Geerdete Visionen für Partnerschaft, Ehe und Familie

Schon in den Tagen vor Erscheinen des Nachsynodalen Schreibens brodelte es; am Publikationstag erreichte auf Twitter der sogenannte Hashtag #AmorisLaetitia bei den Schweizer Trends den Spitzenplatz. Die Aufmerksamkeit der nichtkirchlichen Medien liess naturgemäss bald wieder nach. Die Zeit der innerkirchlichen Nachlese, Rezeption und Vertiefung ist angebrochen.

Dabei machen sich innerkirchlich wie schon in den nichtkirchlichen Medien unterschiedliche Lesarten bemerkbar. Auf der einen Seite stehen Äusserungen, welche die Reichweite des päpstlichen Dokumentes gering einschätzen,1 sei es, weil sie «mehr» erwartet hatten, sei es, um das Gewicht des Dokumentes und der darin enthaltenen neuen Weichenstellungen herunterzuspielen. Auf der anderen Seite wird das Dokument als konkreter Schritt einer Neujustierung der Pastoral wahrgenommen.2 Nicht selten wird positiv auch die Lebensnähe des Dokumentes, dies sogar als «Werk mit Unterhaltungswert und Haltung», gewürdigt.3

Der Umgang mit komplexen Situationen

Um zunächst die pastorale Frage des Umgangs mit den sogenannten «irregulären» Situationen zu thematisieren:4 Das Signal in Richtung einer effektiven Veränderung unterstrichen nicht zuletzt die Ausführungen von Kardinal Christoph Schönborn bei der offiziellen und deswegen für die Interpretationsrichtung aufschlussreichen Präsentation des Dokumentes am 8. April 2016. Er bewertete «Amoris Laetitia» als Klärung und Weichenstellung für den kirchlichen Auftrag zur Integration. Die künstliche Trennung von regulär und irregulär werde überwunden.5

Tatsächlich fällt auf, dass zwar die Terminologie der «irregulären» Situation anders als im Abschlussdokument der Bischofssynode 2015 wieder verwendet wird, dies allerdings in Anführungs-und Schlusszeichen und mit einem vorangestellten «sogenannt».6 Damit sind im achten Kapitel zwar primär, aber nicht ausschliesslich die nach Scheidung Wiederverheirateten gemeint, was in den Nummern 297 und 3017 ausdrücklich bekräftigt wird.

Von diesen Situationen, die (im Blick auf nach Scheidung Wiederverheiratete) in «Familiaris Consortio» Nr. 84 als objektiver Widerspruch zum Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche beschrieben wurden,8 wird gesagt, dass sie «nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt» (Nr. 6; Hervorhebungen von mir; siehe auch unten das Zitat aus Nr. 303). Manche «Formen der Vereinigung» verwirklichen das Ideal «zumindest teilweise und analog» (Nr. 292). In ihnen finden sich «konstruktive Elemente», Elemente also, die aufbauend sind, selbst wenn sie nicht in der sakramentalen Form der Ehe gelebt werden.9 Auch hier (im Kontext ist die Zivilehe im Blick) werden Zeichen der Liebe gelebt, die «in irgendeiner Weise die Liebe Gottes widerspiegeln» (Nr. 294); auch hier wird das Gute getan, liebevoll gesorgt und der Gemeinschaft ein Dienst erwiesen (vgl. Nr. 291). Anerkennung findet also nicht nur das partnerschaftliche Miteinander, sondern auch ein Beitrag für die grössere Gemeinschaft! Ebenso ist vertrauende Anerkennung geboten, dass von göttlicher Seite die Gnade wirkt (vgl. Nr. 29110). «Der Heilige Geist giesst Gaben und Charismen zum Wohl aller auf sie aus» (Nr. 299).

