Die Medienkonferenz vom 12.9.2023, an der die von der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ) und der Vereinigung der Orden (KOVOS) in Auftrag gegebene Studie «Zum sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche» vorgestellt wurde, war in verschiedener Hinsicht ein Paukenschlag: Das Ausmass der Missbrauchsfälle überraschte viele nicht nur kirchenintern, sondern vor allem auch die zivile Gesellschaft, die empört die Fakten zur Kenntnis nahm, ausgiebig kommentierte und Forderungen erhob bis dahin, dass der Bundesrat die Untersuchung der Missbrauchsfälle an die Hand nehmen solle. Ein Paukenschlag war es auch in der Hinsicht, dass sich unverhofft viele Betroffene, die in ihrem Leiden Jahre und Jahrzehnte geschwiegen hatten, sich an den dafür eingerichteten Stellen meldeten. Und ein Einschnitt war es auch insofern, als kirchliche Reformen, die schon lange angemahnt wurden, nun gebündelt und entschiedener eingefordert wurden. Es ist nicht meine Absicht, den gesellschaftlichen, kirchlichen und politischen Wirkungen dieser Studie nachzugehen, auch nicht der Medienaufmerksamkeit, die sie verursacht hat. Diese Retrospektive wäre an sich eine Studie wert, nicht zuletzt, um auch die kirchlichen, oft nicht gelungenen Kommunikationsformen unter die Lupe zu nehmen. Nein, mein Blick richtet sich allein auf die Studie selbst, die bislang kaum einer kritischen Würdigung unterworfen wurde – mit einer Ausnahme.2 Ich werde die Studie aus einer gewissen kritischen, methodisch-wissenschaftlichen Perspektive betrachten. Diese methodische Fokussierung soll durch eine konsequente Aufarbeitung der Faktenlage zur besseren Wahrnehmung und zum Verständnis der persönlichen Betroffenheitsperspektive führen.3
Ziel der Studie
Die Autorinnen und Autoren haben sich vorgenommen, die Geschichte der Missbrauchsfälle im Umfeld der katholischen Kirche seit den 1950er-Jahren aufzuarbeiten.4 Es ist eine Pilotstudie in dem Sinne, dass Pisten gelegt, Baustellen und mögliche Forschungsgebiete bezeichnet werden, die in einer Nacharbeit vertieft werden sollen. Eine solche umfassende Forschungsarbeit darf allerdings kein Selbstzweck sein, denn dies führte zu einem geschichtlichen Voyeurismus, der letztlich mehr Blessuren zurücklässt als er Wege aus der desaströsen Situation aufzeigt. Wenn – wie jüngst geschehen – einzelne Beispiele von Pfarrgeistlichen vom Ende des 19. Jahrhunderts im Umkreis von Solothurn aus dem bischöflichen Archiv ausgegraben und publiziert werden, dient dies eher dem Empörungsjournalismus und weniger der ordentlichen Aufarbeitung, zeigt aber, dass wir es hier mit einem Phänomen historischen Ausmasses zu tun haben.
