und Bewährtes sowie Neues sollen Platz haben. Im Zusammenhang mit der Pfarrei der Zukunft besuchten alle kirchlichen Mitarbeiter des Pastoralraums Berner Oberland in diesem Jahr eine Summerschool mit Christian Hennecke. Mit dabei waren auch Mitglieder des Pfarreirates und des Kirchenrates. Das war sehr wichtig. Ab diesem Herbst halten wir in der Kirchgemeinde 14-täglich eine Visionssitzung, dazu sind alle eingeladen, also auch der Sakristan und die Blumenfrau. Die Teilnahme ist freiwillig, aber wer sich anmeldet, ist verpflichtet, an allen Sitzungen teilzunehmen. Ich merke, durch diesen Prozess wird die Hierarchie in unseren Pfarreien flacher. Ich mache ein viel stärkeres Miteinander aus; alle sind in die Neugestaltung der Pastoral und der Pfarrei und in die anstehenden Entwicklungsschritte involviert.

Wie kommt die Neugestaltung der Katechese bei den Familien an?
PK: Für die Eltern ist es ungewohnt, dass die Angebote freiwillig sind. Sie fragen nach, ob es negative Konsequenzen habe, wenn ihr Kind nicht teilnimmt. Wir haben nur bei den Vorbereitungen auf die Erstkommunion und die Firmung eine verbindliche Anmeldung, die auch eine regelmässige Teilnahme impliziert.

CP: Wobei ich dies mit den Firmlingen eigens thematisiere. Als Beispiel bringe ich jeweils den Vergleich mit dem Fussball. Wenn sie beim grossen Cup mitspielen und gewinnen wollen, dann bedarf es des regelmässigen Trainings, das leuchtet ihnen sofort ein. Und die Jugendlichen wollen eine schöne Firmung erleben, so der Tenor der Antworten auf meine Frage, weshalb sie sich angemeldet haben. Also müssen sie regelmässig dafür «trainieren». Schwieriger ist, Begleitpersonen für den Firmweg zu finden. Aktuell habe ich drei Firmgruppen in der Pfarrei, für zwei haben sich Begleitpersonen finden lassen, für die dritte bin ich noch am Suchen. Ich habe jetzt die Eltern nochmals angeschrieben. Wenn sich niemand meldet, wird dieser Kurs fallengelassen. Ich könnte den Part übernehmen, aber wenn wir eine partizipative Kirche werden wollen, darf ich nicht in die Lücken springen. Kommt hinzu, dass unser Team aktuell unterbesetzt ist. Da müssen wir die Angebote reduzieren. Die Eltern sind nun herausgefordert. Es gilt von einer Konsum- zu einer partizipativen Haltung zu kommen. Dieser Wechsel braucht Zeit, und es ist klar, dass die Begleitung für viele Eltern auch eine Frage der Kräfte und der zeitlichen Kapazität ist und sie sich diese Aufgabe auch nicht zutrauen.

PK: Bei uns meldete sich eine Mutter für die Begleitung mit der Begründung, sie hätte sich bislang wenig mit dem Glauben befasst. Die Begleitung gäbe ihr die Gelegenheit, sich intensiver mit dem Glauben auseinanderzusetzen, zusammen mit ihrem Kind.

... und bei den Pfarreiangehörigen?
PK: Wir wurden schon mit Fragen konfrontiert: Was macht ihr? Weshalb findet der Unterricht nicht mehr wöchentlich statt? Es gab Unverständnis. Inzwischen fragen sie aber nach, wie es geht, und bieten Hilfe und Unterstützung an.

Was bedeutet diese Neugestaltung der Katechese für Sie in Ihrer Arbeit und für Ihre Rolle als Katechetin?
CP: Die Rolle der Katechetin ist ganz klar neu zu definieren. Ich werde zur Hörenden und habe davon abzusehen, immer gleich Antworten zu geben. Ich bin mit den Kindern und ihren Eltern unterwegs. Auf ihre Fragen habe ich keine fixen Antworten. Gemeinsam schauen wir, ob in der Bibel Antworten auf die Fragen zu finden sind. Ich begleite und höre, was die Kinder bewegt. Oft haben wir ganz falsche Vorstellungen von der Lebenswelt und den wirklichen Fragen der Kinder und geben Antworten auf Fragen, die sie gar nie stellen. Wir sind in der Ausbildung darauf «gedrillt» worden, klare Antworten zu geben. Es gilt nun vielmehr, sich das Zuhören als Haltung anzueignen. Und dies nicht nur im Unterricht, sondern in der ganzen Pastoral. Hierzu plane ich Strassenexerzitien anzubieten.6 Als Begleiter habe ich den Teilnehmern nur zuzuhören. Menschen schätzen es ungemein, dass ihnen jemand eine gewisse Zeit die volle Aufmerksamkeit schenkt und sie mit ihren Erfahrungen ernst nimmt.

