Entschieden auf der Seite der Leidenden

Johann Baptist Metz bleibt im Kreis derjenigen, die sich mit dem Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils auseinandersetzen, nicht wegzudenken. Sein herausforderndes Denken in einigen Spuren nachzeichnen will dieser Beitrag zur Feier seines 87. Geburtstags – am 5. August 2015.

«Armut im Geiste»

Unter diesen Titel stellte Metz 1962 seine Reflexionen über den Geist der Menschwerdung Gottes und der Mensch-Werdung des Menschen. Der erste Satz nahm einen gleich in Beschlag: «Mensch zu werden – das ist mehr als eine Frage der Empfängnis und Geburt. Es ist Auftrag und Sendung, ein Imperativ, eine Entscheidung.»1 Der Mensch sei «sich selbst zur Mensch-Werdung anvertraut», jedoch «von den Wurzeln her gefährdet», und existiere «gleichsam als möglicher Rebell». Er könne vor sich selbst nicht davonlaufen. Werde er ungehorsam gegen die «Wahrheit seines Seins», werde er «seine Mensch- Werdung verfehlen».2 Diesen Gedanken vertiefend hob Metz die Selbstliebe und Selbstbejahung des Menschen als «Basis der christlichen ‹Konfession›»3 hervor. Damit gelangt die Menschwerdung Gottes in Jesus aus Nazareth in den Blick, wovon die Glaubensreden der Evangelien erzählen. So sind die in Mt 4,1–11 geschilderten Versuchungen «wie ein dreifaltiger Angriff auf die ‹Armut› Jesu, auf seine Selbstentäusserung, durch die er uns erlösen will».4 Folgerichtig ist die Menschwerdung Gottes von tragender Kraft für den Menschen. Denn in der «Treue Gottes zum Menschen wurzelt schliesslich aller Mut des Menschen, sich selbst treu zu sein».5 Alles in allem bot die Kleinschrift «Armut im Geist» geistliche Lektüre auf der Basis christlicher Anthropozentrik.6 Noch nichts davon, was die globale Armutsfrage betrifft, dafür viel über das menschliche Existieren, das einem armselig vorkommt. Johann Baptist Metz hielt fest: In allem, was die menschliche Armseligkeit ausmacht, «tastet Gott selbst sich an uns heran».7

Weltverantwortung

Der Name Metz steht in der Folge für eine Theologie, die den Fokus auf die konkrete (Welt-)Wirklichkeit richtet. Als Schüler Karl Rahners sah sich Metz bald einmal dem Gespräch mit dem religiösen Pluralismus verpflichtet. Im fairen Streit-Dialog mit dem Marxisten Roger Garaudy betonte er 1966, dass die frühen Gemeinden in Jesus nicht den Lehrer einer Weltanschauung, keinen Weisen oder Weltdeuter, sondern einen Revolutionär sahen, «der handelnd-leidend in Konflikt mit der bestehenden Welt steht und der deshalb auch keine Bewunderer, sondern Nachfolger braucht – im Dienste seiner weltverwandelnden Sendung».8 Weil das Konzil selber von der «Erneuerung der Welt» spreche, welche «in dieser Weltzeit in gewisser Weise wirklich vorausgenommen» (LG 48) wird, müsse sich der Christ «als ‹Mitarbeiter› an dieser ‹neuen Welt› des universalen Friedens und der Gerechtigkeit verstehen».9 Richtiges Glauben müsse sich ständig im praktischen Glauben bewahrheiten. Auf die christliche Hoffnung bezogen sei diese «eine Hoffnung, an der wir ‹nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu kochen haben›» – so ein Bonmot von Ernst Bloch.10 Im Dialog mit dem atheistischen Humanismus markierte Metz überdeutlich: «Der bedrohte Mensch: er könnte die Stätte sein, an der die Wahrheit zwischen Glauben und Unglauben sich heute bewährt (…). Hier hat die Kirche, die sich im Konzil ausdrücklich als ‹Kirche der Armen und Bedrängten› bezeichnet, und mit ihr das gesamte Christentum einem grossen Anspruch gerecht zu werden.»11 Dieser gründet letztlich im Kreuz Jesu, welches «jenseits der Schwelle des behüteten Privaten oder des abgeschirmten Religiösen (steht) (…). ‹draussen›, wie der Hebräerbrief sagt, im profanum der Welt, ihr zum Ärgernis, zur Torheit und – zur Verheissung».12 Der Glaube müsse sich «auf die Öffentlichkeit, die Sozialität, die konkrete Geschichte der Welt beziehen».13

