Ferienwelt - Fluchtwelt

Milchstrasse

Ferienhungrige sind unterwegs. Für nicht wenige gilt: Der Weg ist das Ziel. So liest sich im Postauto das philosophisch gewundene Werbewort unterwegs ins Hochtal. Auch kommen Gedanken auf über den Hunger der Anderen.

Auf, Richtung Süden! Auf, zur Sonne! In den Bergen oder an Stränden mehr von ihrer stärkenden Wärme spüren, von ihrem klaren Licht sehen. Die Wünsche vieler Sonnenhungriger sind Legion im Norden, ebenso die immer neu aufkeimende Hoffnung auf einen guten Ausgang der Geschichte mit der Schöpfung. Du siehst den Aufbruch der Karawanen von Ferienhungrigen aus Städten und Landschaften, wo schon mal Milch und Honig fliessen. Darum überall das riesige Angebot an Siedlungen und Unterkünften, Campings und Badestränden. An deren Rändern wird der andere Hunger sichtbar. Unweit von Ferienzonen beginnen Gebiete von Armut und Elend, meist im Umkreis von Städten, die stark anwachsen. Europas Ferienwelten prallen auf Fluchtwelten. Den Anderen im Süden ergeht es anders: Millionen Vertriebene im Südsudan, von ihnen allein eine Million aufgenommen in Uganda. In der Demokratischen Republik Kongo mehr als eine Million vor Gewalt Fliehende. Nur wenige finden ihren Weg nach Norden. Der schier unüberbrückbare Gegensatz in Ferienzeiten hat seit einiger Zeit nicht wenige Menschen Europas aufgeschreckt und zu freiwilliger und organisierter Hilfe vor Ort in Flüchtlingslagern veranlasst. Man kann darum in Ferienzeiten nicht davon absehen, allen in der gleichen Milchstrasse ein gutes Leben zu wünschen.

Der Hunger der Anderen

Ich sitze vor meiner Weltkarte. Darauf eingezeichnet sind die Hauptlinien der globalen Schifffahrt. Immer neu sind wenige Menschen mit Tausenden Tonnen von Schiffsgütern auf ihren Routen unterwegs, vor sich die Weite des Meeres und nachts über sich ein mit Sternen übersäter Himmel. Die stille Hoffnung spricht hier ihre eigene Sprache. Ein anderer Hunger und ein anderer Durst kommen auf. Die Sehnsucht nach der Heimat, nach Zusammensein in der Familie, nach einer Zukunft für alle in Süd und Nord, Ost und West. Globalisierung vieler Zusammenhänge: die Wege der Öl- und Getreidetransporte, die Reise von Bodenschätzen und Rohstoffen. Auf den Weltmeeren konkurrieren die Handelsmächte auf ihren Routen um Waren und Märkte, um Einfluss, Macht und ihre Sicht der Dinge.

Die Namenlosen dagegen treiben auf ihren Booten, tödlichen Gefahren ausgesetzt. Nicht alle erreichen ihr Ziel, viele sterben unterwegs – darunter die vergessenen Unbekannten auf der Balkanroute, von Unbekannten beigesetzt. Auch sie schauten einst in die Milchstrasse, in der sie lebten und davon träumten, genug zum Essen und Trinken zu haben. Diese nicht nur nüchterne Feststellung hat ihre bleibend aktuelle Wahrheit. Das ist unsere Welt während und ausserhalb der Zeiten, die uns als Ferien selbstverständlich vergönnt sind. Das ist unsere Erde, auf welcher ebenso Heiteres seinen Platz findet.

Der Funke göttlicher Sehnsucht in jedem Menschen brennt, stärker oder weniger spürbar, vermischt mit einer Prise göttlich-mutig-menschlichen Humors. Davon handeln Zeichnungen, die Jean Eiffel erstmals in Paris 1950/51 erscheinen liess, als noch in der Milchstrasse Ruhe vor dem Sturm der Sputniks und Satelliten war und sich (männlich überzeichnet!) göttlicher Unternehmungsgeist fröhlich auf den Weg machte. Jahre später deutet die russische Dichterin Larissa Miller die Geschichte der Schöpfung mit ihren Worten.1

Noch ist die Schöpfung nicht beendet, noch sieht man Ihn denken. Formen will Er ein uns fremdes Gefühl, um es dann schmerzlich zu lieben. (Larissa Miller)

Die Schöpfung bleibt unvollendet und unser Unterwegssein im Ferienverkehr gleicht einem Generator von tausenden Erwartungen. Wird es eine glückliche Ankunft, ein Wiedersehen oder schlicht ein müdes Wegsinken in den Schlaf nach anstrengender Wanderung? Und für die Anderen das endlich erreichte Fluchtziel?