Vor dem Hintergrund solcher Würdigungen ist eine pauschale Verurteilung von Menschen in «irregulären» Situationen nicht mehr möglich und muss Unterscheidung geübt werden. Es gibt nicht einfach Schwarz oder Weiss (vgl. Nrn. 297 und 305). Von solcher Unterscheidung sprach bereits das Nachsynodale Schreiben «Familiaris Consortio» (Nr. 84), erlaubte es aber nicht, aus der Unterscheidung Konsequenzen zu ziehen. Demgegenüber deklariert Papst Franziskus deutlich, dass aufgrund der Unterscheidung «die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen» (Nr. 300). Deswegen eröffnet Nr. 300 einen Weg der Integra-tion im Forum internum, auf dem gemäss Nr. 303 das Gewissen der betreffenden Menschen zu beachten ist. Es ist jene Instanz, die auch in einer Situation, welche «objektiv nicht den generellen Anforderungen des Evangeliums entspricht», «mit einer gewissen moralischen Sicherheit entdecken» kann, dass das in dieser Situation Gelebte «die Hingabe ist, die Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen fordert». In früheren päpstlichen Aussagen war in solchen Kontexten die Berufung auf das Gewissen als nicht möglich deklariert worden. Zwei inzwischen schon berühmt gewordene Anmerkungen (336 und 351) thematisieren sodann in wünschenswerter Klarheit, dass die postulierten Konsequenzen auch den Bereich der Sakramentenordnung (d. h. der Eucharistie, aber auch des Sakramentes der Versöhnung oder der Taufe) umfassen können. Dies wird speziell für nach Scheidung Wiederverheiratete nicht an die Bedingung einer vorausgehenden Trennung (die neues Unrecht schaffen würde: vgl. die Nrn. 298, 301) oder allenfalls der Josefsehe gebunden. Ohne letztere Möglichkeit direkt zu kritisieren, rekurriert Papst Franziskus auf die Erfahrung von Menschen, dass ihnen ohne die sexuelle Praxis wichtige Ausdrucksformen der Intimität fehlen (vgl. Anm. 329).

Das kurze Fazit kann deswegen mit Kardinal Walter Kasper lauten: «Es sind Öffnungen da, ganz klar.»11 Für die Einschätzung der Tragweite einer solchen Öffnung gilt es zu beachten, dass das Kirchenrecht an keiner Stelle eine explizite Aussage über die Zulassung oder den Zutritt von Personen in «irregulären» Partnerschaftssituationen zur Kommunion trifft. Strittig war, ob diese Personen unter die Bestimmung von Can. 915 fallen, dass Personen, die «hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren», nicht zur Kommunion zugelassen werden dürfen. Die diesbezüglich strikte Auslegung stammt aus dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben «Familiaris Consortio» (1981). Dieses wird nun durch ein gleichrangiges Nachsynodales Apostolisches Schreiben weiterbedacht und legitimerweise modifiziert oder auch korrigiert. Jedenfalls lässt «Amoris Laetitia» es nicht mehr zu, davon auszugehen, dass Personen in «irregulären» Partnerschaftssituationen ununterschieden den in Can. 915 benannten Tatbestand hinsichtlich von Sünde, Schwere, Offenkundigkeit, Hartnäckigkeit und Verharren erfüllen.

Wer nun die Verbindlichkeit des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens von 2016 problematisiert oder relativiert, muss sich fragen lassen, auf welcher Basis die diesbezügliche Position des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens von 1981 (durch verschiedene nachgeordnete Dokumente verstärkt12) als verbindlich eingeschärft wurde. Die katholische Kirche verfügt über ein lebendiges Lehramt, das fähig ist, in pastoraler Aufmerksamkeit und theologischer Reflexion gewonnene Einsichten in sich aufzunehmen, 2016 ebenso wie 1981.

Wie weiter?

Erzbischof Heiner Koch von Berlin, selbst Synodenteilnehmer, wies darauf hin, dass das Schreiben keine Ausführungsbestimmungen gibt, was voraussetzt, dass es eine Weisung gibt, die auszuführen ist.13

Wer nun auf solche Ausführungsbestimmungen erpicht ist, wird zweierlei beachten müssen. Der Papst hat zwar nicht heikle Entscheidungen einfach auf die Ortskirchen geschoben. Er selbst steht für neue Weichenstellungen und Spielräume gerade. Für die weitere Umsetzung sind nun jedoch zwei Vorzeichen zu beachten: einerseits die Verlagerung von Gestaltungsprozessen in die Ortskirchen hinein (Dezentralisierung, Subsidiarität, Inkulturation), andererseits das notwendige Umdenken von einer Fixierung auf Gesetze zur Aufmerksamkeit für nicht reglementierbare Einzelsituationen.

