Föderalismus und Subsidiarität als Anfang Israels

Föderalismus und Subsidiarität als Anfang Israels (aus: Herders Neuer Bibelatlas, S. 116).

Mit diesem Vortrag erfolgt eine Antwort auf die vorangehend abgedruckte Festansprache von Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger, und MLaw Marc M. Winistörfer zum Thema «Subsidiarität und Föderalismus» an der Feier zur Verleihung akademischer Grade der Theologischen Fakultät der Universität Luzern vom 25. September 2015.

1. Das Zwölf-Stämme-System Israels

Den Schriften der Bibel Israels und des erweiterten christlichen Alten Testaments gilt es als geradezu selbstverständlich, dass das Volk «Israel» aus zwölf Stämmen entstanden sei. Historisch kann «Israel» «ursprünglich [als] ein Stamm(esverband) im zentralen oder nordpalästinischen Bergland»1 bestimmt werden. Bei der gesellschaftlichen Ordnungsform eines «Stammes» handelt es sich um eine flexible Grösse ohne eine fest installierte Führungsposition. Innerhalb eines Stammes «[können] fremde Gruppen (…) leicht ins System integriert werden; Ausschlüsse und neue Allianzen sind kurzfristig möglich; hierarchische Strukturen entstehen und vergehen nach Bedarf (…). Der S[tamm] zeichnet sich nebst territorialem Anspruch durch eine kulturelle Substanz aus, die soziale, politische und ökologische Veränderungen der S[tamm]eswelt überdauern kann und sich oft in einem eigenen Gesetzescodex niederschlägt. Reale oder fiktive Genealogien vernetzen Sippen und S[tämme] durch Blutsbande zu einem S[tamm] oder einer S[tamm]eskonföderation.»2

In den biblischen Erzählungen wird die Anzahl der israelitischen Stämme idealisierend mit zwölf angegeben. Sie sind hervorgegangen aus den zwölf Söhnen Jakobs, der zugleich den ihm von Gott verliehenen Namen «Israel» (vgl. Gen 32,29; 35,10) trägt.

Das Buch Exodus beginnt mit der folgenden programmatischen Notiz, welche den Übergang von der Familiengeschichte über die drei Generationen Abraham – Isaak – Jakob (Gen 12–50) zu dem Zwölf-Stämme-Volk anzeigt:

«Und dies sind die Namen der Söhne (und Töchter) Israels, die gekommen waren nach Ägypten – mit Jakob. Jeder und seine Familie (sein Haus) waren gekommen: Ruben, Simeon, Levi und Juda, Issachar, Sebulon und Benjamin, Dan und Naftali, Gad und Ascher. Die Gesamtheit der Personen, die hervorgegangen waren aus der Hüfte Jakobs, betrug siebzig Personen. Und Josef [Efraim, Manasse] war in Ägypten» (Ex 1,1–5).

Bis auf Josef werden in den in der Bibel vorhandenen Listen die übrigen elf Namen in der Regel gleichbleibend aufgeführt. Josef kann jedoch in anderen Aufzählungen durch seine beiden Söhne Efraim und Manasse ersetzt werden. Im Gegenzug kann der priesterliche Stamm Levi, der über keinen Landbesitz verfügt, weggelassen werden.3

Das genealogische System mit Josef und Levi (Gen 29,31–30,12; 35,16–20) gilt als das ältere, das geografisch orientierte System mit Efraim und Manasse (Num 26,5–51) als das jüngere.4 Die zwischen den Stämmen bestehende Gemeinsamkeit könnte in der Verehrung JHWHs bestanden haben.5

2. Die Bedrohung durch den kanaanäischen Stadtstaat Hazor

Die Stämme repräsentieren die Anfänge des Volkes Israels etwa im 12./11. Jahrhundert v. Chr. Wenn sie durch andere angreifende «Völker», etwa kanaanäische oder philistäische Stadtstaaten, in eine Not gerieten, dann schlossen sie sich zu unterschiedlichen Koalitionen temporär zusammen.

