Was wir unter Kultur verstehen, sind Symbole, Prozesse und Vergewisserungen des Zusammenlebens. Diese Definition ist sehr umfangreich, sie betrifft viele Bereiche der Gesellschaft: das Bildungssystem, die Rechtsprechung, Konventionen im Umgang und Symbole, die das Zusammenleben strukturieren, erklären und zivilisieren. Manches davon hat alte Tradition, manches prägt seit kurzer Zeit. Kultur macht eine Gesellschaft aus und entwickelt sich weiter. Sie ist ständigen Anpassungsprozessen unterworfen und niemals statisch. Kulturelle Ausprägungen verschwinden wieder, manche bleiben prägend.
Der Kunst kommt eine wichtige Bedeutung zu. Sie ist Reflektionsfläche, bietet Anregungen und Diskursräume. Was sich gesellschaftlich entwickelt, wird in der Kunst gespiegelt und gesellschaftliche Entwicklungen haben ihrerseits Auswirkungen auf die Kunst.
Tiefgreifende Entwicklungen
Kaum etwas hat unsere Kultur so tiefgreifend verändert wie die Digitalisierung. Deswegen ist es angebracht, präziser von digitaler Transformation zu sprechen. Unsere Welt verändert sich unter ihren Bedingungen rasant. Sie betrifft alle Bereiche des Lebens, die Wahrnehmung, die Kommunikation, die Auseinandersetzung, das Lernen und sogar die Bewegung. Kaum etwas bleibt unberührt. Der Zürcher Medienwissenschaftler Felix Stalder spricht von einer «Kultur der Digitalität». Dieser Prozess ist unumkehrbar. Am Horizont steht die Post-Digitalität, weil analog und digital nicht mehr zu unterscheiden sein werden.
Die Kriterien gesellschaftlicher Entwicklungen orientieren sich am Wertekonsens einer Kultur. Unsere westeuropäische Kultur ist geprägt durch die Aufklärung, die Freiheit, die Autonomie des Individuums und – auf Basis der jüdisch-christlichen Tradition – durch Solidarität und Verantwortung. Diesen Kategorien hat sich vernünftigerweise die Gestaltung der digitalen Transformation zu stellen. Wichtig ist, dass dieser Weg weitgehend selbstgesteuert und reflektiert erfolgt. Immer mehr Abläufe werden durch Algorithmen automatisiert gesteuert, der menschliche Einfluss nimmt ab. Algorithmen sind vorformulierte Handlungs- bzw. Prozessanleitungen, die Treiber dieser Prozesse sind Informationen. Den Entwicklern von Systemen (und in seltsamer Kollaboration auch den Anwenderinnen und Anwendern) muss daran gelegen sein, möglichst viele Daten zu generieren, um Berechnungen präziser werden zu lassen.
Die Ursprünge des Internets waren von der Idee des Teilens, der Zusammenarbeit und der Gemeinwohlorientierung getragen. Das Internet versetzte Computer in die Lage, vom Speicher zum Verteiler zu werden. Die Vernetzung der Computer war dahingehend gedacht, Wissen zu teilen, um es besser nutzen zu können. Hinter den Erfindungen standen Menschen, die die Vision hatten, Informationen besser zu managen und verfügbarer zu machen. Von diesem Geist getragen und auf der Folie der skizzierten Wertebasis betrachtet, stellt die digitale Transformation tatsächlich einen Fortschritt dar. Doch es verhält sich hier wie mit allem Fortschritt: Wo sich Chancen ergeben, liegen auch Risiken. Hierin entwickelt sich eine Art «Dialektik der Aufklärung», da mit der zunehmenden Verwendung der Instrumente und ihrer Komplexitäten nicht nur eine neue Unübersichtlichkeit geschaffen wird, sondern totalitärer Missbrauch von Daten zunimmt und überhandnehmen kann.
Der Mensch, ein Datenobjekt
Digitale Anwendungen versprechen die Lösung sämtlicher Probleme und werden deshalb gerne als Heilsversprechen genutzt. Unsere Kultur wird zunehmend algorithmisiert. Auf der individuellen Ebene sind digitale Instrumente bequem zu bedienen und nehmen den menschlichen Nutzerinnen und Nutzern manuelle Tätigkeiten und häufig auch das Nachdenken ab. Ein profanes Beispiel ist die Verwendung von Navigationsprogrammen. Natürlich ist es einfacher, mit einem Smartphone zum Zielort zu navigieren, es ist schneller und es ist vielleicht sogar ökologischer, weil keine unnötigen Umwege gefahren werden. Ausserdem ist es zunächst einmal für die Nutzenden umsonst. Auf der Kostenseite werden Unmengen von Daten erzeugt, die zur Erstellung von Nutzerprofilen (und damit in der Folge auch von Überwachungen) angewendet werden können. Diese Profile abstrahieren das konkrete Individuum bzw. reduzieren das menschliche Leben auf ein Konglomerat von Daten. Der nächste Schritt wird das autonome Fahren sein. Weitere Anwendungsbeispiele gibt es im Gesundheitssektor (Fitnesstracker) oder in der Justiz (Smart Sentencing1). Überall entsteht eine gewisse Ambivalenz, Anwendungen können hilfreich sein, können aber auch pervertiert werden.