Für die Umsetzung sind ganz klar die Ortskirchen in Anspruch genommen: «Es wird dann Aufgabe der verschiedenen Gemeinschaften sein, stärker praxisorientierte und wirkungsvolle Vorschläge zu erarbeiten, die sowohl die Lehre der Kirche als auch die Bedürfnisse und Herausforderungen vor Ort berücksichtigen» (Nr. 199; vgl. Nr. 3).

Gleichzeitig ergeht ein Signal, nicht bisherige Gewohnheiten kirchlicher Praxis nur dezentralisiert weiterzuführen. Das Nachsynodale Apostolische Schreiben will – wie schon frühere Aussagen von Papst Franziskus – ein Umdenken einleiten. Angesichts der Komplexität menschlichen Lebens versagen die Versuche einer Katalogisierung. Menschen leben in Situationen, «in denen alle Schemata auseinanderbrechen» (Nr. 37). Normen können darum in ihren Formulierungen «unmöglich alle Sondersituationen umfassen» (Nr. 304). Es gilt, den Teufel der Gesetzlichkeit nicht mit dem Beelzebub einer neuen Gesetzlichkeit auszutreiben. Die Zielrichtung von Papst Franziskus ist es, sich nicht mit Hilfe von Normen die Konfrontation mit der Komplexität der Situationen zu ersparen, weder die Konfrontation mit geschehenem Unrecht oder mit biografisch oder psychisch begründetem Versagen (vgl. Nr. 239) noch die Konfrontation mit Leiden. Es braucht eine Begleitung, an der Menschen wachsen können, an der sie aber auch aus Situationen der Hoffnungslosigkeit wieder zu Vertrauen und Lebensfreude finden können.

Vor diesem Hintergrund dürfen sich viele Seelsorgende, die bisher schon Geschichten familiärer Brüche ohne Berührungsängste begleitet haben (vgl. Nr. 308), bestätigt und ermutigt sehen. Zugleich werden gerade sie sich nicht rechthaberisch zurücklehnen. Auch hierzulande erhält die Pastoral zukunftsweisende Anregungen durch ein dynamisches und prozesshaftes Verständnis von Ehe und Familie (vgl. Nr. z. B. 134; 136-141).

Eine dynamische Vision der Ehe

Um es spannungsvoll zu sagen: Papst Franziskus gibt Ehen und Familien das, was kirchlich (auch in anderen Bereichen) so oft fehlt: eine echte Vision. Gleichzeitig beachtet und formuliert er realistisch, dass die Ehe kein «Fertigprodukt» ist (Nr. 218). Deswegen sieht er partnerschaftliche wie auch familiäre Beziehungen in ihren verschiedenen Phasen auf Wachstum, Festigung und Vertiefung in alltäglicher Beziehungsarbeit angewiesen (vgl. Nr. 89). Die Eheleute sind «Protagonisten, die ihre Geschichte selbst in der Hand haben»; sie müssen ihr «Projekt» gemeinsam voranbringen (Nr. 218).

Eben dies macht die Ehe prekär. Schon für die Hochzeit diagnostiziert Papst Franziskus, dass viele zu ihr gelangen, «ohne sich zu kennen. Sie haben nur gemeinsam Zeit verbracht, haben gemeinsame Erfahrungen gemacht, haben sich aber nicht der Herausforderung gestellt, sich selbst zu offenbaren und zu lernen, wer der andere wirklich ist» (Nr. 210). Im Laufe der Zeit verlernen Menschen, in Bewegung zu bleiben. Dabei gilt: «Der Tanz in dieser jungen Liebe, Schritt für Schritt voran, der Tanz auf die Hoffnung zu, die Augen voller Staunen – er darf nicht zum Stillstand kommen» (Nr. 219). Der Wein der Verbindung muss reifen, damit man gemeinsam den besseren Wein trinken kann (vgl. Nr. 232). Weil aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung Beziehung und Zusammengehörigkeit mehrere Jahrzehnte bewahrt werden müssen, benennt Papst Franziskus die «Notwendigkeit, einander immer wieder neu zu erwählen» (Nr. 163).

