«ethik22»: Raum für Dialog und sozialethische Perspektive

Mit der Gründung von «ethik22» beginnt ein neuer Abschnitt für die katholische Sozialethik in der Schweiz. «ethik22» nimmt die Herausforderungen der Menschen aus dem eigenen Netzwerk und der Gesellschaft zum Ausgangspunkt für seine Arbeit, erläutert Thomas Wallimann.

Mit der Kernaufgabe, Raum für fundierte Perspektiven und sozialethische Orientierung durch Dialog zu schaffen, trägt «ethik22» die katholische Soziallehre und das Erbe der Katholischen ArbeitnehmerInnen-Bewegung (KAB) in die Zukunft. Auch wenn «ethik22» in einer veränderten, digitalisierten Welt arbeitet, verbindet sich damit viel mit jener Zeit, als die katholische Soziallehre und die KAB entstanden und sich den gesellschaftlichen Entwicklungen stellten. «ethik22» will heute wie einst die katholische Soziallehre und die KAB in ihren Anfängen für eine menschlichere Gesellschaft wirken.

Damals veränderte die Industrialisierung das Zusammenleben der Menschen. Die Menschen strömten vom Land in die Städte zur Arbeit. Bisherige Formen der Lebensorientierung, von Dorfgemeinschaft, Heimat und Familie wurden zerstört oder erfuhren grosse Veränderungen. Es kam zu grosser Armut unter den Arbeitenden, während andere – die sogenannten «Kapitalisten» – teilweise sehr reich wurden. Arbeit wurde zur Ware, und Menschen erlebten sich als Mittel zum Zweck, zur Produktion oder Gewinnsteigerung. Die Folgen beschreibt im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Büchlein zur Werbung für Aufenthalte in Seelisberg:

«Die Arbeit der heutigen Generation ist kräfteverzehrend (…). Beinahe in allen Gebieten menschlicher Thätigkeit herrscht eine masslose Concurrenz, welche an den Einzelnen, um den Wettkampf ehrlich zu bestehen, die grössten Anforderungen stellt. … Das alles schwächt die sonst rüstige Lebenskraft, Intellekt und Schaffensfreudigkeit ermatten, die reizbaren Nerven werden empfindlich, (…) das Herz schlägt unruhig, und die Lunge arbeitet unregelmässig. Der Mensch ist leidend, auch wenn er sich nicht für eigentlich krank hält. … Ich möchte sie am liebsten die Krankheit des 19. Jahrhunderts titulieren; denn sie entsteht durch den grossen und raschen Kräfteverbrauch, dessen sich ein guter Theil der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaft in unruhvoller Lebensweise schuldig macht.»1 Diese Sätze könnten auch heute geschrieben werden!

«ethik22» will wie damals die Kirche dieses Leiden der Menschen ernst nehmen. Damals – im 19. Jahrhundert – stand am Anfang das Engagement von Einzelpersonen und kleineren Gruppen, meistens Laien. Immer deutlicher wurde jedoch, dass es nicht ausreichte, Lösungen für einzelne Situationen im Rahmen von Almosen zu schaffen. Es brauchte eine strukturelle Veränderung gegen diese «Krankheit des 19. Jahrhunderts». Dies wiederum verlangte nach Stimmen, die diese Strukturveränderungen in die Öffentlichkeit trugen und politisch umsetzbar machten.

Initialzündung «Rerum novarum»

Mit der Enzyklika «Rerum novarum» wurde 1891 von Papst Leo XIII. zum einen eine längere innerkirchliche Entwicklung zusammengefasst und gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in der Arbeitswelt gewagt. Dies war auch das Startsignal für neue Bewegungen.

