Eine Minderheit in der christlichen Minderheit

Die Armenische Apostolische Kirche verwaltet zusammen mit der Griechisch-Orthodoxen und der Katholischen Kirche die Grabeskirche in Jerusalem. In der Stadtbevölkerung macht sie gerade einmal ein Promille aus.

Armenische Pfadfindergruppen spielen an ihrem Karsamstag in Jerusalem mit Trommeln und Dudelsäcken. Am sogenannten Lichtsamstag, der seit 1200 Jahren begangen wird, sollen sich auf wundersame Weise die Kerzen des griechisch-orthodoxen oder armenischen Patriarchen entzünden, die für einige Minuten im Heiligen Grab eingeschlossen werden. (Bild: Johannes Zang)

 

Zehn Griechen sind so schlau wie ein Jude und zehn Juden verfügen über die Schläue eines Armeniers. Das erzählt man sich in Jerusalem, wo man die armenischen Christinnen und Christen für emsig, gebildet und geschäftstüchtig hält. Der beste Fotograf Jerusalems? Garo Nalbandian, Armenier. Auch zu den besten Druckern, Töpfern, Goldschmieden, Schneidern, Uhr- und Schuhmachern zählen Angehörige der Nation, die als erste das Christentum annahm, nach der Taufe des Königs Tiridat III. im Jahr 301. Als Kirchengründer gilt der heilige Gregor, der Erleuchter. Dessen Sohn nahm am Konzil von Nizäa im Jahre 325 teil.

Etwa zur selben Zeit reiste die 80-jährige Kaiserin Helena ins Heilige Land, ordnete Grabungen an, stiess auf Reliquien des Heiligen Kreuzes und veranlasste den Bau der Grabes- und Auferstehungsbasilika, der Ölbergkirche Eleona sowie der Geburtsbasilika von Bethlehem. Nun brachen Pilger ins Land der Bibel auf, auch Armenier. «Im siebten Jahrhundert hatte die armenisch-orthodoxe Kirche ihren eigenen Bischof in Jerusalem», schreibt Bedross Der Matossian.1

Wechselvolle Geschichte

Dem Apostel Jakobus ist die Kathedrale geweiht, im armenisch-mittelalterlichen Stil erbaut und das Herz des armenischen Viertels. Dieses, ein Sechstel der Altstadtfläche, ist Klein-Eriwan in Jerusalem. Kloster und Schule, Bibliothek und theologisches Seminar, Museum, Arztpraxis, Sportplätze und Buchdruckerei – die älteste der Stadt! – sowie Wohnungen für Kleriker und Laien gruppieren sich um die Kathedrale. Hier ist Der Matossian aufgewachsen, der Geschichte in den Vereinigten Staaten lehrt. «Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg», erklärt er, «betrachteten sich die Armenier Jerusalems als wesentlichen Bestandteil des osmanisch-palästinensischen Gefüges.»2 Palästinaweit beziffert er deren damalige Zahl auf bis 3000. «Das Ende des Osmanischen Reiches und der Beginn der britischen Herrschaft 1917 veränderte die armenische Gemeinschaft Palästinas grundlegend.» Damit meint er den Zustrom armenischer Flüchtlinge infolge des Völkermords ab 1915. Die deutsche Redakteurin Silke Fries erfuhr in Jerusalem, dass allein im armenischen Konvent 10 000 armenische Flüchtlinge Aufnahme fanden und vom Patriarchat verköstigt wurden.3

1925 sollen 15'000 Armenier im britischen Mandatsgebiet Palästina gelebt haben. Doch seitdem ist diese Minderheit durchgeschüttelt und durchmischt worden: durch den ersten israelisch-arabischen Krieg 1948/49, den Sechs-Tage-Krieg 1967 und das Ende der Sowjetunion mit der Einwanderung von 4000 Armenierinnen und Armeniern aus Mischehen. Zuzug ist das eine – Flucht das andere. Nicht wenige Armenierinnen und Armenier flohen im 20. Jahrhundert zweimal. So und durch Auswanderung ist ihre Zahl in Jerusalem, Israel und den palästinensischen Gebieten weiter geschrumpft.

