«Ein Ort, wo das Geheimnis berührt wird»

Menschen suchen heute Authentizität, Wachstum und Beheimatung. Über die Entwicklungen, Herausforderungen und das Potenzial kirchlicher Erwachsenenbildung sprach die SKZ mit Claudia Mennen und Jean-Pierre Sitzler.

Dr. theol. Claudia Mennen (r.) ist Leiterin der Fachstelle «Bildung und Propstei» an der Propstei Wislikofen (AG) sowie der Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge. Dr. theol. Jean-Pierre Sitzler war von 2018 bis 2020 Referent für Kirche und Tourismus am Bodensee. Seit Dezember 2020 ist er Leiter der Kirchlichen Erwachsenenbildung der Katholischen Landeskirche Thurgau.

 

SKZ: Frau Mennen, welche Entwicklungen beobachten Sie in der kirchlichen Erwachsenenbildung in den letzten 20 Jahren?
Claudia Mennen (CM): Die gesellschaftlichen Megatrends wie Individualisierung und Pluralisierung haben auch im Feld der Religionen und der Kirchen in der Schweiz ihre Spuren hinterlassen. Jede und jeder ist ein Sonderfall, kann und muss wählen, will Erfahrungen aus erster Hand. Lebensgestaltung, Spiritualität und Glaubenskommunikation sind Themen, die grosse Aufmerksamkeit erfahren. Die Bildung für Erwachsene wird als ein eigener kirchlicher Ort wahrgenommen. Unabhängig davon, ob es sich um ein Bildungshaus oder eine Fachstelle handelt. Sie antworten mit ihren Programmen auf den Wunsch nach Authentizität, Wachstum und Beheimatung. Kirchliche Bildungsorganisationen sind wichtig für alle, die sich vom Modell der Pfarrei oder des Pastoralraums nicht abgeholt fühlen. In Kooperation mit Pfarreien, Pastoralräumen und Vereinen ist die kirchliche Bildung auch weiterhin ein Treiber für die Kirchenentwicklung im Sinne der Partizipation und Entscheidungskompetenz aller Getauften. Gesellschaftspolitische Themen wurden in den vergangenen Jahrzehnten weniger nachgefragt. Sie haben vor allem in den städtischen Akademien Resonanz und sind ein wichtiger Beitrag der Kirche im Meinungsstreit um Würde und Gerechtigkeit. In ländlichen Gebieten sind diese Anliegen eher prozessorientiert zu gestalten, wie das zum Beispiel beim Umweltmanagement-System «Grüner Güggel» der Fall ist. Zu bedauern ist der Rückgang von Bildungshäusern aus finanziellen Gründen. Zu begrüssen ist die Professionalisierung der Akteure in der Bildungsarbeit, die mit dem steigenden Qualitätsanspruch korrespondiert.

Herr Sitzler, vor welchen Herausforderungen steht die kirchliche Erwachsenenbildung heute?
Jean-Pierre Sitzler (JPS): Die kirchliche Erwachsenenbildung muss sich immer wieder fragen, welche Bedürfnisse der Menschen zentral sind und wie sie darauf reagieren kann. Die lang bewährten Konzepte von Erwachsenenbildung müssen nicht ewig halten und deshalb werden wir diese für die heutige Zeit anpassen. Aus meiner Jugendzeit kenne ich noch die Diavorträge in den Pfarreien. Auch heute sind Bilder ansprechend, dann aber als Präsentation oder als Film zusammengetragen. Zugleich ändern sich die politisch-gesellschaftlichen Fragen, auch im Kontext von Religion und Religiosität. Die grossen gesellschaftlichen Themen, die sich immer weiter entwickelnde Forschung und die damit zusammenhängenden ethisch-sozialen Fragestellungen sollen auch in der kirchlichen Erwachsenenbildung einen wichtigen Platz einnehmen. Vor zwanzig Jahren wurden noch Computerkurse angeboten, die heute viel weniger bis keine Menschen mehr besuchen würden. Und zugleich müssen wir auf die Digitalisierung reagieren und entsprechende Angebote gestalten. Die gegenwärtige Politik, insbesondere im Blick auf christliches und ethisches Handeln, soll ebenso behandelt werden. Damit ist ein weites Feld abgesteckt, das es zu beackern gilt.