Eine Aufarbeitungsstudie muss verschiedenen Zielen gerecht werden. In der Abschlussstudie ist m. E. Folgendes genauer zu reflektieren: Unumstritten ist es Aufgabe einer solchen Geschichtsschreibung, (1) die Faktenlage sexueller Gewalt möglichst differenziert zu beschreiben, das Ausmass, die Ursachen und die Folgen von sexueller Gewalt zu erfassen und zu analysieren. Dies ist eine äusserst anspruchsvolle Arbeit – wie das Autorenteam ausführlich an Beispielen beschreibt –, denn die Faktengeschichte greift auf Quellen, Archivmaterialien und mündliche Narrative zurück, deren Qualität, Aussagewert und Wahrheitsgehalt eruiert werden müssen. Die Fakten sind (2) so aufzubereiten, dass aus den Geschehnissen und den Erkenntnissen der Vergangenheit Schlüsse für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen sind. Dabei kann es (3) nicht nur darum gehen, Fehler und Schuldverhalten direkt zu vermeiden, sondern auch darum, die Ursachen und Folgen der Missbrauchsgeschichte zu verstehen, um institutionell und auf überpersoneller Ebene Reformen einzuleiten. Wenn in diesem Zusammenhang von «Kulturwandel in der Kirche» die Rede ist, dann greift diese Vokabel zu hoch, denn ein kultureller Wandel vollzieht sich in konkreten Massnahmen (Änderung der Machtstruktur, Partizipation, Deklerikalisierung usw.). Allerdings ist ein «Mentalitätswandel» bzw. eine «Einstellungsänderung» im Umgang mit der Vergangenheit erforderlich (z. B. Offenlegung statt Vertuschung). Die Schwierigkeit einer solchen Studie liegt darin, die verschiedenen Perspektiven (Beschuldigten-Perspektive, Betroffenen-Perspektive, kirchliche wie gesellschaftliche Zusammenhänge) in einen verantwortlichen Ausgleich zu bringen. Jede dieser Perspektiven hat ihre eigenen psychologischen und sozialen Eigenheiten, die nicht ausgeblendet werden dürfen, selbst wenn eine Priorisierung der Betroffenen-Perspektive mit ihrer Leidens- und Unglücksgeschichte erfolgt.
Kontextuelle Geschichte
Das Forscherteam stützt sich vor allem auf Archivmaterialien: Sie bilden die entscheidende Faktenlage, um das Ausmass der Missbrauchsfälle zu eruieren. Es ist m. E. noch genauer und systematischer zu überlegen, wie die historischen Fakten in ihrem zeitlichen, räumlichen und kulturellen Umfeld analysiert und interpretiert werden können. Denn zunächst ist die «sexuelle Gewalt» leider ein ubiquitäres gesellschaftliches Phänomen, das mit moralischen und kulturellen Einstellungen zu tun hat, an der auch die kirchliche Gemeinschaft bis zu einem bestimmten Grad partizipiert und mitbestimmt hat. Den Kontext beachten heisst, dass man historische Ereignisse und Phänomene als solche in ihrer ganzen Dramatik wahrnimmt und sie auch in Beziehung zu ihrem Umfeld setzt, z. B. mit dem Faktum, dass ca. 25 Prozent sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche innerhalb der engsten Familie und ca. 50 Prozent im sozialen Nahraum des Bekanntenkreises stattfinden.5 Damit die Spezifität des katholischen Missbrauchsprofils deutlicher hervortritt, ist es notwendig, dass z. B. Institutionen (Justiz, Schulen, Vereine) bezüglich Vorkommen und Umgang von sexueller Gewaltanwendung verglichen werden, insbesondere jene mit ähnlichen Konstellationen wie der protestantischen Kirche, die offensichtlich deutlich weniger Formen sexuellen Fehlverhaltens aufweist. Es ist möglich, dass einige Merkmale und Faktoren der sexuellen Gewalt nicht auf die kirchliche Dimension zurückzuführen sind, sondern z. B. auf die soziale Schicht, die Vulnerabilität der Betroffenen, andere wiederum dürften kirchenspezifisch sein. Was ist ihnen gemeinsam? Wo liegen die Unterschiede? In der empirisch-soziologischen Forschung ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Untersuchungsgruppe Vergleichsgruppen gegenübergestellt werden, um aussagekräftige Resultate zu erhalten. Zusammenfassend: Die kontextuelle Geschichtsschreibung versucht die verschiedenen gesellschaftlichen und historischen Aspekte zu berücksichtigen, wie beispielsweise den Zeitraum (vorkonziliare Epoche, postkonziliare Epoche), die Kultur (sexuelle Revolution, libertäre Bewegungen, Liberalisierung der Pornoindustrie), die Politik und Justiz (ähnlicher Umgang mit Missbrauch). Es ist möglich, dass gesellschaftliche Entwicklungen das Muster der sexuellen Gewalt innerhalb der Kirche beeinflusst haben. Es gibt Beispiele genug aus den 80er- und 90er-Jahren, wie die Justiz nach ähnlichen Prinzipien wie Vertuschung und Versetzung gehandelt und damit ein ganzes kirchliches Verhaltensmuster gestützt hat. Für die französische historische Aufarbeitung der Missbrauchsfälle ist die Berücksichtigung der «Contextualité» und der «Temporalité» eine Selbstverständlichkeit.6 Dies dient dazu, Einzelhandlungen besser aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, darf aber keinesfalls dazu führen, die personelle wie institutionelle Verantwortung zu minimieren.
