Geheiligt werde dein Name

Das Wort HERR für den Gottesnamen in der revidierten Einheitsübersetzung sorgt für Irritationen. Was steht dahinter und weshalb wurde anstelle des missverständlichen HERR keine Alternative gewählt?

Die Bibellektüre der katholischen Christen veränderte sich buchstäblich, seitdem es die Einheitsübersetzung in der revidierten Fassung von 2016 gibt. Beim Blättern im Alten Testament fällt es sofort ins Auge: Der Gottesname wird jetzt in Grossbuchstaben geschrieben: der HERR. In das Schriftbild ist damit eine ständige Irritation eingerückt. Was ist der Sinn hinter dieser Neuerung und wie ist damit umzugehen? Vor allem ein Gedanke tritt schnell ins Gemüt: Die Gottesbezeichnung HERR klingt männlich-dominant. Durch die neue Druckfassung wird dieser Eindruck optisch verstärkt. Wo kommt diese Bezeichnung her und welche Alternativen gibt es möglicherweise?

Entscheidende Gotteserfahrungen

Am Anfang steht kein Gottesname, sondern eine Geschichte: Die Erzählung vom brennenden Dornbusch. Das Erste, was Gott zu Mose sagt, ist ein Wort der Rettung (vgl. Ex 3,7). Gott stellt sich als ein wahrnehmender und mitfühlender Gott vor, der sein Volk nicht im Elend lässt (vgl. Ex. 3,7–8). Wie in einer Nuss ist in dieser Textpassage der Kern der biblischen Gottesvorstellung enthalten. Gott sieht, Gott hört. Was in der Welt an Unrecht, Gewalt und Unterdrückung geschieht, das dringt in sein Innerstes ein – und davon gibt er nach aussen Zeugnis. Gott sagt, was ihn bewegt, und er verspricht, das Volk Israel aus der Unterdrückung zu erretten. Das Wort Gottes ist ein Wort der Selbstmitteilung und der Rettung. Der Satz «Ich bin herabgestiegen» (Ex 3,8) beschreibt, was Mose in diesem Augenblick erfährt: Dass Gott den Abstand zwischen sich und den Menschen überbrückt.

Diese Erfahrung des Mose wird von Gott um zwei Dimensionen erweitert. Zuerst stellt er sich als Gott seines Vaters, als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vor (vgl. Ex 3,6). Dann wagt auch Mose ein Wort. Zuerst fragt er den vom brennenden Dornbusch jedoch nicht nach dessen Namen, sondern nach sich selbst: «Wer bin ich?» (Ex 3,11). Gott antwortet auf absolut überraschende Weise: «Ich bin – mit dir» (Ex 3,12). Erst auf die Frage des Mose «Welchen Namen soll ich gegenüber den Israeliten nennen?», sagt Gott: «Ich bin, der ich bin. [...] So sollst du den Israeliten sagen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt.» (Ex 3,13–14). Das klingt wie ein geheimnisvoller Entzug des Namens. Dabei ist es etwas anderes. Es ist sein Name, denn im Hebräischen klingt der Gottesname «jahwäh» (wie er wahrscheinlich gelesen wurde) ganz ähnlich wie «ich bin» («ähjäh»). Gott erklärt seinen Namen: Er ist der, der schon zu den Vorfahren im Glauben sprach, der mitleidet, begleitet und retten wird. Alles das ist in Ex 3 gesagt. Der gesamte folgende Erzählverlauf der Bibel tut eigentlich nichts anderes, als dies alles Erzählung um Erzählung und Psalm um Psalm genau auszubreiten und einzuholen. Auch das Neue Testament steht im Gefolge dieser Offenbarung. Wenn Jesus am Anfang des Matthäusevangeliums «Gott mit uns» genannt wird und am Ende verheisst «Ich bin mit euch alle Tage, bis zur Vollendung der Welt» (Mt 1,23; 28,18), so macht er deutlich, dass er das Wesen Gottes selbst verkörpert.