Nach der biblischen Erzählung des Richterbuches wurden einige (nord-)israelitische Stämme durch den kanaanäischen König Jabin aus der damals sehr bedeutenden Stadt Hazor und seinen Heerführer Sisera aus Haroschet-Gojim zwanzig Jahre lang unterdrückt (Ri 4,1–3).6 König Jabin scheint die Handelswege blockiert zu haben, sodass die Versorgung und der wirtschaftliche Austausch stark beeinträchtigt worden waren (5,6).7

3. Die siegreiche Koalition der Stämme Sebulon und Naftali

In ihrer Not wenden sich die Israeliten an Debora, eine Prophetin und Richterin, d. h. eine Frau mit seherischen und politischen Fähigkeiten. Einem Mann namens Barak aus Kedesch-Naftali gibt sie den Rat, die beiden benachbarten Stämme Sebulon8 und Naftali9 gegen Siseras mit Pferden bespannten eisernen Wagentruppen in den Krieg zu führen, also eine Koalition zu bilden (4,4–7). Barak besteht darauf, von Debora begleitet zu werden (4,8–10). Baraks Aufruf folgen zehntausend Mann. Sie ziehen sich zunächst auf den Berg Tabor zurück (4,10). In der südlich davon sich erstreckenden Jesreel-Ebene kommt es zum Kampf gegen die neunhundert waffentechnisch überlegenen Kampfwagen Siseras. Dank der geheimnisvollen Hilfe JHWHs werden die kanaanäischen Gegner von der israelitischen Koali-tion vollkommen aufgerieben (4,14–16). Sisera springt vom Wagen und flieht zu Fuss in das Zelt bei der Eiche von Zaanim bei Kedesch. Jaël, die Frau des Keniters Heber, nimmt ihn mit Hinterlist gastfreundlich auf und versteckt ihn unter einer Decke im Zelt. Als er völlig erschöpft einschläft, schlägt sie einen Zeltpflock durch seine Schläfe (4,11.15.17–22). Historisch lassen sich hinter dieser theologisch spektakulär gestalteten Erzählung Auseinandersetzungen annehmen, welche sich wohl einige Zeit vor Saul (ca. 1025–100510), dem ersten (Heeres-)König über die Gebiete von Benjamin, Efraim und Gilead (vgl. 1 Sam 14,52; 22,6; 2 Sam 2,9),11 zugetragen haben mögen.12

4. Temporäre Stammeskonfödera-tionen des sich formierenden Israel

Das sich formierende Israel kann am Anfang seiner Geschichte nur dadurch überleben, dass sich die einzelnen Stämme gegen gemeinsame Feinde zeitlich begrenzt verbünden. Die Stammesgeschichte Israels zwischen 1200 und 1000 v. Chr. ist eine Geschichte unterschiedlicher politischer Konföderationen bzw. Bundeskonstellationen. Weil die einzelnen Stämme für sich zu schwach sind, schliessen sie sich bei auftretenden Gefahren zusammen, bewahren aber zugleich ihre geschichtliche und kulturelle Identität.13 In solchen Momenten unterstellen sie sich der Autorität einer charismatischen Führungspersönlichkeit, «Richter» oder «Richterin» genannt. Debora tritt subsidiär für die Stämme Sebulon und Naftali ein, weil Letztere sich in einer ausweglosen Situation befinden und der Hilfe («subsidium») bedürfen. Unter dem Subsidiaritätsprinzip versteht die neuere katholische Soziallehre das, wozu die Stämme am Anfang Israels gezwungen waren: «dass die Vielfalt der sich von unten her aufbauenden sozialen Einheiten in ihrer Eigenfunktion zu respektieren, zu bewahren und zu stärken ist, wo immer und solange sich diese gegenüber dem, was die ihnen übergeordnete gesellschaftliche Steuerungsinstanz zu leisten vermag, als die kompetenteren bewähren».14

5. Die Berufung der «Zwölf»

Die Anfänge der Heilsgeschichte Israels liegen in föderalen und subsidiären Strukturen. Eine neue Initiative wird um das Jahr 30 n. Chr. gestartet von einem Mann aus Nazaret in Sebulon, der aufbricht an die Westküste des Sees Gennesaret im Gebiet des Stammes Naftali. Er knüpft bewusst an die Zwölf-Stämme-Konföderation an, indem er die «Zwölf» beruft:

«Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er erwählt hatte, und sie kamen zu ihm. Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben. Die Zwölf, die er einsetzte, waren: Petrus – diesen Beinamen gab er dem Simon –, Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, der Bruder des Jakobus – ihnen gab er den Beinamen Boanerges, das heisst Donnersöhne –, dazu Andreas, Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Jakobus, der Sohn des Alphäus, Thaddäus, Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn dann verraten hat» (Mk 3,13–19 nach der EÜ).

6. Prinzipien der katholischen Soziallehre

Angesichts der Gefahr eine Politikverflechtungsfalle (siehe den vorhergehenden Beitrag von Christoph A. Schaltegger und Marc M. Winistörfer) erscheint es angeraten, dass sich auch die heutige Kirche zurückbesinnen sollte auf ihre föderalen und subsidiären Wurzeln. Das Prinzip der Subsidiarität wurde erstmals von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika «Quadragesimo anno» 1931 programmatisch formuliert. Federführend waren die beiden Sozialethiker und Jesuiten Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning. Der Titel «Quadragesimo anno» – «Im vierzigsten Jahr» – der Enzyklika spielt bewusst an auf die erste Sozialenzyklika «Rerum Novarum» von Papst Leo XIII. im Jahre 189115 als Antwort auf die Verwerfungen der Indu-striellen Revolution des 18./19. Jahrhunderts.