Grenzen der «Oral History»
Erfreulicherweise werden in die Studie auch die Stimmen der Betroffenen miteinbezogen. Diese als «Oral History» bekannte Methode ermöglicht es, die Perspektiven und Stimmen von Menschen zu vernehmen, die sonst in schriftlichen Quellen vernachlässigt oder ignoriert werden. Sie eröffnet neue Zugänge und Fragestellungen, die über die traditionellen Aspekte hinausgehen und Erlebnisvorgänge vor allem in ihrer psychologischen Qualität, in Emotionen und Deutungen zu Wort kommen lassen, die der Forschung sonst entgehen. Diese Methode, die m. E. einer eingehenden Reflexion bedarf, hat viele Vorteile, birgt aber auch etliche Schwierigkeiten. Die «Oral History» ist eine subjektive und kontextabhängige Quelle, die als unmittelbares Zeugnis ernst zu nehmen ist. Die Erinnerungen der Zeitzeugen bzw. Betroffenen sind – wie die Forschung mehrfach herausgestellt hat – von vielen Faktoren beeinflusst, z. B. vom Erinnerungsvermögen, Sprachvermögen, von ethisch-religiösen Einstellungen; nicht zuletzt werden Erinnerungen nach ihrem «emotionalen Erlebnisgehalt» (G. Roth) gruppiert und versprachlicht. Der Umgang mit dieser Zeugenschaft ist insofern heikel, als es zu jeder Zeit gilt, sie als subjektives Zeugnis ernst zu nehmen und sie nicht zu relativieren, selbst wenn Unstimmigkeiten auftreten. Auf der anderen Seite ist auch nicht ausser Acht zu lassen, dass die Rekonstruktion in der «Oral History» auch von den Forschenden mitbestimmt ist, da sie von Vorannahmen, Ausblendungen, Erwartungen und Interessen geleitet sein können, was eine besondere Aufmerksamkeit in der Analyse und Interpretation der Ergebnisse erforderlich macht. Die «Erinnerungsgeschichte» mit ihrer subjektiven Wahrheit, mit ihren eigenen Betroffenheiten, Motiven und Interessen erfordert, wenn immer möglich, einen Vergleich mit anderen Quellen der «Faktengeschichte». Das Verhältnis von «Erinnerungsgeschichte» und «Faktengeschichte» ist ein schwieriges, das aber reflektiert werden muss. Noch einmal: Beim überprüfenden Vergleich verschiedener Quellen geht es nicht darum, das subjektive Erleben der Betroffenen in all seinen Dimensionen der Dramatik in Frage zu ziehen, sondern sie durch eine Überprüfung auf ein intersubjektives Niveau zu heben, das die Erlebnisträger wie auch mögliche Beteiligte schützt, in ihr Recht bzw. Unrecht setzt. Als jahreslanges Mitglied einer der ersten Aufarbeitungskommissionen, die die Schweizer Kapuzinerprovinz ins Leben gerufen hat, war ich ernsthaft mit dem Konflikt der Erinnerungs- und Faktengeschichte konfrontiert. Im berühmt gewordenen Fall J. A. hat der Missbrauchte D. P. berichtet, er sei während vier Jahren im Kloster seines Heimatortes missbraucht worden, auch im Wissen und in einer gewissen Komplizenschaft der Mitbrüder.7 Aufgrund eines Vergleichs der Personallisten wie auch aufgrund der Befragung von Zeitzeugen stellte sich heraus, dass dies an dieser Örtlichkeit nur während zwei/drei Monaten der Fall gewesen sein konnte, dass der Täter aber von Genf aus ausserhalb des Klosters Gelegenheiten organisiert hatte. Damit soll nur gesagt sein, dass wir es hier mit einer wichtigen und gleichzeitig fragilen Quelle der Forschung zu tun haben, die wie jede andere Erkenntnisquelle unter einem «empathischen wie kritischen Vorbehalt» zu stehen hat. Diesbezüglich erwarte ich von der Studie einige methodische Klärungen.
