Göttliche Ökonomie

16. Sonntag im Jahreskreis: Kol 1,24–28 (Gen 18,1–10a; Lk 10,38–42)

Auch wer des Griechischen nicht mächtig ist, dürfte bei der Lektüre unseres Textes in der Originalsprache einige Wörter mit konkreten Vorstellungen assoziieren: So ist in unserem Text von «diakonos» die Rede, von «oikonomia», aber auch von «energeia» und «dynamis». Die Assoziationen, die wir mit diesen «bekannten» Begriffen verknüpfen, sind natürlich nicht unbedingt mit dem ursprünglich Gemeinten identisch. Sprache – auch die Sprache eines heiligen Textes – ist an einen bestimmten zeitlichen und kulturellen Rahmen gebunden. Dennoch weisen diese groben Assoziationen wohl auf eine Entwicklung hin, die sich nicht nur in der Gemeinde von Kolossae, sondern allgemein in der frühchristlichen Gesellschaft abzeichnet: Es geht um eine zunehmende Institutionalisierung. Paulus ist abwesend, vielleicht schon gestorben. Wie soll es nun weitergehen? Wie sollen sich diese Christen der «dritten Generation» organisieren, wer soll die Führung übernehmen?

Der Kolosserbrief «zwischen den Kulturen»

Paulus – und der ihm in manchem ähnliche Verfasser des Kolosserbriefes – war ein Mensch zwischen den Kulturen: Paulus war ein Jude, der in der Diaspora, in Tarsus im Gebiet der heutigen Südtürkei als römischer Bürger lebte (Apg 22,28). Er sprach und schrieb Griechisch, war aber auch mit dem Hebräischen vertraut: So studierte er im Lehrhaus von Rabban Gamliel, einem der bedeutendsten rabbinischen Gelehrten jener Zeit (Apg 22,3). Durch diese Zugehörigkeit zu mehreren Sprachen und Kulturen gleicht Paulus zahlreichen Menschen in unserer heutigen Welt, die sich in mehreren Kulturen bewegen: Sei es als Migranten/ innen und «Secondos» oder als Menschen, die in einer gemischten Partnerschaft leben. Und wie zahlreiche Menschen, die sich in verschiedenen Kulturen und Sprachen bewegen, hatte Paulus ein Problem: Er musste Ideen und Begriffe, die an eine bestimmte Sprache und Vorstellungswelt gebunden sind, in einer anderen Sprache ausdrücken, was durchaus zu Missverständnissen führen kann. Diese Mehrsprachigkeit und damit einhergehende «Multikulturalität» war offenbar auch in Kolossae eine Realität: So wurde an der Stelle des antiken Kolossae eine Inschrift gefunden, die «Markus, dem Sohn des Markus, dem leitenden Übersetzer und Interpreten der Kolosser»1 gewidmet ist!

Wir Heutigen haben zusätzlich das Problem, dass wir nicht nur die Sprache des Kolosserbriefes übersetzen müssen, sondern auch eine Spanne von ungefähr 2000 Jahren zu überbrücken haben: Wenn von «oikonomia» die Rede ist, geht es im Kolosserbrief zweifellos nicht um die Rettung des Euro. Doch worum geht es? Welche von Gott gegebene «Funktion» haben Paulus und seine Schüler (und Schülerinnen, siehe Kol 3 ,15) in der Kirche inne? Die Einheitsübersetzung sowie weitere deutsche Übersetzungen geben «oikonomia» mit «Amt» wieder, was im Kontext der heutigen Kirche natürlich wiederum ganz konkrete, wohl etwas anachronistische Assoziationen hervorruft. Ich möchte deshalb versuchen, etwas «Spracharchäologie» rund um den Begriff «oikonomia» zu betreiben, um dieser Frage näher zu kommen.