Ist der Weg das Ziel?

Wege verlaufen mal vorgegeben, mal wie eine Überraschung, die sich von Moment zu Moment neu auftut. Schritt für Schritt, Kurve um Kurve, steile und abschüssige Abschnitte, Längen über Stege und Abgrund. Vollends anders wird das Bild vom Weg, wenn sich einer selbst als Weg, Wahrheit und Leben darstellt (Jo 14, 6). Es ist eine Wegmarke mit überdeutlicher Kontur. Zu absolut abgehoben!? Jesus verschwindet nicht im Bild-Wort. Er sieht sich selbst als Weg auf dem Weg zum Ziel. Das ist in orientierungsarmer Zeit eine Zumutung, wo das Diktat des Konsums vorherrscht und sich viele der Diktatur von Götzen mit falschem Gesicht ausgesetzt sehen, dem Hohn und Spott über die Schwächen anderer, und sei es gegenüber den unterschiedlich-religiösen Glaubenswegen. Werden die Menschen sich selbst zum Ziel? Manchmal ist Widerstand geboten auf dem Weg zu mehr Wahrheit und mehr Lebenschancen für alle, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.

Hungern und Dürsten

Hunger und Durst bewegen die Lebewesen. Uns Menschen eigen sind sie wie Signale, die uns als Mangelwesen erkennen lassen. Der Kontrast zwischen den nach Ferien Hungernden und den nach neuer Heimat Suchenden kann darum nicht grösser sein, wenn dem Mangel an Lebenschancen die materialistische Fülle an Konsumgütern gegenübersteht. Das «Modell des knauserigen homo oeconomicus»2 führt nicht weiter, da es mehr das «Urbild der Verweigerung gegenüber der lebendigen Tiefenstruktur des Seins» zeigt. Darum – so Ralf Miggelbrink im Nachdenken über das «Leben in Fülle» – machen Mitteilung, Zeugen und Gebären, Hingabe und Empfangen die «Wirklichkeit des Lebens» aus. Unter dieser Perspektive und kritischer Einstellung gegenüber dem übersteigerten Konsumismus gerät die Sorge und Fürsorge in den Blick. Denn niemand verdankt sein Dasein einer Aktiengesellschaft.3 «Zu empfangen, abhängig zu sein und zu wachsen erscheint in der christlichen Theologie nicht als Mangel, sondern als Gestalt der biographisch gestreckten Partizipation am göttlichen Pleroma. Diese Partizipation impliziert immer auch das Moment der personalen Relation: Göttliche Lebensgabe ist kein sachhaftes Geschenk, sondern personale Beziehung und als solche wechselseitig.»

Mitleiden

Im Zusammenleben aller auf dem Erdball zeigt sich durch «gefühltes Mitleid» die Qualität christlicher Existenz: «Das Christentum pflegt eine Kultur des Vertrauens gegen eine Zivilisation der universalisierten Existenzangst.» Wen diese Angst trifft, zeigt sich – ungleich verteilt – an der grossen Not der nach Norden Flüchtenden ebenso wie an den kleinen Fluchten jener, die sich daran doch erinnern mögen, was sie in die Ferien reisend an gefühlter Heimat für eine Weile hinter sich lassen. Damit sehen alle viele Wege vor sich und – würden sie zusammenkommen – wären sie eingeladen, zu beten und zu singen mit Worten, die nicht märchenhaft klingen, vielmehr um neue Antworten ringen:

Wir sehen viele Wege, doch einen müssen wir geh’n. Wir hören viele Worte, nur Eines bleibt besteh’n. Zeig uns, Herr, den rechten Weg, der zum Ziele führt. Gib uns du das gute Wort, das uns retten wird.

 

1 Aus dem Russischen von Kay Borowsky.

2 Ralf Miggelbrink: Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Reihe Quaestiones Disputatae 235, Freiburg i. Br. 2009, 247. Ders. Fülle als Schlüsselbegriff christlicher Existenz, in: Geiko Müller-Fahrenholz (Hg.): Faszination Gewalt. Aufklärungsversuche. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, Frankfurt 2006, 200–223.

3 R. Miggelbrink anlässlich einer Fortbildung für Seelsorgende in der Deutschschweiz: «Wir verdanken unser Dasein keiner AG.» Zitat aus ders. aaO. 2006.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)