HERR – kostbar und missverständlich

Dieser Name Gottes wurde dem Volk Israel heilig. Eigentlich reicht es, den Namen Gottes anzurufen, denn damit ist alles gesagt: Gott ist in der Mitte seines Wesens getroffen. So beginnen viele Psalmen mit dem Gottesnamen: «HERR, ich habe dich gerufen, eile mir zu Hilfe!» (Ps 141,1). Der Psalm führt in seinem weiteren Verlauf nur aus, was mit der Anrufung des Gottesnamens schon gesagt ist. Daraus ist dem Volk Israel eine grosse Achtung vor diesem Namen und auch eine eigene Gottes-Namen-Frömmigkeit erwachsen (vgl. Ps 113,3). Den Christen ist das meist nicht bewusst, aber es bildet auch den Kern ihrer eigenen Identität. Denn im Vaterunser beten sie täglich «geheiligt werde dein Name».

Schon in biblischer Zeit wurde der Name Gottes von seinem Volk nicht einfach unbedacht auf die Lippen genommen. Es schrieb ihn zwar auf, sprach ihn aber beim Lesen nicht aus. Stattdessen wählte es ein Ersatzwort. So wird in der Synagoge seit weit über zweitausend Jahren an den Stellen der Schrift, wo JHWH steht, das Ersatzwort Adonai (mein Herr) gelesen. Dass der Name Gottes nicht ausgesprochen wird, sondern ein anderes Wort dafür steht, ist ein Zeichen für den sorgsamen, achtungsvollen Umgang mit ihm. Dieser Brauch ging in die Bibelhandschriften ein und ebenso in die Bibelübersetzungen. In der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel wird aus Adonai Kyrios, was ebenfalls mit Herr ins Deutsche übersetzt werden kann. So ist der alttestamentlich-jüdische Umgang mit dem Gottesnamen durch eine doppelte Übersetzung auch zur Sprechweise der Christen geworden. Auch das «Kyrie eleison» der Liturgie steht in genau dieser Spur: «Herr – erbarme dich». Das ist etwas Kostbares und zugleich auch missverständlich. In der hebräischen Sprache wurde Adonai als Wort ausschliesslich als Platzhalter für den Gottesnamen verwendet. Die Übersetzung des Gottesnamens mit Kyrios/Herr ist mehrdeutig, weil sie sprachlich in Konkurrenz zu den vielen anderen Herren mit ihren schrecklichen Herrschaftsformen gesehen werden kann. Denn dass die biblische Redeweise «der Herr» ein Ersatzwort für den einen Namen Gottes ist, ist anhand der Sprachgestalt nicht erkennbar.

Im Angesicht Israels verantwortbar

Diese Problematik war bereits mit der bisherigen Einheitsübersetzung gegeben. Die alte Einheitsübersetzung war aber nicht konsequent. An allen Stellen, wo im hebräischen Urtext des Alten Testaments der Gottesname stand, wurde zwar entsprechend der jüdischen und urchristlichen Aussprachetradition «der Herr» eingesetzt. Aber an 142 Stellen (!), wo die Ersatzbezeichnung zu sehr nach einem Gattungswort geklungen hätte, wurde der Gottesname stehen gelassen; so zum Beispiel in «Höre Israel, Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig» (Dtn 6,4). Diese Lösung klingt sinnvoll, ist jedoch mit zwei erheblichen Problematiken verbunden. Zum einen wurden die entsprechenden Stellen rein willkürlich und ohne Kriterien ausgewählt, zum anderen ist mit der unvorbereiteten und selbstverständlichen Aussprache des Gottesnamens ein beständiger Anstoss für das Judentum gegeben. Juden schrecken – zumindest innerlich – jedes Mal zusammen, wenn sie den Gottesnamen ausgesprochen hören. Wenn das Christentum eines lernen durfte in den letzten Jahrzehnten, dann dieses, dass alles, was es über Gott und die Bibel sagt, auch im Angesicht des Gottesvolkes Israel sprechbar und verantwortbar sein soll. Das gilt nicht nur für Fälle, in denen Vertreter des Judentums anwesend sind.