1899 gründeten Johann Baptist Jung, ein junger Priester im Bistum St. Gallen, und Alois Scheiwiler, der spätere Bischof von St. Gallen, auf der Basis von «Rerum novarum» den ersten christlich-sozialen Arbeiterverein. Daraus entwickelte sich die KAB, die Katholische Arbeitnehmerinnen-und Arbeitnehmer-Bewegung. Von Anfang an standen sozial-karitative Projekte wie auch der Einsatz für gerechtere politische und soziale Verhältnisse im Zentrum. So verband sich die KAB mit den christlichen Gewerkschaften, aber auch mit christlich-sozialen politischen Kreisen. Diese gesellschaftspolitische Arbeit der KAB erfuhr durch die weiteren Sozialenzykliken («Quadragesimo anno», 1931 und «Mater et Magistra», 1961) Stärkung und Inspiration. Bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg fokussierten die KAB-Verantwortlichen auf eine fundierte politische wie ethische Bildung ihrer Mitglieder, denn sie waren überzeugt, dass nur wer Wissen hat, auch gesellschaftspolitisch zum Wohl der Menschen aktiv werden und so zerstörerische gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen und verändern kann.

Christlich-soziales Bildungsinstitut

1961 kam die Anregung, ein Sozialinstitut für die Bildungsarbeit zu schaffen. Anfang Februar 1963 schrieb das «Werkvolk», die Zeitung der KAB, über dessen Gründung und Aufgaben: «Das Sozialinstitut soll (…) eine längst verspürte Lücke schliessen: 1. Dokumentation und Information über soziale Fragen, 2. Arbeits-und Beratungsstelle für die Methodik der modernen Erwachsenenbildung, 3. Organisation der einheitlichen Bildungsarbeit der KAB-Verbände.»2 Entstanden sind in der Folge die «Soziale Arbeiterschule», zahlreiche «Kerngruppen» in den KAB-Sektionen sowie viele tausend Seiten Bildungsmaterial.

Vom Bildungsinstitut zum Institut für Sozialethik

In den 1980er-Jahren veränderte sich das gesellschaftliche Umfeld. Auch die KAB und das Sozialinstitut spürten dies. Weitsichtig machte die KAB Schweiz aus dem damaligen Sozialinstitut ein eigenständiges «Werk» innerhalb des Verbandes und gab ihm so Gestaltungsraum. Dieses neue Sozialinstitut wurde von einem eigens geschaffenen Institutsrat geführt und widmete sich den Themen Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Friedensarbeit.3

Im Jahre 1999 wurden die Leitlinien erneut angepasst und der Schwerpunkt auf die Sozialethik und speziell die katholische Soziallehre gelegt, um aus dieser Perspektive gesellschaftspolitische Fragen aufzugreifen. Es gelang in der Folge, zahlreiche Beziehungen innerhalb der Kirche und zu Kreisen in Politik und Wirtschaft aufzubauen. Dabei entpuppten sich die Methode des Sehen – Urteilen – Handeln, die aus der christlichen Arbeiterjugend stammte, wie auch die Prinzipien der Soziallehre als zuverlässige Arbeitshilfen für viele drängende Wertfragen. Mit dem «treffpunkt», dem sozial-ethischen Magazin der KAB, konnte das Sozialinstitut auch Kreise ausserhalb der KAB erreichen.

«ethik22» – das neue Institut für Sozialethik

Die Welt «schwächt (…) Lebenskraft, Intellekt und Schaffensfreudigkeit». Solche Klagen kann auch heute hören, wer die Geschichten der Menschen zu Burnout und Stress hört. Vieles scheint nicht unähnlich zu sein, als einst die KAB gegründet wurde und die katholische Soziallehre entstand. Und doch sind die Zeiten anders. Die KAB sieht sich heute mit Mitgliederschwund und Überalterung konfrontiert. Verschiedene Versuche der Erneuerung scheiterten. Neue Wege sind nötig.

Nach einem ausführlichen Bericht einer Arbeitsgruppe sowie Gesprächen und Abwägungen entschied die Delegiertenversammlung der KAB Schweiz am 9. April 2016, das Sozialinstitut in eine neue eigenständige Organisation mit einem Trägerverein zu überführen. Die KAB-Delegierten wollten damit den Geist und das sozialethische Gedankengut der KAB zukunftsfähig machen. Am 7. Dezember 2016 gründeten über 100 Personen aus Kirchen, Politik und Wirtschaft den neuen «Verein für christliche Sozialethik». Dieser führt das sozialethische Institut «ethik22».