Glaube entprivatisiert

Weil Gott diese Welt will und in ihr sich die Heilsgeschichte abspielt, haben das Leben und die Praxis der Kirchen etwas Provisorisches. Metz hat nach dem Konzil solche Impulse weitergetrieben. Sein zentrales Anliegen: Die Weitergabe des Glaubens darf nicht privatisiert werden. Das gesellschaftsbezogene Wort sollte im Stil ändern, «nicht Überredung, sondern Überzeugung, nicht Anmutung, sondern Angebot und damit immer auch Information, nicht Gemütsdialog, sondern klarer Streit um die Wahrheit (sein)», so in seiner «Theologie der Welt», erinnernd an die Prophezeiung Dietrich Bonhoeffers: «Der Tag wird kommen, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert.»14

«Unsere Hoffnung»

Die Bewährung seiner Theologie erfuhr Metz während der gemeinsamen Synode der Bistümer in Deutschland. Er prägte die Architektur des gewichtigen synodalen Textes «Unsere Hoffnung».15 Dieser wurde zum viel beachteten Beschluss. Zen tral waren das Zeugnis christlicher Hoffnung in der gegenwärtigen Gesellschaft und die Entscheidung der Kirche, Verantwortung für eine lebenswürdige Zukunft der Menschheit zu übernehmen. Teil III benannte die «Wege in die Nachfolge», in den «Gehorsam des Kreuzes», in die «Armut», in die «Freiheit», in die «Freude». Die Nachfolge «ruft uns dabei immer neu in ein solidarisches Verhältnis zu den Armen und Schwachen unserer Lebenswelt überhaupt». Eine «kirchliche Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu hat es hinzunehmen, wenn sie von den ‹Klugen und Mächtigen› (1 Kor 1,19–31) verachtet» werde. Aber sie könne es sich «nicht leisten, von den ‹Armen und Kleinen› verachtet zu werden, von denen, die ‹keinen Menschen haben› (Joh 5,7). Deshalb sind in unserer Kirche (…) Initiativen zur Nachfolge von grösster Bedeutung, die der Gefahr begegnen, dass wir in unserem sozialen Gefälle eine verbürgerlichte Religion werden, der das reale Leid der Armut und Not, des gesellschaftlichen Scheiterns und der sozialen Ächtung viel zu fremd geworden ist, ja, die diesem Leid selbst nur mit der Brille und den Masstäben einer Wohlstandsgesellschaft begegnet».16

«Compassion» als tätiges Eingedenken des Leids

Der politische Einsatz, den Metz mit seiner «Politischen Theologie» an den Tag legte, war schon mal ein Dorn im Auge jener, die sich beim Beten vom Geschehen in der Welt abwenden. Sein theologisches Ringen um Glaubwürdigkeit ist in seinen Schriften spürbar. Da und dort bewegte er sich zwar als Gesellschaftskritiker ins Abstrakte. Dennoch gilt bis heute sein Blick – orientiert an Jesus aus Nazareth – elementar dem fremden Leid. Nicht zuletzt darum wählte Metz als neues Kernwort «Compassion».17 Dieses meint ausdrücklich «Mitleidenschaftlichkeit», «teilnehmende Wahrnehmung fremden Leids», «tätiges Eingedenken des Leids der anderen». Sie ist «die biblische Mitgift für Europa, so wie die theoretische Neugierde die griechische Mitgift und das republikanische Rechtsdenken die römische Mitgift für Europa in unseren globalisierten Verhältnissen ist».18 Prägend für diese Mitleidens-Empfindlichkeit war seine Kriegserfahrung. Denn als 16-jähriger Schüler muss Johann Baptist Metz an die Front. Er eilt mit einer Meldung durch bombardierte Dörfer. Wie er zurückkommt, findet er seine toten Kameraden. Zurück bleibt ihm ein lautloser Schrei. Eine existentielle Grunderfahrung, die das theologische Werk von Johann Baptist Metz prägt. Die «Compassion» sah er als «Weltprogramm des Christentums» – «als Inspiration für eine Politik des Friedens», in welcher fremdes Leid wahrgenommen und beim eigenen Handeln zu berücksichtigen unbedingte Voraussetzung aller Friedenspolitik sei.19 Anderseits «kann diese Compassion als Anstiftung zu einer neuen Politik der Anerkennung gelten»20 und nicht zuletzt «zur Schärfung des humanen Gedächtnisses überhaupt führen».21 Im Anschluss an seine Rede in Luzern wurde Metz ein «falsches Buddhismusbild»22 vorgeworfen. Bei allem Respekt vor Buddha rückte Metz eine «Mystik der offenen Augen (…), der unbedingten Wahrnehmungspflicht für fremdes Leid» ins Zentrum.23

Kirchenkritik – ja, aber!