PK: Unsere Aufgabe ist es, Raum zu schaffen, dass Beziehungen möglich werden. Ich habe die schöne Aufgabe, methodisch so zu arbeiten, dass Kinder, Jugendliche und Eltern lernen, sich selber zu hören und die Verbindung von Glauben und Leben zu knüpfen.

CP: An diesem Punkt würde ich gerne noch stärker intergenerativ arbeiten.

PK: Seit der Summerschool beschäftigt mich eine Frage intensiv. Es heisst in der Bibel, dass Gott Arbeiter sucht für die Ernte (vgl. Mt 9,37–38; Lk 10,2), es heisst nicht, er sendet Arbeiter für die Aussaat. Das bedeutet, ich muss Ausschau halten nach der Frucht dessen, was Gott aussäte und wachsen liess und diese Frucht ernten. Das ändert meine Aufgabe und Rolle als Katechetin fundamental. Was dies konkret für meine Arbeit heisst, hierzu habe ich noch keine abschliessende Antwort gefunden.

Wo sehen Sie das Potenzial und die Grenzen des Religionsunterrichts am Lernort Pfarrei und am Lernort Schule?
CP: Ich habe früher konfessionellen Religionsunterricht an der Schule gegeben und würde auf keinen Fall mehr zurück wollen.

PK: Ich habe nur während der Ausbildung konfessionellen Religionsunterricht an Schulen erteilt. Die Vorteile am Lernort Schule sehe ich darin, dass fächerübergreifend gearbeitet werden kann und eine homogene Klasse zu unterrichten ist. In unseren Pfarreien kommen die Kinder aus 17 bzw. 26 politischen Gemeinden, im Unterricht entsteht eine neue Gruppe, und es ist schön zu entdecken, dass in dieser zusammengewürfelten Gruppe Freundschaften entstehen, die auch im Erwachsenenalter noch bestehen. Am Lernort Pfarrei geniesse ich die vielfachen Freiheiten. Ich kann mit den Kindern in die Kirche gehen, den Innenhof nutzen und neue Ideen umsetzen. Letzte Woche besuchte ich zusammen mit einer Kollegin eine Fortbildung in «Godly play».7 Nun möchten wir diese Methode ab dem Kindergartenalter anbieten. Weiter haben wir Katechetinnen zum Ziel, dass sich die Kinder und Jugendlichen nicht nur im Pfarreizentrum zum Unterricht treffen, sondern dass wir für bestimmte Angebote zu ihnen in die Gemeinden hinausgehen. Auch in der Katechese soll die Komm-Struktur durch eine Geh-Struktur ergänzt werden.

Interview: Maria Hässig

 

1 Die beiden Pfarreien umfassen insgesamt 43 politische Gemeinden und zählen rund 12'000 Katholiken. Jede Pfarrei ist flächenmässig fast so gross wie der Kanton Zug.

2 Lehrplan für den konfessionellen Religionsunterricht und die Katechese für die Deutschweiz.

3 Mehr hierzu: https://out-of-the-box.blog

4 Mehr Informationen zu den Modulen auf der Oberstufe finden sich auf der Webseite der Pfarrei Thun unter «Leben entdecken».

5 Zum Angebot auf Unter- und Mittelstufe finden sich weitere Angaben auf der Webseite der Pfarrei Thun unter «Leben entdecken».

6 Strassenexerzitien wurden von Christian Herwartz, Jesuit und Arbeiterpriester, in Berlin entwickelt. Strassenexerzitien werden auch von der City-Pastoral in Luzern angeboten.

7 Mehr zu Godly play siehe: www.reli.ch/godly-play-gott-im-spiel-im-religionsunterricht mit weiterführenden Links.