Hier ist die neue Einheitsübersetzung konsequent und lässt keine Ausnahmen mehr zu. Ein zweiter Aspekt ist neu und fällt im Text ins Auge: Jetzt steht jedes Mal HERR in Grossbuchstaben. Es bedeutet nicht, dass dieses Wort anders oder gar besonders laut auszusprechen sei, sondern es macht im Schriftbild deutlich, dass hier im hebräischen Urtext die vier Buchstaben des Gottesnamens JHWH stehen. Beim Blick auf den Bibeltext ist jeder im Bilde, dass der kostbare und wirksame Name steht, den Gott Mose am brennenden Dornbusch offenbarte. Ein Problem bleibt jedoch bestehen. Das Wort HERR klingt sehr männlich-dominant. Hätte man daher nicht ein anderes Wort wählen können?

Der Name Gottes – ein Lern-Wort

Es lohnt sich, in einzelnen Bibelarbeiten einmal andere Worte für Gott zu erproben: der Ewige, der/die Lebendige. Aber das eine Wort, das universal eingesetzt werden kann, um es anstelle des Gottesnamens auszusprechen, ist noch nicht gefunden und wird auch nicht gefunden werden. So wurde entschieden, in der zweitausendjährigen, vom Judentum übernommenen Tradition zu verbleiben und sie nicht einfach abzulegen.

Was bedeutet dieses Ergebnis für die Praxis? Da ist vor allem die Erkenntnis, dass die Gläubigen um den Gottesnamen wissen müssen und dass das an seiner Stelle vorgelesene Wort «der Herr» nicht einen herrschaftlich-männlichen Gott meint, sondern den Platz freihält für den Unaussprechlichen, der uns seinen Namen und sein Wesen offenbarte. Es heisst ebenfalls, dass der Name Gottes gerade nicht in eine universale Kurzformel gefasst werden kann. Der Gottesname ist auch mit einem Wort nicht einfach fassbar. Er muss immer ausgelegt werden. Mit einer formalen Entscheidung zugunsten eines bestimmten Wortes, sei es die Aussprache des Namens, sei es ein Platzhalterwort, ist der Kern der Frage nicht erreicht. Der Name Gottes ist und bleibt ein Lern-Wort, ein Flüster-Wort, ein Hoffnungs-Wort, ein Rettungs-Wort. Das aufrechtzuerhalten ist nicht die Sache einer einmaligen Entscheidung für ein richtiges Wort, sondern beständige Aufgabe.

Für Gottesdienst und Katechese heisst dies: Es braucht Informationen und Aufklärung über den Sachverhalt. Vor allem aber braucht es eine immer wieder zu erweckende Haltung der Achtung und des Hinhörens auf die biblischen Texte: Wer ist dieser Gott? Wie kommt er vor? Wie handelt er? Das eine Wort des Namens fasst nur auf geheimnisvolle Weise das zusammen, was in der Bibel von Gott und über ihn gesagt wird. Das gilt es zu lernen. Die Bitte des Vaterunsers führt Christen genau zu diesem Punkt hin: «geheiligt werde dein Name».

Egbert Ballhorn

 

 


Egbert Ballhorn

Prof. Dr. Egbert Ballhorn (Jg. 1967) studierte Theologie und Chemie in Bonn, Wien und Jerusalem. Seit 2012 ist er Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Technischen Universität Dortmund. Er war Revisor der Einheitsübersetzung (Buch der Psalmen) und ist seit 2012 stellvertretender Vorsitzender des Vereins «Katholisches Bibelwerk e.V.».

 

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