«Das 20. Jahrhundert war traumatisch für ArmenierInnen. Zwischen 1915 und 1923 haben sie 70 Prozent ihrer gesamten Bevölkerung verloren, wurden entwurzelt und in alle Welt verstreut.» Das sagt George Hintlian, Historiker, der im armenischen Patriarchat von Jerusalem lebt.4 Seine Fast-Nachbarin Elise Aghazarian ist schon vor Jahren nach Amsterdam gezogen. «Ich fühle mich sehr als Armenierin, aber auch als Palästinenserin.» Erst in den Niederlanden stellte sie verwundert fest, «dass Israel auch Teil meiner Identität ist.» Rückblickend sagt sie, dass anders als ihre Familie viele Armenierinnen und Armenier «lieber wenig Kontakt mit den einheimischen Gemeinschaften pflegen, um ihre Wurzeln zu bewahren.»5

Lange Familientradition

Kontakt zu allen Seiten pflegt dagegen Neshan Balian Jr. Seine Familiengeschichte liest sich wie die nahöstliche Geschichte. Die britische Mandatsmacht forderte drei armenische Töpfer aus Kütahya in der Türkei an: Ohannessian, Karakashian, Balian – Letzterer ist Neshans Grossvater. Sie sollten die bröckelnden Fliesen des Felsendoms ausbessern. «Sie hatten Glück! So entgingen sie dem armenischen Genozid», erklärt Balian den Ursprung seiner Familie in Jerusalem. Die drei machten sich an die Arbeit, konnten diese indes nicht fertigstellen. «Ihnen ging das Rohmaterial und den Briten und der islamischen Waqf-Stiftung das Geld aus.» Die Töpfer blieben, eröffneten eine Töpferei, gingen später jedoch getrennte Wege. Balian ist bis heute mit seiner «Palestinian Pottery» in der Nablusstrasse. Markenzeichen sind Fliesen, Vasen, Teller und Tassen mit Ornamenten, Pflanzen, Gazellen, Pfauen und Fischen, ein Mix aus armenischen, palästinensischen, persischen und türkischen Elementen. Die Pandemie, ohne Tourismus oder Laufkundschaft, hat der Chef von fünf Mitarbeitern dank des Internetgeschäfts gut überstanden. «Wir überlebten, weil US-Amerikaner Kacheln bestellten. Sie investierten ins Haus, um sich in Quarantäne der eigenen vier Wände zu erfreuen. Swimmingpools zu verschönern, war für sehr viele Priorität.»

Balian, der neben Armenisch Arabisch, Hebräisch, Englisch, Französisch und Türkisch spricht, fühlt sich als Armenier und will demnächst eine Werkstatt in Armenien eröffnen. Er bekennt: «Ich bin auf der Seite der Palästinenser, der Underdogs, der Aussenseiter und Verlierer und fühle mit der israelischen Mutter, die ihren Sohn verloren hat.» Schon ist das Gespräch in der Politik gelandet. Balian erzählt, dass er am Flughafen Tel Aviv den Aufkleber mit der Sicherheitsstufe 5, der zweithöchsten, erhalte. «Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, wird so bei jeder Ausreise untermauert.» Und dabei habe er einen französischen Pass, sei Christ und bezahle alle Steuern und Abgaben. Und: «Wir haben im israelischen Präsidentenpalast gearbeitet, wir stellen in israelischen Museen aus, die israelische Post hat sogar eine Briefmarke herausgegeben, die die armenische Keramik und unsere Balian-Familie zeigt. Aber wir werden trotzdem nicht gleichberechtigt wie israelische Bürgerinnen und Bürger behandelt.» Für den 63-Jährigen ist es «unfassbar, dass ein Volk, das den Holocaust und Ghettos durchgemacht hat, Rassismus und Apartheid praktiziert».6 Apropos Holocaust: Viele Armenier schmerzt es, dass der Staat Israel bis heute den armenischen Genozid nicht anerkannt hat.