«ethik22» – Raum für Werte

Mit der Zahl 22 nimmt «ethik22» Bezug auf einen Begriff aus der englischen Literatur, der für Zwickmühle und Dilemma-Situationen steht. Ethik steht für das Nachdenken über Wertfragen. «ethik22» will darum in herausfordernden gesellschaftlichen Zeiten die Tradition der katholischen Soziallehre weiterführen, sich mit den strukturellen Dimensionen menschlichen Leidens auseinandersetzen und so den Menschen helfen, fundierte Perspektiven zu entwickeln. Seine Tätigkeit baut auf den Sorgen und Fragen der Menschen auf, denen die Zeit fehlt, bei aktuellen Themen grössere Zusammenhänge zu erkennen, oder die beklagen, dass jene Werte, die sie als Kinder gelernt haben und ihnen etwas bedeuten, in der heutigen Gesellschaft und Wirtschaft keinen Platz mehr haben; oder dass Ort und Menschen fehlen, wo Gesellschaftsthemen aufgegriffen werden. Um diese Ziele zu erreichen, arbeiten Ehrenamtliche und Angestellte an neuen und bewährten Angeboten (siehe unten).

«ethik22» will in bester katholischer Tradition die Aufgabe wahrnehmen, in herausfordernden gesellschaftspolitischen Zeiten der Kirche ein Gesicht und unserer katholischen Soziallehre eine Stimme zu geben. Wollen Sie nicht auch mitmachen? Informationen unter: www.ethik22.ch.

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Vernetzung und Austausch

Öffentliche Anlässe wie die bewährten Vorträge und Anlässe (z. B. Sozialtag), wie auch neue Formen wie Ethik-Café oder öffentliche Gespräche bieten Möglichkeiten zu Vernetzung und Austausch. Stärker thematisch orientiert sind die elektronischen und auch gedruckten Informationen.

Mit «ethik22 – das Blatt» wird regelmässig elektronisch Raum für Dialog geschaffen. Hier sollen auch andere Sozialethikerinnen und Sozialethiker zu Wort kommen. So kann dem Bedürfnis nach Vernetzung sozialethischer Stimmen in der Schweiz Platz gegeben werden.

Thematische Schwerpunkte

Viermal jährlich soll «ethik22 – das Magazin» in gedruckter Form erscheinen. Als Nachfolge des «treffpunkt» bietet es gesellschaftliche Analysen, Dialog und sozialethische Orientierung! Dies haben Leserinnen und Leser des «treffpunkt» in einer Umfrage als besonders wertvoll bezeichnet. Auch hier sind Diskussionen mit Leserinnen und Lesern Ausgangspunkt für die Inhalte. Damit es finanziell gelingen kann, hat sich «ethik22» das grosse Ziel gesetzt, mindestens 600 Abonnierende zu gewinnen.

Stimme sein

Schliesslich bleiben öffentliche Anlässe und öffentliche Stellungnahmen wichtige Inhalte der Arbeit von «ethik22». Dazu zählen insbesondere die ethischen Orientierungshilfen zu den Eidgenössischen Abstimmungen, aber auch das Verfassen von Artikeln, Bildungsangebote oder Predigten zu gesellschaftlichen Fragen aus dem Blick christlicher Sozialethik.

 

1 Ed. Thomann und Dr. med. Heusser, Sonnenberg Seelisberg. Ein Eldorado am Vierwaldstättersee, J. A. Preuss, Zürich, 1896, 14.

2 Werkvolk, Ausgabe vom 7. Februar 1963 (70. Jg. des «Arbeiter»), Nr. 6, 3.

3 Vgl. KAB Schweiz (Hrsg.), 100 Jahre KAB Schweiz. Heft 2: Gegenwart, S. 16.


Thomas Wallimann-Sasaki

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki (Jg. 1965) studierte Theologie in Chur, Paris, Berkeley (USA) und Luzern, wo er bei Hans Halter promovierte. Seit 1999 leitet er ethik22: Institut für Sozialethik (vormals Sozialinstitut der KAB). Er ist Präsident ad interim von Justitia et Pax.