Geschichten für die messianische Zeit

Drei Sommersonntage lang, vom 15. bis zum 17. Sonntag im Jahreskreis, sieht die Leseordnung eine fortlaufende Evangelienlesung vor: die Gleichnisrede im Matthäusevangelium (13. Juli: Mt 13,1–23 oder 1–9; 20. Juli: Mt 13,24–43 oder 24–30; 27. Juli: Mt 13,44–52 oder 44–46).

Die Gleichnisrede steht prominent in der Mitte der fünf grossen Reden, die Jesus im Matthäusevangelium hält (Bergpredigt: Mt 5–7; Aussendungsrede: Mt 10; Gleichnisrede: Mt 13; Gemeinderede: Mt 18; Endzeitrede: Mt 24–25). Alle diese Reden leitet Matthäus mit ähnlichen Worten ein und schliesst sie mit nahezu identischen Worten ab: «Und es geschah, als Jesus beendete diese Worte …» (7,28 usw.). Die vom Evangelisten dadurch markierte Fünfzahl der grossen Reden Jesu – schliesslich gibt es auch noch andere Redestücke im Mt – wird oft als Anspielung auf die fünf Bücher der Tora gedeutet. Matthäus hat sie aus verschiedenen Quellen zusammengestellt und gestaltet (Markusevangelium, Logienquelle, Sondergut). Sie sind damit kein «Redemanuskript» Jesu, sondern Ausdruck der kunstvoll komponierenden, erweiternden, schriftgelehrten Theologie und Rhetorik des Evangelisten. Dass darin Kernanliegen Jesu und auch zahlreiche zuverlässige Jesusüberlieferungen enthalten sind, bleibt unbenommen.

Was hört ein Mitglied der matthäischen Gemeinde?

Versuchen wir, uns in ein Mitglied der matthäischen Gemeinde hineinzuversetzen, das das Matthäusevangelium zum ersten Mal hört oder liest. Das hilft dabei, sich den möglichen Reaktionen der ersten Leserinnen und Hörer anzunähern und die Besonderheiten der Mt- Gleichnisrede zu entdecken. Eine solche Leserin hat, wenn sie zu Mt 13 kommt, bereits einiges über die tiefe Verwurzelung Jesu in der Geschichte und den messianischen Verheissungen Israels und zugleich vom Desinteresse, ja der Ablehnung des «offiziellen» Jerusalems gegenüber Jesus gehört (Mt 1–2). In einer Szene, die auf endzeitliche Erwartungen Israels anspielt und an die Hoffnungen auf Gottes endgültige Begegnung mit seinem Volk erinnert, hat diese Leserin vom Täufer Johannes und der Beglaubigung Jesu durch eine Himmelsstimme als «mein geliebter Sohn» gelesen (Mt 3). Eine solche Himmelsstimme (hebr. bat qol, «Tochter einer Stimme») ist eine typische Erfahrungs- und Erzählform frühjüdisch-rabbinischen Offenbarungsgeschehens. Der anschliessenden Auseinandersetzung Jesu mit dunklen Widerständen waren Verkündigung und Berufungen im Stile biblischer Propheten gefolgt (Mt 4). In Mt 5–7 hat unsere Leserin dann Jesus in seiner ersten, programmatischen Rede als enorm schriftgelehrten und zugleich ausserordentlich selbstbewussten, herausfordernden Ausleger der Tora kennen gelernt. Die Szenerie auf einem (Offenbarungs-)Berg hat unsere Leserin vielleicht an Mose erinnert, der auf dem Sinai die Tora empfängt und Israel ans Herz legt. Ausführlich geschilderte Heilungen, Wunder und die Gottesreichspraxis Jesu in Form der Tischgemeinschaft mit allen Menschen, die sich darauf einlassen, folgen im Mt – anders als im Mk – erst nach der Tora-Aktualisierung in der Bergpredigt (Mt 8–9). Unsere Leserin liest dann weiter, wie Jesus in der Auswahl und Aussendung der Zwölf symbolisch die Zwölf-Stämme-Geschichte Israels aktualisiert. Prompt reagiert Johannes der Täufer aus dem Gefängnis und lässt Jesus fragen: «Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?» (Mt 11,3). Dies veranlasst Jesus zu ausführlichen Reflexionen über die messianisch- eschatologische Zeit, die sich zugleich in weiteren Heilungen realisiert (Mt 11–12).