Was erwarten die Menschen von der kirchlichen Erwachsenenbildung?
JPS: Die Erwartungen der Menschen sind ganz unterschiedlich und in einer grossen Spannbreite zu finden. So suchen die einen den dezidiert christlich-spirituellen, theologischen Austausch und die anderen eher persönlichkeitsbildende und unterstützende Angebote. Teilweise treffen die Anfragen bei ein und derselben Veranstaltung aufeinander, aber nicht immer. Besonders die Frage nach Tradition und Erneuerung stellt die Erwachsenenbildung vor eine Herausforderung, weil wir uns in diesem Spannungsverhältnis befinden. So versuchen wir, möglichst viele verschiedene Menschen und Interessen anzusprechen. Die Fragen und Anliegen der Menschen sollen wahrgenommen und in das Programm der Erwachsenenbildung aufgenommen werden. Hinzu kommt, dass im Umfeld vieler Bildungsanbieter die kirchliche Erwachsenenbildung einer Konkurrenz und einer Vergleichbarkeit ausgesetzt ist. Wir müssen gut vorbereitet, organisiert und qualitativ hochwertig agieren. Das ist eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen.

CM: Von den Angeboten der Fachstelle und der Propstei erwarten sogenannte Suchende und Menschen in Aufbruch- und Umbruchssituationen einen Erfahrungsraum, der Weite, spirituelle Tiefe und Freiheit atmet. Herausforderung und Beheimatung, Autonomie und Zugehörigkeit werden heute zugleich gesucht. Auf die Pluralisierung der religiösen Stile wird mit der Pluralisierung im Bildungsangebot geantwortet. Das erfordert von den Leitenden, dass sie einen Begegnungsraum und ein Lernklima schaffen, in welchen jede und jeder sich einbringen, seine eigenen Erfahrungen machen und seine persönliche Antwort finden kann. Menschen, die sich noch kirchenverbunden fühlen, suchen im Rahmen der Bildung neue Erfahrungen von Kirche. Eine Kirche, in der jeder und jede ein Ansehen hat, in der alles auf den Tisch kommen kann!

Der tschechische Soziologe und Priester Tomas Halik schreibt im Buch «Die Zeit der leeren Kirchen», dass er lange die Bildung und den intellektuellen Dialog mit der agnostischen Gesellschaft als sehr wichtig angesehen hatte. Heute sehe er «jedoch als noch viel wichtiger die Kultivierung des persönlichen geistlichen Lebens und die persönliche geistliche Begleitung an».1 Inwieweit teilen Sie diese Sicht?
CM: Den Impulsen von Halik kann ich einiges abgewinnen. In «Die Zeit der leeren Kirchen» weist er darauf hin, dass es eine doppelte Gefahr gibt. Er sagt, wenn das gesellschaftliche Engagement der Christinnen und Christen nicht auch eine spirituelle Dimension hat, fehlt etwas. Genauso wichtig ist ihm, dass Spiritualität nicht privatisiert und nur als private Innerlichkeit verstanden wird. Wie Karl Rahner weist Tomas Halik darauf hin, dass das Christentum der Zukunft sowohl kontemplativ ist als auch engagiert auf die Zeichen der Zeit antworten muss. In der Propstei leisten wir mit der Kontemplationsschule der «Via Integralis» sowie mit der «Wislikofer Schule für Bibliodrama und Seelsorge» einen grossen Beitrag, dass Seelsorgende und Engagierte ihre Identität im Licht der biblischen Überlieferung sowie der mystischen Traditionen weiterentwickeln und in die Zivilgesellschaft hi-
neinwirken.

JPS: In der Geschichte der Theologie und der Erwachsenenbildung stand vor einigen Jahrzehnten die diskursive Auseinandersetzung mit dem Agnostizismus im Zentrum. Gesellschaftlich gab es immer mehr öffentlich bekennende Agnostiker und dann war das Gespräch mit ihnen und über das «Phänomen» Agnostizismus wichtig. Seit den 1980er-Jahren stieg der Anteil der Menschen ohne Religionszugehörigkeit in der Schweizer Bevölkerung an. In der heutigen Gesellschaft schrumpft der Anteil der bekennenden Christinnen und Christen und damit auch das Wissen um die christlichen Wurzeln und Glaubensinhalte. Zum Kontext des Christlichen gehört neben dem Glaubenswissen die Persönlichkeitsbildung und die persönliche Spiritualität. Zu Zeiten der «Volkskirche» wurde eine Volksfrömmigkeit gelebt, die heute immer weniger Anhänger findet und weniger beachtet wird. Zugleich ist ein rein formales Christentum ohne persönliche Spiritualität und Lebensgestaltung leer, weshalb heute die je eigene geistliche Lebenspraxis gefunden, gestaltet und gepflegt werden muss. Dazu helfen wir in der Erwachsenenbildung. Ohne eigene, gelebte und verinnerlichte Glaubenspraxis erscheinen der Kult und das Christsein als reine Formalie, ohne tiefe Verwurzelung. Deshalb kann ich die Sicht Tomas Haliks sehr gut teilen. Zugleich möchte ich den Blick nach aussen nicht vergessen. Wir müssen in der kirchlichen Erwachsenenbildung in beide Richtungen arbeiten: eine Blickrichtung auf das Geistlich-Spirituelle und eine Blickrichtung auf die Gesellschaft.

Wo liegen die Chancen und das Potenzial der kirchlichen Erwachsenenbildung in Zukunft?
CM: Ich verstehe kirchliche Bildungsarbeit als einen Resonanzraum der Lebensfülle Gottes. Sie hält das Hören auf das Evangelium und die vielfältigen Überlieferungen lebendig. Sie erinnert und speist sich aus den herausfordernden Erfahrungen des «Exodus». Sie ermutigt und ermächtigt, aus Knechtschaften und Befangenheiten auszuziehen. Mit dem offenen Ohr für die Verheissung «eines neuen Himmels und einer neuen Erde». Mit dieser Haltung ist die kirchliche Bildungsarbeit zukunftsfähig. Sie lässt sich herausfordern von den gegenwärtigen Erfahrungen wie Unübersichtlichkeit, Marginalisierung und Polarisierung. Sie bringt diese Themen auf den Tisch und ins Gespräch. Implizit fragt die kirchliche Bildungsarbeit bei jeder Veranstaltung sich selbst und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Wer bist du? Wo stehst du? Wofür gehst du? Darin sehe ich Chance und Potenzial der Bildungsarbeit: Dass Umbrüche und Aufbrüche thematisiert werden. Menschen Antworten und ein Zuhause finden und weiterhin fragend und pilgernd auf dem Weg bleiben.

JPS: Wenn die kirchliche Erwachsenenbildung als qualitativer Bildungsträger in der gesamten Bildungslandschaft anerkannt ist, hat sie eine Scharnierfunktion zwischen der Gesellschaft und der Kirche. Kirchliche Erwachsenenbildung kann vermittelnd und bündelnd agieren, indem die Angebote sowohl gesellschaftsrelevant, diskursiv, für das Christsein offen werbend als auch für stärker Interessierte vertiefend, spirituell einübend gestaltet sind. Im Diskurs um gesellschaftliche Fragen können Kirche und kirchliche Anliegen dargelegt und in die Gesellschaft hinein vermittelt werden. Das gewachsene Interesse an Religiosität und die Sehnsucht nach Spiritualität kann in der kirchlichen Erwachsenenbildung möglichst niederschwellig, offen und ansprechend genährt und gestillt werden. Der Reichtum der christlichen spirituellen Tradition kann sehr wohl mit den spirituellen Trends mithalten bzw. auf eine längere, reichere Tradition zurückblicken, wie sie heute neu entdeckt werden kann.