Wer diese Herausforderungen in ihrem ganzen Ausmass wahrnimmt, wird etwaiges Zerbrechen von Beziehungen mit barmherzigen Augen anschauen. Um das Scheitern jedoch nicht als Verhängnis hinzunehmen, entwickelt Papst Franziskus so etwas wie eine weisheitliche Spiritualität der Aufmerksamkeit in der Ehe. Es gilt, den würdigenden Blick zu pflegen (Nr. 128) und die Kunst einzuüben, «anderen Vergnügen zu bereiten und zu sehen, wie sie geniessen» – wie die Köchin im Film «Babettes Fest» (Nr. 129). Ernst zu nehmen ist, dass in der Partnerschaft zwei unterschiedliche Menschen zusammenkommen mit ihren je eigenen Lebenserfahrungen und Meinungen. Verblüffend werden dafür Begriffe verwendet, die aus der Ökumene stammen: «Einheit in der Vielfalt» und «versöhnte Verschiedenheit» charakterisieren Partnerschaft und Familie. Einfach gesagt: «Man muss sich befreien von der Verpflichtung, gleich zu sein» (Nr. 139). Wenn zwei im Dialog miteinander bleiben möchten, müssen sie sich um inneren Reichtum bemühen, damit sie sich auch etwas zu sagen haben (vgl. Nr. 141).

Plädoyer für eine nahe und realistische Pastoral

Die «inkarnierte» pastorale Begleitung (vgl. Nr. 234), wie Papst Franziskus sie exemplarisch vorzeichnet, sieht er jeglicher Pastoral aufgetragen. Dabei würdigt er: «Den wichtigsten Beitrag zur Familienpastoral leistet die Pfarrgemeinde» (Nr. 202). Lesenswert sind seine Hinweise, wie man es nicht machen soll, sehr kompakt in den Nrn. 35–38. Vorbehalte hat er nicht nur gegenüber einer «kalten und leblosen Doktrin» (Nr. 59), sondern auch gegenüber Idealisierungen, die die menschliche Realität der Ehe überfordern. Die Aussage des Epheserbriefes über den Vergleich zwischen der Liebe von Mann und Frau mit der Liebe Christi zu seiner Kirche erschliesst er positiv, fügt dann aber an: «Dennoch ist es nicht angebracht, unterschiedliche Ebenen miteinander zu vermischen: Man sollte nicht zwei begrenzten Menschen die gewaltige Last aufladen, in vollkommener Weise die Vereinigung nachzubilden, die zwischen Christus und seiner Kirche besteht» (Nr. 122; vgl. Nr. 73). Konsequenterweise arbeitet das erste Kapitel nicht nur die biblischen Geschichten der Liebe, sondern auch die der Familienkrisen heraus (vgl. Nr. 8). So erweist sich das Wort Gottes «nicht als eine Folge abstrakter Thesen (…), sondern als ein Reisegefährte auch für die Familien, die sich in einer Krise oder inmitten irgendeines Leides befinden» (Nr. 22).

Waren für konkrete pastorale Vorgehensweisen im Abschlussdokument der Bischofssynode 2015 zahlreiche Anregungen der «best practice» (und manchmal wohl auch: der ambitioniertesten Absichten) aus aller Welt zusammengekommen, so zeichnen sich die diesbezüglichen Aussagen von Papst Franziskus durch Nüchternheit aus.

Nach den vielen Aussagen der Synoden über die Notwendigkeit einer besseren Ehevorbereitung war zu erwarten, dass dies auch Thema des Nachsynodalen Schreibens sein würde. Überraschend dürfte aber sein, wie Papst Franziskus dieses Thema angeht: Als Jesuit, der weiss, dass «nicht das Vielwissen sättigt», warnt er davor, den Brautleuten «den gesamten Katechismus beizubringen» (Nr. 207). «Das Hauptziel ist, jedem Einzelnen zu helfen, diese konkrete Person, mit der er das ganze Leben teilen will, lieben zu lernen» (Nr. 208). Für die weitere Begleitung nimmt Papst Franziskus gelassen hin, «dass viele Brautleute nach der Hochzeit aus der christlichen Gemeinde verschwinden», um zugleich zu mahnen, nicht die Gelegenheiten zu verpassen, in denen sie wieder auftauchen (Nr. 230). Zu ambitionierte Vorstellungen von Begleitung kommentiert er: «Bei dem derzeitigen Lebensrhythmus wird die Mehrheit der Ehepaare nicht zu häufigen Treffen bereit sein, und wir können uns nicht auf eine Pastoral der kleinen Eliten beschränken» (Nr. 230).

Stark macht er «die wertvollen Mittel der Volkspastoral» und nimmt als Beispiel einen Anlass, für dessen Gestaltung manche Seelsorgende auch schon Spott einstecken mussten: den «Valentinstag, der in manchen Ländern von der Wirtschaft besser genutzt wird als von der Kreativität der Seelsorger» (Nr. 208).

Ausblick

Das Dokument hält für die Lektüre viele weitere Perspektiven bereit: Das Thema «Gender» wird nicht nur mit der derzeit leider kirchenüblichen pauschalen Kritik belegt, sondern in seinen wichtigsten Anliegen auch positiv aufgenommen (vgl. Nr. 286). Mehrere Passagen befassen sich mit der Rolle der Frau und würdigen Anliegen des «Feminismus» (vgl. Nr. 54; 154; 156; 173). Immer wieder macht sich das Dokument zur Stimme der Schwachen, der Kinder (vgl. Nr. 246 sowie das gesamte fünfte und siebte Kapitel). Sie sind nicht Eigentum der Familie (vgl. Nr. 18), vielmehr Menschenwesen mit unermesslichem Wert und dürfen nicht für den eigenen Vorteil gebraucht werden (vgl. Nr. 170). Bei Trennungen dürfen sie nicht zur Geisel genommen werden (vgl. Nr. 245). Vielleicht eine der grössten Schwächen des Dokumentes steckt im Abschnitt über die konfessionsverschiedenen Ehen, den Abtpräses Jeremias Schröder zu Recht als von bürokratischer Lieblosigkeit gezeichnet sieht.14

Der Papst, dem bei seiner Wahl aufgetragen worden war: «Vergiss die Armen nicht», schaut auch in diesem Dokument mit besonderer Zärtlichkeit auf die Familien, in denen der Verlust einer Münze ein Albtraum ist (vgl. Nr. 21) und Grenzsituationen besonders schmerzhaft erlebt werden. Ihnen darf man nicht viele Vorschriften auferlegen, als seien die Betroffenen «felsenstark» (Nr. 49). Besonders nachdenklich macht ein Abschnitt, der sich mit der Eucharistie und ihrem sozialen Anspruch befasst. Er verdient angesichts der Frage, wer würdig an der Eucharistie teilnehmen darf, besondere Aufmerksamkeit. Mit Blick darauf, dass gerade zur Zeit der Publikation des Nachsynodalen Schreibens bekannt wurde, dass Papst Franziskus eine Woche später, am 16. April 2016, in das Flüchtlingslager nach Lesbos reisen würde, soll das Zitat dieser Ausführungen einem nachdenklichen Abschluss dienen:

«Die Eucharistie verlangt die Eingliederung in einen einzigen kirchlichen Leib. Wer sich dem Leib und dem Blut Christi nähert, kann nicht zugleich diesen selben Leib beleidigen, indem er unter seinen Gliedern empörende Trennungen und Diskriminierungen vollzieht. Es geht tatsächlich darum, den Leib des Herrn zu ‹unterscheiden›, ihn glaubend und liebend sowohl in den sakramentalen Zeichen als auch in der Gemeinde zu erkennen; andernfalls zieht man sich das Gericht zu, indem man isst und trinkt (vgl. V. 29). Dieser biblische Text ist eine ernste Warnung für die Familien, die sich in die eigene Bequemlichkeit zurückziehen und sich abschotten, ganz besonders aber für die Familien, die angesichts des Leidens der armen und am meisten bedürftigen Familien gleichgültig bleiben. So wird die Eucharistiefeier für jeden zu einem ständigen Aufruf, ‹sich selbst [zu] prüfen› (V. 28) im Hinblick darauf, die Wände der eigenen Familie durchlässig werden zu lassen für eine grössere Gemeinschaft mit den Ausgeschlossenen der Gesellschaft und dann wirklich das Sakrament der eucharistischen Liebe zu empfangen, das uns zu einem Leib macht. Man darf nicht vergessen, dass ‹die ›Mystik‹ des Sakraments […] sozialen Charakter [hat]›. Wenn diejenigen, die zur Kommunion gehen, sich dagegen sträuben, sich zu einem Einsatz für die Armen und Leidenden anregen zu lassen, oder verschiedene Formen der Trennung, der Verachtung und der Ungerechtigkeit gutheissen, werden sie die Eucharistie unwürdig empfangen. Die Familien hingegen, die sich in der angemessenen Haltung von der Eucharistie nähren, stärken ihren Wunsch nach Geschwisterlichkeit, ihr soziales Empfinden und ihren Einsatz für die Notleidenden» (Nr. 186).  