Jesus als Gleichniserzähler

Und nun folgt also die dritte grosse Rede Jesu im Mt. Hier lernt unsere Leserin Jesus von einer ganz neuen Seite kennen. Hatte Jesus bisher die Tora ausgelegt und aktualisiert, packende Reden gehalten, auf Fragen reagiert und bisweilen auch Streitgespräche geführt, so zeigt er sich hier – neu! – als Geschichten-, als Gleichniserzähler. Dem griechischen Wort für Gleichnis (parabolé) begegnet man im Mt hier zum ersten Mal überhaupt. Je näher das Gottesreich kommt (Matthäus spricht bekanntlich aus Respekt vor dem Gottesnamen vom «Himmelreich»), desto weniger kann offenbar durch Frage und Antwort, Argumentation und Gelehrsamkeit erreicht werden. Die messianische Zeit ist eine Zeit der Erzählungen und Geschichten – und was für Geschichten! Denn Gleichnisse stellen vieles, ja alles auf den Kopf: Da wird Gott plötzlich zur teigknetenden Hausfrau oder zum Bauern. Aus dem kleinsten Samen wird der grösste Baum, der Schutz und Schatten für Vögel und Menschen bietet – ein ganz natürlicher Vorgang, den zwar alle kennen, den aber noch niemand so angeschaut und überlegt hat, was das mit dem Gottesreich zu tun haben könnte. In der messianischen Zeit findet ein Mensch einen Schatz auf einem fremden Acker und setzt alles daran, ihn zu bekommen. Man muss sich plötzlich mit der Frage herumschlagen, ob es wirklich gerecht ist, wenn Tagelöhner, die nur eine Stunde spätnachmittags gearbeitet haben, denselben Lohn bekommen wie diejenigen, die ihre Ernte den ganzen Tag lang eingefahren haben, Mittagshitze inklusive. Und obendrein: Neben allem «Fürchtet euch nicht!» heisst es plötzlich auch «Wehe den Ängstlichen!» – denen nämlich, die ihre Talente angesichts der messianischen Zeit allzu tief vergraben, anstatt mit den (unermesslich vielen!) Pfunden zu wuchern, die sie ohne eigenes Zutun bekommen haben.

 

Gleichnisse reizen zu einer Antwort

Gleichnisse haben eine besondere Eigenschaft und ein besonderes Ziel: Sie nehmen ihre Hörerinnen und Hörer so in das Geschehen mit hinein, dass sie sich nicht zurücklehnen und «Ja und Amen» sagen können, sondern geradezu reagieren müssen: zustimmen oder widersprechen, zurückfragen oder diskutieren, jedenfalls: sich in Bewegung setzen lassen von jenen kurzen, kunstvollen Erzählungen mit meistens mehr als einer Pointe, die kaum jemanden kalt lassen, wenn man sie nicht durch allzu häufige Gewöhnung abgeschliffen und entschärft hat. Ist Gott, ist das Gottesreich, sind wir Menschen wirklich so wie der Hausherr, die Frau, der Bauer, der Samen und der Baum im Gleichnis? Wenn ja – was bedeutet das für unser Leben hier und jetzt? Wenn nein – wie dann? So, wie Heilungen und die Tischgemeinschaft über alle Grenzen hinweg die bevorzugte Lebens- und Erfahrungsform des Gottesreiches sind, so sind Gleichnisse seine bevorzugte Erzählform: Denn wer sich von einem Gleichnis anstecken, zum Mit-Fühlen, Mit-Denken und Mit-Tun anregen lässt, der steckt schon mittendrin in dem kreativen, lebendigen, dynamischen Prozess, der Gott und Welt in einem Atemzug nennt und dem Wachstum des Gottesreiches den Weg bereitet.

Gerade deshalb sind Gleichnisse nicht «jedermanns Sache». Gleichnisse lassen sich auslegen, aber nicht festlegen. Es bleibt immer ein (grosser) «Überschuss», der sich nicht in ein theologisches Korsett zwängen lässt. Gleichnisse sind existenziell, aber ab und zu auch zu «unernst» für manche theologisch interessierten Köpfe. Vielleicht steht (auch) diese Erfahrung hinter der herausfordernden Reflexion Jesu, wer Gleichnisse versteht, sich darauf einlässt, und wer eben auch nicht (Mt 13,10–17). Wie wohl unsere Leserin damals, aus der Gemeinde des Matthäus, auf die Gleichnisse Jesu, die Gleichnisrede im Mt, reagiert hat? Und ob es in unseren Sommergottesdiensten heute hier und da gelingt, etwas von der Originalität und der Gottesreichsdynamik der Gleichnisse erfahrbar zu machen?

 

Literatur: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2007.

 

 


Detlef Hecking

Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Theologe, Bibliodrama- und Bibliologleiter. Nach Tätigkeiten als Pfarreiseelsorger, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Dozent an der Universität Luzern (RPI) ist er seit 2021 Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel.