Faszination Hirn und Menschenbild

Roboter übernehmen. Der Blick in die Zeitung genügt: Ich sehe das Bild eines Bauern in der Zentralschweiz. Er sitzt im Büro und schaut auf den Bildschirm vor ihm. Dazwischen ein Kontrollblick auf seinen Roboter im mechanisierten Stall, der ihm Routinearbeiten abnimmt. Die «künstliche Intelligenz» im Stall schiebt sich als Maschine zwischen Mensch und Tier. Beim Erntedank wird er womöglich auch dafür danken.

Ich vermute, dass es uns beiden gleich erginge, wenn uns die Frage gestellt würde: «Wie habt ihrs mit dem ‹Gott-Gen›, das in jener Hirnregion gefunden worden ist?» Wir beide müssten uns über die Hirnforschung unterhalten. Und ob sie wirklich weiterhelfe im rasanten Wandel, dem jedes Arbeiten ausgesetzt ist. Nun wirft eben diese Faszination «künstlicher Intelligenz» Grundfragen nach dem Menschenbild auf. Zwar helfen Roboter in mühsamen Arbeitsprozessen weiter, lösen aber kaum Fragen nach dem Sinn der Arbeit und wie sich Menschsein heute verstehen lässt.

Neuer Realismus

In der Debatte um den neuen Realismus nimmt der Philosoph Markus Gabriel1 einen besonderen Platz ein. Er schreibt der Genforschung und den Neurowissenschaften ideologische Züge zu.

Was Gabriel anbiete, sei «eine Art Generalabrechnung mit zahlreichen intellektuellen Moden der Gegenwart, an erster Stelle dem Konstruktivismus und Varianten des postmodernen Denkens», schreibt Karlheinz Weissmann dazu. Materialismus und neuer Atheismus stünden für einen Prozess der «Fetischisierung» (Gabriel). Die Rolle des Glaubens ist auf diesem Hintergrund diffuser geworden und die Faszination für die Hirnforschung länger schon eine Anfrage an das Bild, das sich Menschen von der Wirklichkeit und von sich selbst machen.

Neuro-Glaube und Wirklichkeit

Auf der Suche nach der «Hotline zum Himmel» stand 2002 «eine bestimmte Hirnregion als Sitz Gottes unter Verdacht».2 Wie sich später in der Diskussion zeigte, wurde der Neurotheologie abgeraten, schnelle Schlüsse zu ziehen, bevor nicht überzeugend erklärt sei, «was religiöses Bewusstsein ist und wie es zu Stande kommt».3

Nun ist das, was eine Person als (auch) religiöse Wirklichkeit erfährt, von seiner Erscheinung her nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen, das sie selber unendlich übersteigt.4 Wo zwei Menschen je ein Stück Holz zur künstlerischen Bearbeitung in die Hand gegeben ist, wird dies am Ende zu unterschiedlich geformten Gestalten und Skulpturen führen.

So betrachtet, begegnet uns jeder Teil der Wirklichkeit als Tatsachen-Welt ausserhalb von uns, wie aber auch als innere Wahrnehmung und Einbildung, festgemacht in subjektiven Vermittlungen. Beginnt damit religiöses Bewusstsein in einer Hirnregion? Genügt das herkömmliche Verständnis, das wir uns vom «Bewusstsein» machen?

Klärungshilfen durch Psychologie, Biologie und Hirnforschung

Mehrere Wissenschaftszweige gingen daran, menschliche Identität neu zu begreifen. Auf Sprachfallen machte dabei Ernst Pöppel aufmerksam: «Begriffe wie ‹das Bewusstsein›, ‹das Gefühl›, ‹der Wille› sind Ausdruck des Bedürfnisses des Menschen, Zuschreibungen vorzunehmen. In dieser Sprachfalle sitzen auch die meisten Neurowissenschaftler.» Es seien «uns jene Dinge bewusst, die anderen mitgeteilt werden sollen oder könnten», und Bewusstsein erhalte dadurch eine soziale Dimension: «Mir ist etwas bewusst, weil es andere gibt.»5 Auf der Hirnforschung basieren jüngere Bestrebungen in Unternehmen, die menschliche Tätigkeit und «künstliche Intelligenz» zu vernetzen. In der Folge werden Menschen weniger arbeiten müssen und mühevolle Arbeiten Robotern überlassen. Was der Sinn der Arbeit und des Menschseins unter diesen Vorzeichen bedeuten kann?

