Ein alter, doch oft unbekannter Ritus

Ein nicht wissenschaftlicher, sondern praktischer Zugang zu einem noch heute äusserst lebendigen Ritus in der Diözese Lugano – dem ambrosianischen Ritus.

Die katholischen Diözesen der Schweiz im Mittelalter um ca. 1300. In den braun gefärbten Gebieten des Tessins wird bis heute im ambrosianischen Ritus gefeiert. (Bild: Wikipedia, Marco Zanoli)

 

Das Missverständnis, dass in der einen römischen Kirche nur der eine römische Ritus gefeiert wird, ist verständlich, wenn wir bedenken, dass wir an allen möglichen Ecken der Welt in einen katholischen Sonntagsgottesdienst sitzen können und sofort wissen, was und wie exakt gefeiert wird. Dass aber weniger als 15 Kilometer von unseren Bistumsgrenzen entfernt ein deutlich anderer Ritus gefeiert wird, wissen nur wenige. Die Gebiete und Gemeinden des Bistums Lugano, die während Jahrhunderten unter der politischen Hoheit der Mailänder Chorherren standen und damit später nicht zum Bistum Como gehörten, kennen bis heute den Ritus der Erzdiözese, den Rito Ambrosiano. Nebst einigen wenigen Pfarreien südlich Bellinzonas (etwa Brissago am Lago Maggiore und Ponte Capriasca samt dem Val Colla nordöstlich von Lugano) sind dies vor allem die «Tre Valli» im Sopraceneri mit all ihren Pfarreien, also die Leventina (von Airolo bis Pollegio), das Bleniotal (von Olivone bis Malvaglia) und die Riviera (von Biasca bis Castione).

Unterschiede im Ablauf

Natürlich ist auch die Art und Weise, in der die Eucharistie heute im ambrosianischen Ritus gefeiert wird, Folge der liturgischen Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanum. Aber danach fallen Unterschiede auf. Und mit ihnen können Missverständnisse beseitigt werden. Ein solches Missverständnis ist es, den Unterschied vor allem in den vom römischen Ritus abweichenden Teilen der Eucharistiefeier zu sehen. Diese existieren sehr wohl, sind aber leicht überschaubar:

  • Im Bussakt gibt es nur drei «Kyrie eleison» und kein «Christe eleison», diese drei «Kyrie» werden dann zur Antwort der Gemeinde auf den Segen des Priesters wiederholt.
  • Der Lektor holt sich vor den Lesungen den Segen des Zelebranten mit der Formulierung «Benedicimi, padre» («Segne mich, Vater»).
  • Der Friedensgruss mit Handreichen («Scambiatevi un segno di pace» – «Gebt euch ein Zeichen des Friedens») erfolgt nach den Fürbitten und vor der Gabenbereitung, doch wird nach dem Vaterunser auch das offizielle Friedensgebet vorgetragen.
  • Das Credo (immer das grosse Nizäno-Konstantinopolitanische) wird nach der Gabenbereitung gebetet.
  • Das Brotbrechen mit einem eigenen Gesang erfolgt nach der grossen Doxologie und vor dem Vaterunser, dementsprechend entfällt das Agnus Dei.

Einige dieser Details scheinen mir sinnvoller als wie im römischen Ritus: Gerade der Platz des Friedensgrusses zu Beginn der eigentlichen Eucharistie gemäss der Weisung Jesu (vgl. Mt 5,24) wird bei uns seit Längerem angemahnt. Und dass das Brechen der grossen Hostie nicht einfach so still und leise en passant erfolgt, scheint im Blick auf die Einsetzungsworte und deren theologische Interpretation (das gebrochene Brot symbolisiert den Gekreuzigten) ebenfalls einleuchtend.

All diese Umstellungen fallen nicht allzu schwer, sie sind schnell erlernbar und anwendbar. Die eigentliche Knacknuss liegt vielmehr bei zwei anderen wesentlichen Aspekten von Liturgie und Kirchenjahr.

Die Feineinteilung des Kirchenjahres

Der Advent im ambrosianischen Ritus umfasst sechs Wochen (die «quaresima di san Martino») und beginnt immer am Sonntag nach dem 11.11., deshalb eben «die vierzig Tage nach Sankt Martin» genannt. Die Adventssonntage tragen Themennamen: «La venuta del Signore» / «Il figlio del Regno» / «Le profezie adempiute» / «L’ingresso del Messia» / «Il precursore» / «La divina maternità della Beata Vergine»1. Das Fest der Heiligen Familie wird nach Epiphanie gefeiert und die Zeit bis zur Fastenzeit gehört als «tempo dopo l’Epifania» (Zeit nach Epiphanie) noch zum Weihnachtsfestkreis.

Heinz Angehrn

 

1 («Das Kommen des Herrn» / «Der Himmelssohn» / «Die erfüllten Verheissungen» / «Der Einzug des Messias» / «Der Vorläufer» / «Die Gottesmutter»).

Der ambrosianische Ritus wird auf den heiligen Ambrosius von Mailand zurückgeführt. Der Ritus wird im grössten Teil der Diözese Mailand, einigen angrenzenden Gebieten und in ungefähr fünfzig Pfarreien des Bistums Lugano verwendet.


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.