Gut beraten ist, wer Johann Baptist Metz auch dort konsultiert, wo fortlaufende Kritik am Kirchenalltag zum Leerlauf führt. Metz ging es von jeher um die einzelnen Glaubenden in der Kirche und deren eigene «authentische Lehrautorität». Wenn es um die Postulate kirchlicher Erneuerung geht, haben die Glaubenden sich nicht auf die «Betreuungskirche» zu fixieren, schrieb er 1988.24 Nahezu alles aber hänge daran, «dass die Betreuten selbst sich ändern und sich nicht einfach wie Betreute benehmen». Vieles an der üblichen Kirchenkritik ist in den Augen von Metz «selbst nochmals Ausdruck der verinnerlichten Betreuungskirche» und damit zu «ausschliesslich autoritätsfixiert». Nicht zuletzt aufgrund solcher Vorgaben attestierte der bekannte Journalist Franz Alt schon 1980, dass Metz «nicht in der berühmten Mitte sitze, die es politisch und theologisch gar nicht gibt, sondern zwischen allen Stühlen».

 

Im April dieses Jahres erschien erstmals «NZZ Geschichte», ein vierteljährlich erscheinendes Magazin, das sowohl die internationale als auch die Schweizer Geschichte in ihren verschiedensten Facetten und Auswirkungen auf die Gegenwart beleuchten will. Aus kirchengeschichtlicher Sicht besonders interessant ist die im Juli 2015 erschienene Nummer 2 mit dem Schwerpunktthema «Wir Protestanten. Wie die Reformation die Schweiz reich gemacht hat». Der NZZ-Redaktor Martin Beglinger stellt darin das Wirken der Protestanten als Promotoren der Industrialisierung dar, während er für die Katholiken die «Musse-und-Verschwendung»-These von Peter Hersche übernimmt. Seit 1945 hätten die Katholiken aber markant aufgeholt: «Ohne die vielen Katholiken aus dem Süden [Europas] wäre das ‹Wirtschaftswunder› der Nachkriegszeit nicht möglich gewesen» (S. 28). Wirtschaftlich sind die Katholiken die neuen Reformierten, wie an weiteren Beispielen belegt wird. Eindrücklich auch Thomas Hürlimanns «Familienalbum: Meine katholische Familie». (ufw)

1 Johannes Baptist Metz: Armut im Geiste. München 1962, 5.

2 Ebd., 7.

3 Ebd., 8.

4 Ebd.,13.

5 Ebd., 19.

6 J. B. Metz: Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von Aquin. München 1962.

7 Ebd., 55.

8 Garaudy / Metz / Rahner: Der Dialog oder Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus? Reinbek bei Hamburg 1966, 127.

9 Ebd., 127 f.

10 Ebd., 128

11 Ebd., 136

12 Ebd., 137 f.

13 Ebd., 138.

14 Johann Baptist Metz:

Zur Theologie der Welt. Mainz 1973, 120.

15 Theodor Schneider: Einleitung. Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit, in: Unsere Hoffnung. Synodenbeschlüsse Nr. 18. Bonn 1975, 3–16, 11. Beschluss 16–43.

16 Ebd., 35–39, hier 37.

17 Johann Baptist Metz: Das Christentum im Pluralismus der Religionen und Kulturen. Gastvorlesung an der Universität Luzern vom 25. Januar 2001, Skript 1–12, 5. Als «Leidempfindlichkeit» sah Rolf Weibel das «Fremdwort ‹Compassion› (nicht englisch)» im Bericht: Für ein Christentum der Compassion, in: SKZ 170 (2001), 69. Vgl. auch Benno Bühlmann: Religion ist Mitleidenschaft: Im Gespräch mit Johann Baptist Metz, in: Neue Luzerner Zeitung vom 2. Februar 2001, 39.

18 Metz, Das Christentum im Pluralismus der Religionen und Kulturen (wie Anm. 17), 5.

19 Ebd., 6.

20 Ebd.

21 Ebd., 7.

22 So der Titel im Leserbrief von Thomas Feldmann, in: Neue Luzerner Zeitung vom 14. Februar 2001. Der Dialog mit den östlichen Zweigen des Buddhismus zeigt dagegen, dass sich Versenkung in der Stille und soziales Engagement nicht ausschliessen. Vgl. Ruben Habito: Barmherzigkeit aus der Stille. Zen und soziales Engagement. München 1990.

23 Metz, Das Christentum im Pluralismus der Religionen und Kulturen (wie Anm. 17), 11.

24 Johann Baptist Metz: Im Ringen um das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Nikolaus Klein u. a. (Hrsg.): Biotope der Hoffnung. Zu Christentum und Kirche heute. Ludwig Kaufmann zu Ehren. Olten 1988, 23–35, hier 31.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)