Auf der Suche nach Gerechtigkeit

Leid und Trauma – bei Juden, Armeniern und Palästinensern. Das verbinde vor allem die beiden Letztgenannten, meint Nora Arsenian Carmi. Gleich der erste Satz in ihrem «halb-persönlichen Bericht» lautet: «Menschen, die an Gleichheit und Würde für alle glauben, ist der Zusammenhang, der Anknüpfungspunkt zwischen palästinensisch und armenisch Sein, leicht verständlich.» Beiden miteinander «verflochtenen Gruppen gemeinsam» sei die «Pein und das Leiden, mit dem sie selbst heutzutage konfrontiert sind». Das sagt eine Frau, die sich als «palästinensische Armenierin» und «Flüchtling in ihrer eigenen geteilten Stadt Jerusalem» bezeichnet. Zwei Apotheken verloren ihre Vorfahren an die osmanischen Türken, eine neben anderem Besitz in West-Jerusalems Mamillastrasse 1948 an den Staat Israel. Die nach wie vor erlebte Diskriminierung – Amnesty International veröffentlichte einen Bericht unter dem Titel «Israel's Apartheid against Palestinians»7 Anfang Februar auf 280 Seiten – scheint den Blick zu verstellen auf das Leid der Juden in der Shoa. Der eigene tägliche Kampf um Passier- und Erlaubnisscheine, die Ungewissheit, wie man von A nach B kommt, die Angst vor Landenteignung – um nur drei Beispiele zu nennen – hindern einen daran, vom eigenen Leid eine Brücke zum jahrhundertealten Leid von Juden zu schlagen. Hin und wieder, klagt Arsenian Carmi, höre man «leise gesprochene Worte, aber keine Aktionen mit Nachdruck, damit sich nach einem Jahrhundert endlich Gerechtigkeit durchsetzt». Trotz allem empfindet sie es als «wahren Segen», zu diesen «überlebenden Gemeinschaften» zu gehören.

Die kurz vor der Staatsgründung Israels geborene Friedensaktivistin ist nach wie vor entschieden auf der Suche nach Gerechtigkeit. Überzeugt und stolz erklärt sie: «Die Tatsache, dass wir immer noch hier sind, ist unsere Art des Widerstands.»8

Johannes Zang

 

1 Armenian Community of Jerusalem: Surviving against all odds, in «Cornerstone» 83 (2021), 4 ff.

² Ebd.

3 www.br.de/mediathek/podcast/religion-die-dokumentation/kein-platz-fuer-nachtschwaermer-der-armenische-konvent-in-jerusalem-bietet-gefluechteten-sicherheit/1855085

4 Hintlian, George, Die Angst vor einem neuen Genozid, in: Schneller Magazin über christliches Leben im Nahen Osten 1 (2021), 6 f.

5 Interview per E-Mail 2021/22.

6 Interviews durch den Autor im Zeitraum von 2005 bis 2022.

7 Israel's Apartheid against Palestinians – Amnesty International

8 Nora Arsenian Carmi: We are still here, in: Cornerstone, Nr. 83 (2021), 20 ff. Siehe auch: Deutsche Bibelgesellschaft, Armenien. Kleines Land – grosse Vergangenheit, in: Bibelreport 3/2021.

 


Johannes Zang

Johannes Zang (Jg. 1964) ist freier Journalist. Er lebte fast zehn Jahre in Israel und den palästinensischen Gebieten und betreibt einen monatlichen Nahost-Podcast (www.jerusalam.info). Seit 2008 hat er 60 Pilgergruppen durch Israel, Palästina, Jordanien und den Sinai geführt.