Frau Mennen, Sie waren Vizepräsidentin des Dachverbandes «plusbildung – Ökumenische Bildungslandschaft Schweiz». Was sind seine Hauptaufgaben und Ziele?
CM: Den Verband «plusbildung» gibt es seit 2013. Hauptanliegen ist die Vernetzung der Bildungsträger in allen Sprachregionen der Schweiz, um ein Wir-Gefühl zu schaffen und zu Koordination und Kooperation anzuregen. Bildungshäuser und Institutionen werden von «plusbildung» unterstützt, wie sie die eigenen Angebote in der Gesellschaft sichtbar platzieren und wie sie in die Zivilgesellschaft hineinwirken können. Im Themenbereich Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und Blended Learning werden den Mitgliedern Kurse angeboten, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Wie die Verbandsmitglieder, so ist auch «plusbildung» eine lernende Organisation. So läuft zum Beispiel eine Begleitstudie «Interreligiöse Herausforderungen und interreligiöses Lernen in der digitalen Gesellschaft in pädagogischen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten» zusammen mit der Universität Zürich, um die Herausforderungen zu kennen und angemessen reagieren zu können.

Die klassischen Orte kirchlicher Erwachsenenbildung sind Bildungshäuser, Pfarreien, landeskirchliche Institutionen. Wo sehen Sie neue Orte?
JPS: Neue Orte der kirchlichen Erwachsenenbildung sehe ich in der gesamten Landschaft, angefangen von kirchenfremden Bildungshäusern bis hin zur freien Natur. Besonders im Bereich der Spiritualität und des Pilgerns ist die Natur eine wunderbare Umgebung. Zugleich müssen wir uns fragen, wo die Menschen sind, denen wir etwas bieten können. So versuchen wir, im Internet oder im Kino einzelne Veranstaltungen abzuhalten. Das ermöglicht ein leichteres Hinzukommen. Lange Zeit hat man von einer «niederschwelligen Pastoral» gesprochen. Wichtig ist es, möglichst keine Schwellen zu haben. Bereits das Betreten eines kirchlichen Gebäudes ist für manche Menschen eine Schwelle, die überwunden werden muss. So gesehen sind Kinos, weltliche Konferenzräume, Museen und öffentliche Plätze viel leichter zugänglich. An diesen Orten kann für die Offenheit der kirchlichen Gebäude geworben und zum Eintreten motiviert werden. Dann können auch geistliche Orte und kirchliche Bildungshäuser mutiger betreten werden.

CM: «Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt», hat Joseph Beuys gesagt. Was heisst das für die Bildungsarbeit? Soll sie vermehrt an alltägliche Orte gehen? Sich mit nicht kirchlichen Organisationen verbinden? Die Öffentlichkeit suchen? Das tut sie schon und muss sie weiterhin noch mehr tun. Es geht in der Bildungsarbeit aber auch und zentral um das Mysterium, um das Geheimnis. Karl Rahner nennt das die mystagogische Kompetenz: Im Bahnhof wird gesucht und gefunden! Gegessen, gelacht und geweint! Gehetzt, verpasst und verzweifelt. Verweilt, sich gefreut und ersehnt. Im Bahnhof werden Wege unterbrochen und es wird gestolpert. Menschen sind unterwegs, innerlich und äusserlich. Menschen treffen sich. Josefph Beuys hat richtig gelesen. Hier begegnen sich das Geheimnis Mensch und das Geheimnis Gott. In der Bahnhofskirche kann das, was sowieso geschieht, explizit werden. Die Bildungsarbeit ist im besten Sinne ein Ort, wo das Geheimnis berührt wird. Sie ist radikal diesseitig, alltagsnah und biografisch. Sie liest die Zeichen der Zeit. Und sie ist «jenseitig» und spirituell. Sie bringt die vulnerablen Themen auf den Tisch. Sie hält alles in das Licht der Verheissungen. Sie stellt Rituale, Symbole und Sprache zur Verfügung. Und sie verbindet sich mit Menschen und Organisationen «guten Willens», zur Ehre Gottes und zum Segen der Menschen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Halik, Tomas, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens, Freiburg i. B. 2021, 22.

 

BONUS

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