Die jüdisch-christliche Tradition basiert von Anfang an auf den Organisationsprinzipien des Föderalismus und der Subsidiarität. Das an Ri 4 anschliessende «Lied der Debora» will zu Solidarität und Föderalismus aufrufen. Auch die säumigen, Sebulon und Naftali benachbarten Stämme16 sollten sich künftig an der Abwehr gemeinsamer Bedrohungen beteiligen: Ruben, Gilead, Dan und Ascher (5,16f.).17 

1 Angelika Berlejung: «Quellen», «Methoden» und «Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel», in: Jan C. Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. In Zusammenarbeit mit Angelika Berlejung, Konrad Schmid u. Markus Witte. Göttingen, 42010, 21–192, hier 72.

2 Thomas Staubli: Art. Stamm, in: NBL III, 682-684, hier 682.

3 Vgl Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit. Göttingen 42008, 72; Martin Noth: Das System der zwölf Stämme Israels. Stuttgart 1930/Darmstadt 1966; Martin Noth: Geschichte Israels. Göttingen 91981, 83 f.; Dirk Kinet: Geschichte Israels. Würzburg 2001, 215 f.

4 Vgl. Volkmar Fritz: Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. Stuttgart u. a. 1996, 123–126.

5 Vgl. Rainer Kessler: Sozialgeschichte des alten Israel. Eine Einführung. Darmstadt 22008, 61.194. Fritz, Die Entstehung Israels (wie Anm. 4), 122.126 f.

6 Zu den geografischen Gegebenheiten vgl. die Karte von Mittel- und Nordpalästina.

7 Vgl. Herders Neuer Bibelatlas. Hrsg. v. Renate Egger- Wenzel, Michael Ernst, Franz Kogler u. Wolfgang Zwickel. Freiburg, i. Br. 2013, 114.

8 Das Gebiet Sebulons liegt nördlich der Jesreelebene in Untergaliläa. Vgl. Stefan Beyerle: Art. Sebulon, in: NBL III, 545–547, hier 546.

9 Naftali bildet Sebulons nordöstlichen Nachbarn, grenzt im Süden an den aufragenden Berg Tabor an und reicht im Osten bis zum Oberlauf des Jordan bzw. zum See Gennesaret. Vgl. Stefan Beyerle: Art. Naftali, in: NBL II, 888 f., hier 889.

10 Vgl. Israel Finkelstein / Neil A.Silberman: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 52003, 148.

11 Vgl. Berlejung, «Quellen» (wie Anm. 1), 102 f.

12 Vgl. Walter Gross: Das Buch Richter. Freiburg i. Br. 2009, 345. Fritz, Die Entstehung Israels (wie Anm. 4), 122.

13 Vgl. Donner, Geschichte des Volkes Israel 1 (wie Anm. 3), 77–80; Fritz, Die Entstehung Israels (wie Anm. 4), 122.126– 128.

14 Alois Baumgartner / Wilhelm Korff: Sozialprinzip als ethische Baugesetzlichkeit moderner Gesellschaft: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, in: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u. a. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Konstitutive Bauelemente moderner Wirtschaftsethik. Grundfragen ethischer Rationalität in einer globalen Welt. Gütersloh 2009, 225–237, hier 235.

15 Vgl. Alois Baumgartner: Art. Subsidiarität, in: LThK3 9 (2000), 1076 f.

16 Nach der Tradition von Ri 5 waren neben Sebulon und Naftali auch die Nachbarstämme Efraim, Benjamin, Machir und Issachar an der gemeinsamen Militäraktion beteiligt (Ri 5,14 f.).

17 Vgl. Gross, Das Buch Richter (wie Anm. 12), 349. Herders Neuer Bibelatlas (wie Anm. 7), 116. Offensichtlich zählten in dieser Tradition auch Machir und Gilead als Stämme Israels, die in das spätere Zwölfersystem keine Aufnahme fanden. Die beiden Südstämme Juda und Simeon werden nicht erwähnt. Sie werden wohl erst später dem Stämmesystem zugeordnet. Vgl. Fritz, Die Entstehung Israels (wie Anm. 4), 122 f.; Kessler, Sozialgeschichte (wie Anm. 4), 60

Martin Mark

Martin Mark

Der aus dem Erzbistum Freiburg i. Br. stammende Priester Dr. theol. habil. Martin Mark ist Ordentlicher Professor für die Exegese des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.