1 So die Meldungen von Zeitungen nicht nur des «Blick», sondern auch z. B. der NZZ mit der undifferenzierten Schlagzeile «Der Papst bleibt schwammig»: http://www.nzz.ch/international/europa/nachsynodales-schreiben-von-franziskus-zur-familie-der-papst-bleibt-schwammig-ld.12545 (8.4.2016).

2 Vgl. prominent die Katholische Presseagentur Österreich: «Schönborn: Papst bekräftigt pastorale Neuausrichtung der Kirche»: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1364199/schoenborn-papst-bekraeftigt-pastorale-neuausrichtung-der-kirche (8.4.2016) wie auch Communiqués Schweizer Ordinariate wie Zürich: http://blog.zhkath.ch/standpunkt/kluft-zwischen-lehre-und-praxis-ueberwunden/ (8.4.2016) oder St. Gallen: http://www.bistum-stgallen.ch/index_de.php?TPL=3401&x3000_Open=1339 (8.4.2016).

3 Vgl. http://www.deutschlandfunk.de/lehrschreiben-von-papst-franziskus-ein-werk-mit.720.de.html?dram%3Aarticle_id=350826 (10.4.2016).

4 Siehe dazu ausführlicher: Eva-Maria Faber: Begleiten, unterscheiden und vor allem eingliedern: http://www.feinschwarz.net/begleiten-unterscheiden-und-vor-allem-eingliedern-ein-erster-blick-auf-das-nachsynodale-schreiben-amoris-laetitia/ (8.4.2016).

5 Vgl. http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2016/04/08/0241/00531.html (8.4.2016).

6 Bei der Verwendung des Begriffs der «irregulären» Situation wird in Anm. 325 auf jene Generalaudienz verwiesen, in der Papst Franziskus sein Missfallen an diesem Begriff zum Ausdruck gebracht hat (vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/it/audiences/2015/documents/papa-francesco_20150624_udienza-generale.html (9.7.2015). In Nr. 296 wird weiterhin auch von der Komplexität der Situationen gesprochen. Siehe dazu auch Martin M. Lintner: Amoris laetitia. Anmerkungen zum Nachsynodalen Schreiben: http://www.feinschwarz.net/amoris-laetitia-anmerkungen-zum-nachsynodalen-schreiben/ (9.4.2016).

7 Nummern im Text beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf das nachsynodale Schreiben «Amoris Laetitia».

8 Ein solcher Sprachgebrauch findet sich in «Amoris Laetitia» Nr. 305 mit der Rede von einer «objektiven Situation der Sünde», die aber sogleich für die Möglichkeit einer anderen Bewertung der subjektiven Situation geöffnet wird.

9 Hier liegt in der bisherigen deutschen Übersetzung von Nr. 292 («konstitutive Elemente») ein Übersetzungsfehler vor: Im Italienischen steht «gli elementi costruttivi».

10 In «Familiaris Consortio» Nr. 84 hiess es nur, dass die Betroffenen die Gnade Gottes herabrufen sollen.

11 http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/ein-bemerkenswertes-dokument (9.4.2016).

12 Z. B. Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen, 1994: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_14091994_rec-holy-comm-by-divorced_ge.html (8.4.2016) sowie eine Erklärung des Päpstlichen Rates für die Interpretation der Gesetzestexte. In: AkathKR 169 (2000), 135–138.

13 http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/weder-freifahrtschein-noch-totales-verbot (9.4.2016).

14 Vgl. http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/kein-paukenschlag-aber (11.4.2016).  

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur