Gesundheit – das höchste Gut?

Der Arzt als Gott, Kupferstich von Hendrik Goltzius aus einer Folge von vier Allegorien des Arztberufes, um 1587. (Bild: Wikipedia)

 

«Ihre Gesundheit ist uns wichtig» – diese Bemerkung ist gegenwärtig an Geschäftseingängen, Bäckereien und Apotheken zu lesen, und dazu: «Darum sollten maximal zwei Personen gleichzeitig eintreten.» Die weitreichenden Schutzmassnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 zeigen in aller Deutlichkeit, wie wichtig uns Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt die Gesundheit ist. Sie ist unbestrittenermassen ein hohes Gut.

Im Kontext von Covid-19 ist klar, was mit «krank» und was mit «gesund» gemeint ist. Gewöhnlich ist das weniger eindeutig: Meist wird Gesundheit mangels besserer Alternativen als Abwesenheit von Krankheit beschrieben. In diesem Sinne prägte Hans-Georg Gadamer (1900–2002) das Wort von der «Verborgenheit der Gesundheit». In der berühmten WHO-Definition von 1948 klingt es anders: Hier wird die Gesundheit als der «Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche» verstanden. In dieser Lesart wird die Gesundheit quasi mit Glück oder einem geglückten Leben gleichgesetzt.

Diese Spannung zwischen Verborgenheit und Glück bestimmt die Wahrnehmung und Bedeutung von Gesundheit auch heute. Wird die Gesundheit mit einem sinnvollen, geglückten Leben gleichgesetzt, dann ist kaum ein Gut denkbar, das noch höher veranschlagt werden könnte. Dann gerät sie spirituell in den Bereich, den die christliche Theologie mit Heil- oder Ganzsein beschreibt. Realistisch ist das hingegen nicht, auch nicht evangeliumsgemäss: Wir Menschen sind erlösungsbedürftige Wesen, wie die gegenwärtige Pandemie überdeutlich zeigt. Gesundheit ist vielmehr ein Ermöglichungsgut, sie ist Voraussetzung zur Verwirklichung vieler anderer Güter, die im Leben wichtig sein können. Ein angemessenes menschliches Verständnis von Gesundheit betont daher die Fähigkeit, mit Einschränkungen, Schmerzen, Behinderungen, kurz: dem Fragmentarischen in uns umgehen und leben zu können. Anders droht eine Divinisierung der Gesundheit, die Erwartungen erzeugt, die enttäuscht werden müssen.

Dass medizinische Heilung und religiöses Heil aufeinander bezogen sind, zeigt beispielsweise die Christus-medicus-Tradition: Christus wird typischerweise als Arzt mit dem Uringlas in der Hand dargestellt, Heilsein meint Heilung von Krankheiten, aber auch religiöses Heil.

Die gegenwärtige Covid-19-Krise führt es uns vor Augen: Es ist ein Segen, gesund zu bleiben oder nach einer Ansteckung wieder zu genesen. Gleichzeitig ist klar, dass mit dem Menschsein die Gefährdung an Leib und Leben, die Verletzlichkeit unabdingbar verbunden ist. Menschen mit chronischen Erkrankungen und Menschen im hohen Alter erfahren dies momentan auf besondere Weise. Was sie erleben, ist aber nicht «ihr» Problem, sondern früher oder später das aller Menschen. Ziel könnte es sein, ein Leben zwischen Widerstand und Ergebung zu führen, mit der Hoffnung auf medizinische Heilung im Krankheitsfall und der Hoffnung auf die Gnade des endgültigen Heilseins.

Markus Zimmermann

 

 

Prof. Dr. Markus Zimmermann (Jg. 1962) ist seit 2010 Lehr- und Forschungsrat sowie seit 2014 Titularprofessor für Christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ue. Er ist Mitglied und Vizepräsident der NEK.