Einfach(es) leben

 

Die moderne Welt steht mit dem einfachen Leben auf Kriegsfuss. Wohlstand und Konsum gelten als Massstab für erfolgreiches und gutes Sein. Schlichtheit und Einfachheit stehen dabei nicht nur in der Lebensführung, sondern bereits theoretisch unter Generalverdacht. Die Massenmedien suggerieren, dass in einer komplexer werdenden Welt einfache Antworten nichts gelten. Alte Lebensweisen müssen sich neuen Realitäten stellen. Das Einfache gilt vielfach als das Beschränkte. Dabei stellt sich die Frage, wie sich der «Erfolg» eines Lebensstiles bemisst, wenn die westliche Welt demografisch ins Abseits geraten ist und vielfach keine Erben für den mühsam erworbenen Reichtum kennt.

Die Vergangenheit hat nicht nur aus materieller Not, sondern auch aus geistiger Perspektive das Einfache dem Komplizierten vorgezogen. Römer und Griechen erkannten das Wahre daran, dass es einfach, geradlinig und unverfälscht sei – die Stoiker idealisierten einen bescheidenen Lebensstil. Die frühen Christen beriefen sich deshalb auch auf eine «simplicitas fidei», eine Einfachheit ihres Glaubens. Sprichwörtlich geworden ist Ockhams Rasiermesser, demnach bei mehreren möglichen Theorien zu einem Sachverhalt die einfachste zu wählen sei. Dass zu viel Bildung, zu viel Reichtum, zu viel angebliche «Weltgewandtheit» den Blick auf das Wesentliche behindern, ist in der Literatur – etwa bei den Schelmenromanen – ein häufiges Thema.

Die Einfachheit des Glaubens und die Suche nach einem gottgefälligen Leben führte in das christliche Mönchtum, das vielfach nur das besitzen wollte, was es zum Leben brauchte. Der heilige Antonius und der Kirchenvater Hieronymus zogen sich in die Wüste zurück, die irischen Mönche des Frühmittelalters suchten abgelegene Inseln. Die «Welt», das war: Zerstreuung, Unruhe, Anhäufung sinnloser Reichtümer und Ablenkung von Gott. Erst die Bettelorden des 13. Jahrhunderts kehrten in die Städte zurück: gewappnet mit einem Armutsradikal, dessen radikale Besitzlosigkeit alle bisherigen Dimensionen sprengte.

Der Sündenfall der Moderne ist nicht etwa die Dampfmaschine, sondern die Taschenuhr und der Minutenzeiger. Der Mensch taktet seitdem sein Leben, statt dass ihn sein Leben taktet. Das Gefühl der Gegenwart ist das Gefühl des Getriebenseins. Es wird bestimmt von der Suche nach etwas Besserem oder der Flucht vor Unangenehmem. Teresa von Ávila hat dagegen schon vor über 400 Jahren den Kontrapunkt gesetzt: «Gott allein genügt». Eine Antwort, die in ihrer Einfachheit revolutionär anmutet.

Marco Gallina

 

Marco F. Gallina (Jg. 1986) studierte in Bonn und Verona italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte. Seine Masterarbeit schrieb er über Machiavelli als Botschafter. Derzeit ist er in der politischen Beratung aktiv und arbeitet nebenbei als freier Autor und Betreiber des «Löwenblogs» unter www.marcogallina.de.