Eine Papstvision um 1200

In seinem mittelhochdeutschen Versepos «Gregorius», das eine alte Papstlegende poetisch ausgestaltet, beschreibt der Verfasser Hartmann von Aue (ca. 1160 bis ca. 1210) den Einzug eines Papstes in Rom und seine erste Amtstätigkeit:

«Rom, die berühmte Stadt, empfing ihr Oberhaupt in freudiger Stimmung. Das war in jeder Hinsicht gut für sie, denn es war dort in dieser Stadt nie ein Papst eingesetzt worden, der ein besserer Arzt für die Wunden der Seele gewesen wäre. Er verstand es, sein Leben richtig zu führen, denn ihm war der Sinn für das richtige Mass verliehen durch die Anleitung des Heiligen Geistes. Er achtete sehr auf das Recht. Es ist angebracht, dass man sich Demut bewahrt in einem Amt (davon haben die Armen Vorteil), und doch soll man ein entschlossenes Auftreten an den Tag legen, um sich Achtung zu verschaffen (…). Man soll dem Sünder seine Last erleichtern durch Auferlegen einer milden Busse, damit ihm die Reue süss wird. Das Gesetz ist ohnehin so streng, dass der Sünder, wenn man ihn allzu hartnäckig verfolgen will, das körperlich gar nicht aushalten kann. Wenn er Gnade erreichen will und man gibt ihm vorschnell eine harte Busse auf – leicht verzagt einer dann darüber, sodass er sich erneut von Gott abwendet (…). Auf diese Art verstand es Gregorius, das richtige Mass für ein gläubiges Leben zu vermitteln, mit Hilfe dessen der Sünder gerettet wurde und der Fromme beständig blieb. Aufgrund seiner wirkmächtigen Lehre vermehrte sich Gottes Ruhm ganz ausserordentlich im Römischen Reich.»

Zitiert nach: Hartmann von Aue: Gregorius: Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt von Waltraud Fritsch-Rössler. Stuttgart 2011, Verse 3785–3830.

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).