Geschwisterpaar Glaube und Zweifel

Der Apostel Thomas zweifelte ausgerechnet an der Auferstehung Jesu Christi. Seitdem ist der «ungläubige Thomas» zum festen Begriff geworden. Zweifel und Glaube als rivalisierende Geschwister?

Thomas ist schuld. Vielleicht auch Johannes, der Evangelist, der die nachösterliche Begegnung zwischen Thomas und Jesus schildert. Wie konnte Thomas nur bezweifeln, was seine Freunde ihm berichteten? Jetzt scheint Thomas von Jesus aus dem Kreis der «Seligen» ausgeschlossen zu werden: «Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben» (Joh 20,29).

Seitdem hat der Zweifel einen schlechten Ruf. Gilt er doch als Zeichen mangelnden Glaubens. Der Zweifel aber hat Konsequenzen: In einer Engführung des von Paulus entwickelten Verständnisses der göttlichen Gnade wurde und wird oft gepredigt, dass von der Erlösung ausgeschlossen sei, wer nicht glaubt – wer zweifelt. Diese Drohung bezog sich lange auf das Jüngste Gericht, in dem die nicht ausreichend Glaubenden der ewigen Verdammnis anheimfallen werden. Eine solche Erwartung wird heute von vielen Christen nicht mehr geteilt. Die Warnung vor dem Zweifel hat deshalb ihre Richtung geändert. Sie bezieht sich nun häufig auf die Gegenwart: Wer nur fest genug glaube, so heisst es, dem gehe es in jeder Lebenslage gut. Wer dagegen von Trauer, Angst, Antriebslosigkeit, gar von drohender Verzweiflung geplagt werde, erkenne daran seinen unzureichenden Glauben. Verhängnisvoll muss sich ein solches Verständnis von Glaube und Zweifel auswirken. Nicht nur, indem es Leidenden die Schuld an ihrem Leiden gibt. Es wird auch dazu führen, dass sich die so Glaubenden jeden Zweifel verbieten müssen, dass sie alles von sich fernhalten müssen, was sie in Trauer und Ratlosigkeit stürzen kann. Denn würden sie dieser Wirklichkeit Raum geben, könnte ihr Glaube Schaden und dann das Unheil erst recht seinen Lauf nehmen.

Diese Verdrängung der Fragwürdigkeiten und Abgründe menschlichen Lebens führt zu keinerlei Heil, sondern in Krankheit und Verzweiflung. Schon um der Menschen willen, die in eine solch ausweglose Situation geraten sind, ist es geboten, über Glaube und Zweifel noch einmal neu nachzudenken. Ein redlicher Umgang mit der Wirklichkeit ist gefragt, wenn es um einen lebensdienlichen und theologisch verantwortbaren Glauben geht.

Wahrnehmung versus Überzeugung

Es sei nochmals bei Thomas angefangen. Er bezweifelt den Bericht seiner Freunde, sie hätten den Gekreuzigten lebend gesehen. So fern ist diese Behauptung seinen eigenen Vorstellungen über die Welt und das in ihr Mögliche; so fern offenbar auch seinen Vorstellungen von dem, was Gott in dieser Welt tun und nicht tun kann; so fern, dass er gar nicht daran denkt, sich von diesem Bericht in irgendeiner Weise irritieren zu lassen. Sein Zweifel bezieht sich deshalb nicht auf seine eigenen Vorstellungen und Überzeugungen – sondern auf die Behauptungen seiner Gefährten. Da muss schon mehr kommen, um seine Gewissheiten zu erschüttern. Aber immerhin scheint er bereit, sie erschüttern zu lassen: «Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe …» (Joh 20,25).

Daran anknüpfend lässt sich genauer bestimmen, was eigentlich «Zweifel» sind, worauf sie sich richten. Zweifel gibt es nicht nur im Bereich der Religion. Sie lauern überall, wo es Meinungen, Vorstellungen und Überzeugungen gibt, mit deren Hilfe Menschen ihre Welt und ihr Leben verstehen und gestalten. Zweifel bricht immer dann auf, wenn das, was wir für wahr halten, dem widerspricht, was wir wahrnehmen. Für unseren Zusammenhang bedeutet das: Wo immer Menschen ihre religiöse Überzeugung für ihren Glauben halten, gefährdet der Zweifel ihre Glaubensüberzeugung.

Betrifft der Zweifel nicht marginale Aspekte, sondern grundlegende Überzeugungen, scheinen zunächst nur zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder wird die Wahrnehmung bezweifelt, geprüft, gegebenenfalls korrigiert oder ausgeblendet oder die Überzeugung in Zweifel gezogen und im Ernstfall der Glaube aufgegeben.

Das sei kurz an zwei Beispielen erläutert, die zur Glaubenserfahrung sehr vieler Christen gehören dürften: am Bittgebet und am Glauben an die Allmacht Gottes.

Unerfüllte Bitten und das Leid der Welt

«Bittet, dann wird euch gegeben» (Lk 11,9–13). Zahlreich und ermutigend sind die Aufforderungen zum Bittgebet in der Bibel wie in der kirchlichen Tradition. Aus ihnen nährt sich der Glaube, dass Gott den Bittenden ihre Bitten erfüllt. Doch unvermeidlich ist die Erfahrung, dass genau dies nicht immer geschieht. Warum verhindert oder lindert Gott das Leid nicht, obwohl wir ihn so inständig bitten? Warum lässt er himmelschreiendes Unrecht geschehen? Warum schenkt er mir oder wenigsten meinen Lieben nicht ein erfülltes Leben? Zweifel an Gott kommen auf, wenn er eines seiner wichtigsten Versprechen nicht erfüllt. Viele Gläubige versuchen, den Zweifel zu beruhigen, indem sie ihre Wahrnehmung infrage stellen. Haben sie falsch oder nicht genug gebetet? War das, was geschah, die Erfüllung der flehentlich vorgetragenen Bitte und der Bittende hat dies nur noch nicht erkannt? Oder schenkte Gott mir viel mehr, für mich viel Besseres als ich erbeten habe? Wenn diese Versuche, ihn zu beruhigen, scheitern, wendet der Zweifel sich gegen den Glauben an einen Gott, der Gebete erhört. Und viele hören auf zu beten, zu glauben. Denn der Zweifel hat eine ihrer zentralen Gottesvorstellungen zerstört.

«Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen …». Dass nur ein allmächtiger Gott Gott genannt werden kann, wird nicht nur von der Bibel bezeugt, sondern auch von vielen philosophischen Gotteslehren. Der Gedanke scheint in vieler Hinsicht zwingend. Doch ist er angesichts der Erfahrung von Leiden, Bosheit und Katastrophen noch überzeugend, wenn man zugleich an einen liebenden Gott glaubt? Viele haben auf diese Frage eine positive Antwort gesucht – und niemand vermochte alle zu überzeugen. Unzählige haben gerade nach dem Völkermord an den Juden ihren Glauben an Gott verloren, weil sie an seine Allmacht nicht mehr glauben konnten.

Rehabilitierung des Thomas

Noch einmal Thomas: Es kommt zu der von ihm geforderten Begegnung mit Jesus. Er sieht und hört ihn, wie genau, wissen wir nicht. Doch im Fortgang der Erzählung kommt es zu zwei Überraschungen: Obwohl Jesus Thomas ausdrücklich auffordert, die Wundmale zu berühren, und obwohl diese Berührung in der Kunstgeschichte unendlich oft dargestellt wurde: Im Text ist von ihr nichts zu lesen. Stattdessen nur der Ausruf: «Mein Herr und mein Gott» (Joh 20,28). Auch der ist überraschend. Denn dieser Ausruf hat keinen Inhalt. Er spricht nicht, wie es doch so nahegelegen hätte, von der Auferweckung Jesu. Der Ausruf ist reine Anrede, Antwort auf die Worte Jesu, lebendige Beziehung zu ihm. Von Vorstellungen oder Überzeugungen ist nicht die Rede.

Es gibt, wo Zweifel auftritt, also noch ein Drittes zwischen Wirklichkeitsverleugnung und Glaubensaufgabe: Die Überwindung der Vorstellungen und Überzeugungen durch den Zweifel, der in den Glauben führt.

Diese Unterscheidung zwischen Glaube und Überzeugung ist schon in der Bibel zu finden und wurde in der frühen Kirche aufgegriffen. Die Theologie unterschied zwischen Glaubensinhalt und Glaubensvollzug, den gläubigen Vorstellungen und der glaubenden Liebe zu Gott. Die Liebe zu Gott ist die Ausrichtung des Denkens, Handelns und Lebens an seiner Wirklichkeit. Hinter dieser Liebe bleiben die Vorstellungen und Überzeugungen von Gott, selbst die kirchlich festgelegten Aussagen über ihn, immer zurück. Denn sie alle sind menschliche Gedanken, Worte und Bilder – und deshalb so begrenzt wie Menschen es nun einmal sind. Das macht sie nicht wertlos. Sie können und sollen eine Hilfe sein, sich auf die Wirklichkeit Gottes auszurichten. Doch oft stehen sie auch zwischen den Menschen und Gott. Sie dann hinter sich zu lassen, muss nicht das Ende, sondern kann ein Akt des Glaubens sein. Schon Thomas kam, nachdem sein Zweifel seine Überzeugungen überwunden hatte, mit sehr wenigen Worten aus. Martin Buber stellt nur noch ein einziges, kleinstmögliches Wort in den Mittelpunkt des Glaubens: «Du». Damit wird der Glaube konzentriert, aber nicht inhaltsleer. Der Philosoph Hans Jonas etwa hat sich nach Auschwitz von der Überzeugung, Gott sei allmächtig, verabschiedet, um seinen Glauben an die Liebe Gottes erhalten zu können.

So erscheint der Zweifel mit einem Mal als Begleiter des Glaubens, den er davor bewahrt, an seinen Überzeugungen zu zerbrechen. Vielleicht ist ein solcher Glaube ohne feste Überzeugung der Glaube «ohne zu sehen», den Jesus am Ende der Thomas-Erzählung seligpreist. Damit würde auch Thomas endlich die ihm gebührende Ehre zuteil. Elazar Benyoëtz, als jüdischer Dichter und Sprachschöpfer um den Glauben ringend, schreibt: «In Zweifel gezogen, dehnt sich der Glaube aus»1.

Michael Bongardt

 

1 Benyoëtz, Elazar, Variationen über ein verlorenes Thema, München/Wien 1977, 46.

 


Michael Bongardt

Dr. theol. Michael Bongardt (Jg. 1959) ist Professor für Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie an der Universität Siegen (D). Von ihm sind zahlreiche Veröffentlichungen erschienen zum Werk von Elazar Benyoëtz, zum Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen und zur Möglichkeit des Glaubens in säkularen Gesellschaften.