 «Oikonomia» ist ein in der griechischen Literatur häufig vorkommender Begriff. Er bezeichnet die Verwaltung eines Hauses, die effiziente Bewirtschaftung desselben und dann auch die Folge davon, nämlich die öffentlichen Einkommen eines Staatswesens. «Oikonomia» bedeutet nicht einfach eine gute Stellung für denjenigen, der sie innehat, sondern sie hat etwas mit Verantwortung und Voraussicht zu tun, denn ohne diese führt «oikonomia» nicht zu Ertrag, sondern bringt Verluste ein. Schon vor Paulus wurde das Wort «oikonomia» im Kontext des Judentums verwendet. So erscheint der Begriff bereits in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, an mehreren Stellen. In Jes 22,19 f., wo es um die Leichtsinnigkeit und Überheblichkeit der Bewohner Jerusalems geht, wird beispielsweise das Wort «ma’amad» mit «oikonomia» übersetzt. Mit «ma’amad» ist die Stellung gemeint, die ein gewisser Schebna als Vorsteher des Palastes innehat und schlecht ausübt. Ähnlich wird im Lukasevangelium in einem Gleichnis ein «oikonomos», ein Verwalter, erwähnt, der das ihm anvertraute Vermögen verschleudert (Luk 16,1–8). Das Gleichnis dient als Beispiel dafür, wie wichtig der verantwortungsvolle und zuverlässige Umgang mit anvertrauten Dingen ist (Luk 16,9–12). In den Paulusbriefen erscheint der Begriff mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen. Im Epheserbrief ist an mehreren Stellen von «oikonomia» die Rede. Gemeint ist damit offenbar das Wirken oder der Plan Gottes (Eph 1,10; Eph 3,2.9). Der Mensch, dem diese «oikonomia» übertragen wird, soll durch sie wohl ein kleines Stück zur Realisierung dieses göttlichen Planes beitragen. Mit «oikonomia» ist zwar durchaus eine Stellung verbunden, die sich jedoch durch Verantwortung und Voraussicht sowie durch die Sorge um das Wohl des Anvertrauten ausdrückt.

Paulus hat demnach den Auftrag, die christliche Gemeinde nach Gottes Plänen zu verwalten. Wie unsere Stelle aus dem Kolosserbrief zeigt, ist dies keine leichte Aufgabe: Die «Leiden» des Paulus, die er für die Gemeinde auf sich nimmt (Kol 1,14), bestehen vielleicht auch in den Schwierigkeiten, die eine solche verantwortungsvolle Verkündigung über Sprachen und Kulturen hinweg mit sich bringen kann. So mühsam diese Aufgabe zwar sein kann, so ist sie doch auch mit «Freude» verbunden (Kol 1,24): Paulus muss sich wie ein Wettkämpfer anstrengen, doch Gott hat ihm auch die nötige «Wirkmacht, die in ihm kraftvoll wirkt» (Kol 1,29), gegeben, um diese schwierige Aufgabe zu bewältigen.

Heute mit dem Verfasser des Kolosserbriefes im Gespräch

Wie kann nun aber dieser «Auftrag» konkret erfüllt werden? Unser Text macht einige Angaben über die Ausübung der von Gott gegebenen «Ökonomie»: In Kol 1,28 besteht diese Aufgabe, die dem Paulus übergeben wurde, in der Verkündigung Christi: «Ihn verkündigen wir; wir ermahnen jeden Menschen und belehren jeden mit aller Weisheit, um dadurch alle in der Gemeinschaft Christi vollkommen zu machen.» In Kol 3,16 wird genau das von der gesamten Gemeinde erwartet: «Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit!» Diese Tendenz zu einer Institutionalisierung der frühen christlichen Gemeinden scheint also durchaus etwas Gemeinschaftliches, Kollaboratives gewesen zu sein: Nicht nur der Vorsteher «ermahnt» und «lehrt», sondern auch die Gemeindemitglieder «ermahnen» und «lehren» einander gegenseitig. Die «oikonomia » beruht auf Zusammenwirken und Gegenseitigkeit. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen wäre wohl einer gelungenen Ökonomie in all ihren zeitlichen und kulturellen Ausformungen vom frühchristlichen Amtsverständnis bis zum Weltwirtschaftsgipfel förderlich. Wäre eine solche respektvolle Gegenseitigkeit nicht auch ein wichtiger Schritt zu einer lebendigen Kirche, die es verdient, «Leib Christi» genannt zu werden (Kol 1,24), und die Platz für alle Menschen – egal welcher Herkunft, Sprache oder Kultur – bietet (Kol 1,28)?

1 Zu dieser Inschrift siehe Lukas Bormann: Der Brief des Paulus an die Kolosser. Leipzig 2012, 26 f. (= Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 10/I).

Simone Rosenkranz

Simone Rosenkranz

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig