Gnadenstand, Lebensstand und öffentliche Bedeutung der Ehe

Auf dem Weg zum Licht der Menschwerdung

Mit dem Pontifikat von Franziskus erhält die Seelsorge gleichsam im Erdgeschoss der Institution neue Impulse. Die Kirche insgesamt ist seit dem ersten Schreiben über die Freude des Evangeliums (EG) neu zu denken, meinte Stefan Reis Schweizer (NZZ 29. Nov. 2013), und veritable Mit-Denk-Prozesse sind durch die Bischofssynoden in Gang gesetzt. Das nachsynodale Schreiben «Amoris Laetitia» (AL) beschäftigt nun besonders. So sieht Eberhard Schockenhoff einen Paradigmenwechsel und die Ermutigung zum persönlichen Gewissensurteil.1 Stephan Kampowski hingegen plädiert an dieser Stelle für die öffentliche Bedeutung der Ehe.

In Amoris laetitia betont Franziskus, dass Menschen auf viele Schwierigkeiten stossen und dass es mildernde Umstände gibt, aufgrund derer es «nicht mehr möglich (ist) zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‹irregulären› Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden» (AL 301). Einige haben in dieser Aussage ein Argument zugunsten einer möglichen Zulassung zumindest einiger der in neuer Verbindung lebenden Geschiedenen zu den Sakramenten gesehen. Es sei ein neues Bewusstsein gewonnen worden, das zu einer neuen Praxis führen müsse. Jedoch ist diese Einsicht gar nicht neu, weshalb sich die angeführte Stelle nicht als Argument für eine Änderung der Praxis eignet. In Ecclesia de Eucharistia zum Beispiel schreibt Johannes Paul II.: «Es ist offensichtlich, dass das Urteil über den Gnadenstand nur dem Betroffenen zukommt, denn es handelt sich um ein Urteil des Gewissens» (Nr. 37). Die kirchliche Tradition und Praxis hat immer davon Abstand gehalten, ein negatives Urteil über den Gnadenstand einer Person auszusprechen. In der Tat ist die Praxis, die zivil wiederverheirateten Geschiedenen nicht zur Eucharistie zuzulassen – es sei denn, sie zeigen objektive Zeichen der Reue, eine solche aussereheliche Beziehung eingegangen zu sein (die Entscheidung, enthaltsam zu leben) – nicht gleichbedeutend mit dem Urteil, dass sie in einem Stand der Todsünde leben. Es ist ein Urteil über ihren Lebensstand, der im objektiven Widerspruch zum Geheimnis des Treuebundes zwischen Christus und seiner Kirche steht, das in der Eucharistie gefeiert wird. Es handelt sich nicht um ein Urteil über ihre Seele, dessen Zustand Gott allein kennt.

Über den Gnadenstand urteilen

Ausserdem muss man sich folgende Frage stellen: Wenn ein negatives Urteil über den Gnadenstand eines Menschen wohl zweifellos anmassend ist, warum ist dann nicht auch ein positives Urteil darüber anmassend? Wie lässt sich das Gewicht möglicher mildernder Umstände, gesellschaftlicher Einflüsse und psychologischer Grenzen messen? Wenn die Kirche ihre Heiligen kanonisiert, folgt sie einem genau geregelten Verfahren. Und was am wichtigsten ist: Die Menschen, die der Prüfung unterzogen werden, müssen schon aus diesem Leben geschieden sein: nemo ante mortem beatus. Zu Lebzeiten müssen sie im Ruf der Heiligkeit gestanden haben. Falls es sich nicht um Märtyrer handelt, besteht die Erfordernis von attestierten Wundern, die auf die Fürsprache der Kandidaten zurückzuführen sind. Auf welcher Grundlage sollte nun ein einzelner Pfarrer in der Lage sein, einen noch lebenden Menschen seligzusprechen, der sich in einem öffentlichen Zustand objektiver Sünde befindet und mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Wundertäter ist? Oder mit anderen Worten: Wie könnte ein Beichtvater in der Lage sein, zu unterscheiden, ob Menschen, die ihrem Ehegatten gewohnheitsmässig und öffentlich untreu sind, dennoch in der Gnade Gottes leben? Er bräuchte schon die übernatürliche Gabe der Seelenschau, wie sie Pater Pio nachgesagt wurde. Die Unterscheidung, von der Franziskus in Amoris laetitia spricht, hat eine andere Bedeutung.

Frage nach der öffentlichen Natur des Lebensstands

Es geht bei der Zulassung oder Nicht-Zulassung zur Eucharistie und zu den anderen Sakramenten dann auch nicht um die Frage der Unterscheidung des Gnadenstandes eines Menschen, sondern um den öffentlichen Lebensstand. Aber warum ist die Frage nach der öffentlichen Natur eines Lebensstands so wichtig? Es herrscht weithin Einigkeit darüber, dass ein Mensch, um die Eucharistie zu empfangen, in seinem Gewissen sagen können muss: «Ich bin mir keiner Todsünde bewusst.» Das ist eine notwendige Bedingung für den Kommunionempfang. Warum sollte das nicht ausreichen? Das ist natürlich keine neue Frage. So hat sich zum Beispiel die Kongregation für die Glaubenslehre schon zu diesem Problem geäussert und vor allem die Frage behandelt, ob die in neuer Verbindung lebenden geschiedenen Gläubigen «in bestimmten Fällen, … sofern sie sich in ihrem Gewissensurteil dazu ermächtigt hielten»2, die heilige Kommunion empfangen könnten. Die betroffenen Personen könnten zum Beispiel von der Nichtigkeit ihrer Ehe überzeugt sein. Der Grund, warum die private Unterscheidung im inneren Forum nicht ausreicht, liegt darin, dass «die Ehe … wesentlich eine öffentliche Wirklichkeit dar(stellt)» (Nr. 7). In der Tat ist «der Konsens, der die Ehe konstituiert, nicht eine blosse Privatentscheidung …, weil er für jeden Partner und das Ehepaar eine spezifisch kirchliche und soziale Situation konstituiert» (Nr. 8). Wenn die Ehe eine Privatangelegenheit wäre, dann wäre das private Urteil über ihre Ungültigkeit ausreichend, um dann den Eheschluss mit jemand anderem zu versuchen. Doch wenn die Gatten die Ehe schliessen, tun sie etwas, das über sie beide hinausgeht. Sie treten in eine kirchliche und gesellschaftliche Realität ein. Da es sich um eine kirchliche Realität handelt, wird die Ehe durch die Kirche vermittelt. Sie betrifft nicht nur die individuelle Beziehung jedes Ehegatten mit Gott und nicht nur das, was die beiden als Paar übereinander denken oder füreinander empfinden. Sich der Bedeutung der kirchlichen Vermittlung nicht bewusst zu sein, «die auch die im Gewissen verbindlichen kanonischen Normen einschliesst», würde bedeuten, «die Ehe faktisch als Wirklichkeit der Kirche, das heisst als Sakrament, zu leugnen» (Nr. 8). Daher erfordert die Frage der Nichtigkeit einer Ehe eine Unterscheidung «auf dem von der Kirche festgelegten Weg des äusseren Bereichs» (9). Im Zeitalter des Liberalismus warnt Papst Franziskus vor einem «ausufernden Individualismus …, der die familiären Bindungen entstellt und dazu führt, jedes Mitglied der Familie als eine Insel zu betrachten» (AL 33). Vom individualistischen Standpunkt aus dient die Gesellschaft nur dazu, die Bürger voreinander zu schützen. Die Gesellschaft ist dann eine Ansammlung von Individuen, und auch die Kirche ist nach diesem Ansatz nichts als eine Ansammlung einzelner Gläubiger, von denen jeder eine persönliche Beziehung zu Jesus hat. Die Eucharistie wird einfach und ausschliesslich als Moment persönlicher Vertrautheit mit dem Herrn gesehen. Wenn mein Gewissen, das verborgendste Heiligtum, wo ich alleine vor Gott stehe, mir sagt, dass Jesus und ich uns gut verstehen, wer wird mir dann das Gegenteil sagen? Wer wird mich davon abhalten, mich ihm zu nähern? Aus dieser Perspektive wird es vollkommen unverständlich sein, dass die Kirche der öffentlichen Natur eines bestimmten Lebensstandes eine solche Bedeutung beimessen kann.

Empfang der Eucharistie keine Privatsache

Papst Franziskus hingegen weist auf «die innigen Verbindungen, die zwischen dem Eheleben und der Eucharistie bestehen» (AL 318), hin. Gerade wie die Ehe nicht nur eine Privatangelegenheit zwischen mir, meinem Ehegatten und Jesus ist, so ist der Empfang der Eucharistie keine reine Privatsache. Der Heilige Vater unterstreicht, dass den Leib des Herrn zu unterscheiden bedeutet, «ihn glaubend und liebend sowohl in den sakramentalen Zeichen als auch in der Gemeinde zu erkennen» (AL 186). Bei der Mahnung des heiligen Paulus, nicht am Mahl des Herrn teilzunehmen, ohne den «Leib zu unterscheiden» (vgl. 1 Kor 11,29), kann es nicht nur um eine Frage des individuellen Gewissens gehen. Es ist sowohl eine Unterscheidung des Leibes Christi, der im sakramentalen Zeichen gegenwärtig ist, als auch des Leibes Christi, der die Kirche ist. «Die Eucharistie verlangt die Eingliederung in einen einzigen kirchlichen Leib» (AL 186). Wenn es stimmt, dass die Gläubigen durch die Eucharistie in den kirchlichen Leib eingegliedert werden, dann ist es nachvollziehbar, dass das, was die Gläubigen öffentlich in ihrem eigenen Leibe tun – im hier diskutierten Falle in einem Stand leben, in dem sie ihrem Ehepartner gewohnheitsmässig untreu sind –, für die Frage des Kommunionempfangs von Bedeutung ist, d. h. sie in diesem Falle davon ausschliesst. Der Widerspruch zwischen Lebensstand und der Eucharistie als Geheimnis der unbedingten Treue Christi für seine Kirche ist objektiv. Diesen Widerspruch einfach aufheben zu wollen, ohne den betreffenden Personen die Perspektive einer Änderung ihres Lebensstandes zu öffnen, würde bedeuten, jegliches Band zwischen Leben und Liturgie, zwischen Ethos und Sakrament zu durchtrennen. Dies würde wiederum bedeuten, die Sakramentalität der Ehe und letzten Endes gar die sakramentale Struktur der Kirche in Frage zu stellen. Dies ist sicher nicht die Absicht von Papst Franziskus, der mit Benedikt XVI. hervorhebt, dass «die ‹Mystik› des Sakraments … sozialen Charakter (hat)».3 Die Sakramente sind nicht etwas Individualistisches und Spiritualistisches, sondern gerade dadurch, dass sie die Leiblichkeit betreffen, etwas, das sozialen und somit öffentlichen Charakter hat, für den das Leben der Menschen von Bedeutung ist.

 

1 Anm. der Redaktion: Vgl. E. Schockenhoff: Theologischer Paradigmenwechsel und neue pastorale Spielräume, in: Lebendige Seelsorge 67 (2016) 240–246, 243 und Walter Kardinal Kasper: «Amoris laetitia»: Bruch oder Aufbruch? In Stimmen der Zeit 141 (2016) Heft 11, 723–732. Das Gespräch über Amoris Laetitia wird in späteren SKZ-Ausgaben fortgesetzt.

2 Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen (14. 9. 1994) Nr. 3. Folgende Zahlen verweisen auf das Dokument. Vgl. www.vatican.va/roman_ curia/congregations/cfaith/ documents/rc_con_cfaith_ doc_14091994_rec-holy-comm-by-divorced_ge.html

3 AL 186 zitiert Deus caritas est Nr. 14.

Stephan Kampowski

Prof. Dr. Stephan Kampowski ist Ordentlicher Professor für philosophische Anthropologie am Institut «Johannes Paul II.» für Studien über Ehe und Familie in Rom.