Algorithmen steuern soziale Prozesse
Während die Datensammelwut dazu beiträgt, individuelles Leben durchschaubar und vorhersagbar zu machen, wird auf kollektiver Ebene der Eindruck vermittelt, die digitale Transformation löse die unheimliche Kontingenz der menschlichen Existenz. Der Preis ist die demokratische Teilhabe. «Immer mehr soziale Prozesse werden mithilfe von Algorithmen gesteuert, deren Funktionsweise nicht nachvollziehbar ist, weil sie systematisch von der Außenwelt und damit von demokratischer Kontrolle abgeschirmt werden. [So entsteht] ein neues gesellschaftliches System, in dem die vermeintlich gelockerte Kontrolle über soziales Handeln mit einer verstärkten Kontrolle über die Daten und die Strukturbedingungen des Handelns selbst kompensiert wird», sagt Felix Stalder. Künstliche Intelligenz (KI) wird zukünftig das Handeln in vielen Bereichen abstrahieren und von (demokratischer) Steuerung unabhängig machen.
Wenn die Demokratie ausgehöhlt wird, hat dies eminente Auswirkungen auf unsere Kultur, da die bewährten Symboliken und Aushandlungsprozesse keinen Anschluss mehr finden. Es bildet sich zwar eine neue Kultur, fraglich ist, ob diese mit den humanistischen und aufklärerischen Werten unserer tradierten Kulturen kompatibel ist. Daten schaffen vernetzte Strukturen, die kaum öffentlich kontrollierbar sind. Aus gesellschaftlicher Sicht ist die individuelle Ebene eng mit der kollektiven verwoben. So geht der Mensch als reines Datenobjekt auf und wird Teil eines breiteren, inhumanen Netzwerkes. Der Mensch wird kalkulierbar. «Wenn die Gehirnstruktur, das zentrale Nervensystem, als Formel analysiert wird, dann wird der Mensch als Computer begriffen. Auf der Ebene dieser Formel ereignet sich eine neue Pathologie. […] Diese Pathologie wird überall wirksam werden, weil die biologischen, ökonomischen oder politischen Realitäten aus der eigenen Form geraten und in die Formel hineingezwängt worden sind», schrieb Jean Baudrillard schon zu Beginn der Neunzigerjahre. Einer immer mehr sich digital transformierenden Gesellschaft droht die Gefahr, die Balance zwischen Mensch und Maschine dahingehend zu verändern, dass aus der Kultur der Digitalität eine reine digitale Kultur wird, bei der die Algorithmen autonom gesellschaftliche Prozesse steuern. Die Vision verspricht die Möglichkeit, von alltäglichen Dingen unabhängiger zu sein – um den Preis, langfristig abhängiger zu werden. Die sich entwickelnde Logik des Algorithmus ist die Logik der Bequemlichkeit und der Bedürfnislosigkeit, da die technische Kultur die Hoffnung und die hoffende Tat überflüssig machen, wenn sie umfassendes Wissen sowie die Lösung aller Probleme suggeriert.
Innovation und Verantwortung
Gibt es einen Ausweg aus dieser kulturpessimistischen Analyse? Wir brauchen keine «technokratische Alternativlosigkeit» (Stalder), sondern den humanen, selbstbewussten und selbstreflektierten Umgang mit Daten und digitalen Anwendungen. Ziel der politischen Bestrebungen muss es sein, digitale Anwendungen ethisch zu hinterfragen, auf ihren humanen Nutzen zu überprüfen, kapitalistische Logiken aufzudecken und nicht numerische Kalkulationen als einziges Kriterium zu sehen. Wir brauchen Gesetze, die Innovationen ermöglichen und unverantwortliche Auswirkungen verhindern. Bildungsprogramme müssen so umgestaltet werden, dass sie Digital Literacy2 vermitteln und dem Computeranalphabetismus (Friedrich Kittler) entgegenwirken. Die Künste müssen sich kritisch konstruktiv mit digitaler Transformation auseinandersetzen. Nicht zuletzt brauchen wir ein neues Verhältnis zum Erheben oder Verwenden von Daten, sei es, dass der eigentliche Wert besser abgebildet wird, sei es, dass deutlich mehr Daten offengelegt werden (Open Data), um eine breite Nutzung möglich zu machen. Die politische Herausforderung ist, von einer unkontrollierbaren und unüberschaubaren Algorithmisierung der Kultur zu einer reflektierten Kultur der Algorithmen mit allgemeinem Nutzen werden. Noch ist nichts verloren, aber die Uhr läuft schnell.
Martin Lätzel