Arbeiten unter neuem Sinnhorizont

Die Neurobiologie6 sieht jedes Arbeiten als Entfaltung von Potenzialen in allen Lebenslagen. Mit Friedrich Engels «Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen» steht fest, dass «Arbeit» eine Kulturleistung ist, in biologisch-genetischer Sicht aber nicht umfassend beschrieben werden kann. Ihr Sinn liegt darin, in jeder Lebensphase Potenziale zu entfalten. Arbeit ist damit alles, «was Menschen beschäftigt, was sie nach neuen Lösungen suchen oder vielleicht auch nur in alte Muster flüchten lässt, was sie im weitesten Sinn ‹bewegt› und ‹anregt›». Nicht von ungefähr zeigt das Spiel von Kindern, ihr «spielerischer Umgang mit den Problemen», den Beginn eines lebenslangen «Schaffens» am neuen Sinnhorizont.

Mit Robotern umzugehen, wird der nachfolgenden Generation darum nicht leichter gelingen, eher zur Herausforderung, das Menschsein mit seinem «freien Willen» wahren zu können. Arbeitskonflikte in aller Welt, die entstehen, wo Werkplätze zum Spielball von Robotern werden und der Verlust eines Arbeitsplatzes vielfach dem Verlust der Menschenwürde gleichkommt, können darum aus christlicher Perspektive nicht vernachlässigt werden. Arbeiten unter menschengerechtem Sinnhorizont ist verknüpft mit dem biblisch begründeten Glauben an den «sakralen Kern jedes menschlichen Wesens».7

Beseeltes Dasein

Hirnscans verleiten zu Aussagen, die Arbeitsfähigkeit von IV-Beziehenden «objektiv» nachzuweisen.8 Dennoch: Beschwerden empfinden Personen subjektiv. Damit bleibt die Menschenwürde eine Option, welche zudem aus unterschiedlich weltanschaulicher Sicht in der Diskussion über die Grenzen der Hirnforschung bestätigt wurde. Im Gespräch zeigte sich darum der Neuropharmakologe Felix Hasler nicht als «Forscher, der an ein ganzheitliches Bild der Natur glaubt», sondern «als eine Art Wissenschaftsagnostiker».9 Menschen sind somit nicht nur Neuronen. Sie sind beseelt von Glaube, Hoffnung, Liebe – Merkmale ihrer je eigenen Würde.

 

1 Markus Gabriel: Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen. Warum der Neue Realismus nötig und warum er nicht naiv ist, in: NZZ, 18. Juni 2016, 49, und ders.: Wir Verblendeten, in: DIE ZEIT, Nr. 24/2014, 5. Juni. Kritik formuliert Karlheinz Weissmann in: Neuer Realismus, Debatte Sezession 59, April 2014, 30–32 oder http://www. sezession.de/44774/neuer-realismus.html.

2 Einblicke zeigte Johann Grolle: Hotline zum Himmel, in: DER SPIEGEL: Hirnforschung, Der gedachte Gott, Wie Glaube entsteht, Nr.21/2002, 190–201, hier 190.

3 Vgl. Thomas M. Schmidt: Gott, Geist, Gehirn, in: Forschung Frankfurt, 4/2005, 58–61, 61, www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050039/2005.

4 Vgl. zum Interesse von Simone Weil an ihrer nächsten Wirklichkeit: Angela Büchel Sladkovic: «In die Wurzel der Mitternacht treten». Zu einer theologischen Lesart Simone Weils, in: Orientierung 67 (2003), 5–8, und Karl-Dieter Ulke: Das Wirkliche und das Imaginäre. Zum geistigen Weg von Simone Weil, in: Orientierung 67 (2003), 153–157.

5 Nicola von Lutterotti im Gespräch mit Ernst Pöppel: Bilder bilden unsere Identität, in: NZZ, 18. Dezember 2010, 65.

6 Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. Frankfurt a. M. 2011, bes. 154–160 mit Bezug auf Friedrich Engels http://www.mlwerke.de/ me/me20/me20_444.htm.

7 Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg i. Br. 2012, 208, und ders.: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011.

8 Vgl. http://www.nzz.ch/schweiz/ein-zusaetzliches-puzzleteil-fuer-die-iv-1.18223938.

9 Matthias Meili im Gespräch mit Felix Hasler: «Die Hirnforschung stilisiert sich hoch», in: Tages-Anzeiger, 8. Dezember 2012, 12. Vgl. auch Daniel Hell: Nicht das Gehirn ist bedrückt, sondern der Mensch, in: Tages-Anzeiger 15. März 2014, 42, sowie ders.: Krankheit als seelische Herausforderung. Basel 2013.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)