«Freiheit und Souveränität sind nie absolut»

Am 25. November stimmen wir über die «Selbstbestimmungsinitiative» ab (siehe auch SKZ 17/2018). Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär von «Justitia et Pax»* äussert sich dazu mit sozialethischen Überlegungen.

Die Volksinitiative fordert, das Verfassungsrecht dem Völkerrecht vorzuordnen, der Verfassung widersprechende völkerrechtliche Verträge anzupassen und nötigenfalls zu kündigen. Die wichtigsten Begriffe in der Begründung der Initiative sind «Freiheit» und «Souveränität».

Das gesprochene Recht kann ein Mittel zu mehr Gerechtigkeit sein, Recht und Gerechtigkeit sind aber nicht deckungsgleich. Die Schweizer Verfassung ist sich dieser Spannung bewusst, sie schaut deshalb zunächst auf das Wohl der Menschen und wendet sich erst danach den eigenen Rechten, den Fragen von Nation, Staat und Recht zu. Nur wenn das Recht alle Gesellschaftsmitglieder dazu befähigt, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, kann eine Gesellschaft eine freie genannt werden. Die Menschenrechte konkretisieren dieses Wohl aller Menschen über die verfassungsrechtliche und staatliche Gesetzgebung hinaus. Sie bieten letztlich den Schutz, den eine rein staatliche Ordnung nicht geben kann, weil sie an Mehrheitsentscheide gebunden ist. Die Menschenrechte umfassen nicht nur die Schutzrechte des zwingenden Völkerrechts, sondern auch die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Freiheitsrechte. So können sich europäische Bürger an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR wenden, wenn sie sich von der Rechtsprechung ihres eigenen Landes nicht gerecht beurteilt fühlen.
 
Das formale Demokratieprinzip schützt die berechtigten Anliegen von Minderheiten nicht. Blosse Mehrheitsentscheidungen kennen keinen Minderheitenschutz, sie fragen lediglich nach mathematischen Mehrheiten, ohne die berechtigten Anliegen der Minderheit angemessen zu würdigen. Hier garantieren die Menschenrechte die Freiheit und das Wohl aller, indem sie die formalen demokratischen Verfahren an elementaren Grundrechten ausrichten. Diese Bereicherung des eigenen Rechts wird durch die Selbstbestimmungsinitiative infrage gestellt. Die «fremden Richter» werden von den Initianten als Angriff auf die eigene nationalstaatliche Souveränität dargestellt. Diese Darstellung ist aber aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Zum einen ist bei allen Entscheiden des EGMR in Strassburg, die die Schweiz betreffen, immer ein Schweizer Richter beteiligt. Zum anderen haben Staaten in einem souveränen Akt den Menschenrechten als Grundlage ihrer eigenen Gesetzgebung und Rechtsprechung zugestimmt. Souverän ist ein Souverän also dann, wenn er die souverän getroffene Zustimmung zu den Menschenrechten konsequent in eigenes Recht übernimmt und damit den universellen Charakter der Menschenrechte unterstreicht. Echte Souveränität unterlässt es also, die Grundlagen des eigenen Rechts infrage zu stellen. Und der eigentliche Souverän ist die ganze Bevölkerung und nicht nur die Abstimmungsmehrheit. Um einer Reduzierung der Souveränität der Bevölkerung auf eine Souveränität von Abstimmungsmehrheiten zu begegnen, haben wir mit den Menschenrechten ein starkes normatives Regulativ in unser Rechtssystem eingebaut. Dieses Regulativ gilt es im Interesse echter Souveränität, also im Interesse aller, zu verteidigen.

Die Stossrichtung der Initiative geht dahin: Sie verteidigt nicht das Souveränitätsprinzip, sondern will dieses auf ein blosses Mehrheitsprinzip reduzieren. Wohin das führen kann und was dabei auf dem Spiel steht, zeigen nicht nur die Vorkommnisse in Chemnitz, sondern auch all die populistisch-chauvinistischen Entwicklungen in vielen anderen Ländern: Mit «Wir sind das Volk»-Parolen und im Namen einer gefühlten und herbeigebrüllten Mehrheit werden Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte infrage gestellt. Minderheiten, Flüchtlinge und Anders- denkende müssen weichen.

Das von der Initiative formulierte Ziel «Erhaltung und Wiedergewinnung von Freiheit und Souveränität» müsste eigentlich in die Forderung münden: Die Schweiz muss die menschenrechtlichen Bestimmungen und Verträge so in ihr Recht übernehmen und integrieren, das niemand mehr genötigt wird, «fremde Richter» anzurufen, um zu ihrem oder seinem Recht zu kommen. Bis dahin können die Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Rechtsschutz der souveränen Bevölkerung in der Schweiz beitragen.

 

* Die Schweizerische Nationalkommission «Justitia et Pax» ist eine Kommission der Schweizer Bischofskonferenz und beschäftigt sich mit sozialen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen aus einer sozialethischen Perspektive, www.juspax.ch

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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