Grenzen der historischen Forschung
Die Pilotstudie möchte das, was war, mit den Mitteln der Quellenforschung und der Befragung von Zeitzeugen rekonstruieren. Aus erkenntnistheoretischen Gründen kann dies jedoch nur multiperspektivisch geschehen. Die Fokussierung auf die Quellen erschwert z. B. die Berücksichtigung der subjektiven Täterperspektive, die hilfreich ist, um Motive, Strategien oder Rechtfertigungen derjenigen zu verstehen, die sexuelle Gewalt verübt haben. Es erstaunt daher umso mehr, dass nicht schon von Beginn an andere Disziplinen wie Psychologie, Sozialpsychologie oder gar die Psychiatrie miteinbezogen wurden. Die Psychologie kann zumindest in zweierlei Hinsicht wertvolle Dienste leisten: In der Studie wird mindestens von zwei Fällen berichtet, die auf stark pathologische Züge der Beschuldigten hinweisen, die allein etwa 100 Missbrauchsfälle von den 1002 erwähnten zu verantworten haben. Beispielsweise spielt die neuere psychologische Kenntnis, dass eine Kernpädophilie nicht heilbar ist, ein wichtiger Interpretationsfaktor. Für die Beschreibung, Einordnung und Interpretation sind psychologische Kategorien vor allem im Hinblick auf die Prävention äusserst hilfreich. Mit anderen Worten: Es lassen sich vermutlich Grundmuster (pädophile Präferenzstörungen, soziopathische Machtausübung, Abhängigkeitsmuster usw.) erkennen bzw. bestätigen, die bereits in anderen Studien benannt sind und einen anderen Verstehenshintergrund schaffen.8 Darüber hinaus ist die Psychologie im Hinblick auf die Prävention in der Lage, psychosoziale Faktoren zu benennen, die den Missbrauch befördern oder auch behindern können: individuelle Merkmale, sexuelle Orientierungen, familiäres Umfeld, soziale Netzwerke.
Differenzierungen
Die Pilotstudie hält fest, dass die untersuchten Verdachtsfälle eine grosse Bandbreite aufweisen: die sexuellen Übergriffe reichen von verbalen Belästigungen, flüchtigen Berührungen, Manipulationen am Genitalbereich bis hin zu schwersten Formen sexueller Gewalt. Publikumswirksam wird von 1002 Verdachtsfällen gesprochen, die dieses ganze Feld sexueller Gewalt umfassen, was ein falsches Bild vermittelt. Eine gewisse Kategorisierung ist notwendig, um dem jeweiligen Schweregrad und der jeweiligen Altersgruppe einigermassen gerecht zu werden. Die zivile Rechtsgemeinschaft unterscheidet grundsätzlich zwischen sexuellen Handlungen mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 18 Jahren, und sexuellen Handlungen an Erwachsenen ab 18 Jahren. Die Sanktionen und die Strafverfahren sind daher unterschiedlich gestaltet, weil dem Entwicklungsstand der betroffenen Person Rechnung getragen wird; sexuelle Gewalt an Kindern ist besonders verwerflich, da sie die Handlungen an ihnen, die ihre psychische und physische Integrität verletzen, nicht einzuordnen wissen. Dagegen geht die Rechtsordnung davon aus, dass Personen, die ihre Volljährigkeit erlangt haben, in der Regel mehr kognitive und psychische Ressourcen besitzen, um Situationen sexueller Gewalt erkennen und evtl. auch reagieren zu können. Aus dem Blickwinkel der Betroffenen ist es allerdings problematisch, eine Abstufung der Schwere sexueller Gewalt vorzunehmen, da Übergriffe je unterschiedliche persönliche Folgen haben können. Sie bedeuten immer eine Verletzung der eigenen Würde, die unterschiedlich erfahren wird. Genau vor diesem Dilemma, beide Ebenen miteinander in Verbindung zu bringen, scheint mir die Studie zu stehen. Wenn Fallbeispiele von sexueller Gewalt an Jugendlichen im Internat und von unklaren lesbischen Abhängigkeitsverhältnissen von Nonnen nebeneinander gestellt werden, macht dies wenig Sinn. Bei aller Schwierigkeit scheint es mir dennoch wichtig zu sein, Altersgruppen im Sinne der Rechtsordnung zu unterscheiden, um ihren spezifischen Bedürfnissen und Verletzlichkeiten, ihrem Entwicklungsstand und ihren Verarbeitungsmöglichkeiten gerecht zu werden. Viele Missbrauchsstudien, z. B. die deutsche MHG-Studie, beschränken sich auf sexuelle Vergehen an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und orientieren sich mit gutem Recht an der zivilen Rechtsordnung. Studien zu Erwachsenen unterliegen anderen Gesetzlichkeiten, was wohl separate Studien erfordert, auch wenn klar ist, dass es bei diesen Handlungen, egal um welche Altersgruppe es sich handelt, um – im weitesten Sinne – Abhängigkeitsverhältnisse geht, die zu Missverhalten führen. Hier gibt es Klärungsbedarf.
Präzisierung der Ursachen
In den vergleichbaren Studien werden übereinstimmend mögliche «katholische» Faktoren benannt, die das Missbrauchsverhalten bestimmen: die Struktur und Kultur der katholischen Kirche mit ihrer hierarchischen und patriarchalen Ordnung, die wenig Raum lässt für Partizipation, Kontrolle und Kritik; die Zölibatspflicht, die Kompensationshandlungen eher begünstigt; die Sexualmoral und Sexualerziehung, die auf einer normativ-restriktiven Sicht der Sexualität basiert und wenig Raum lässt für Vielfalt und Entfaltung. Diese vermutlich wichtigsten Faktoren, die auch unterschiedlich gewichtet werden, bedürfen in der Pilotstudie der weiteren Präzisierung (S. 78–82). Ich greife einen Punkt heraus: Wenn es heisst, «besonders die katholische Sexualmoral ist ein wichtiges Charakteristikum, das sich […] auf den sexuellen Missbrauch auswirkte» (S. 80), dann ist dies wenig aussagekräftig. Es ist nämlich davon auszugehen, dass es seit Ende der 60er-Jahre eine Gleichzeitigkeit der ungleichzeitigen Sexualmoralen gibt. Etwas schematisierend kann durchaus von einem leibdistanzierten, dualistisch-manichäischen Modell gesprochen werden, so wie es im «Katechismus der Katholischen Kirche» von 2005 exemplarisch greifbar wird. Seither hat sich in Lehre und Forschung quasi parallel eine personalistische Sicht entwickelt, die Sexualität nicht mehr unter dem Vorbehalt der Sünde bzw. der ausschliesslichen Zeugungsfunktion, sondern im Zeichen der Positivität zu verstehen versucht. Zu erwähnen sind hier die Aufbrüche in den Synoden der 70er-Jahre, mutige Stellungnahmen von Theologen wie Stefan Pfürtner (1972) oder die offenen Positionen einer Marianne Heimbach-Steins oder eines Martin Lintner (2023). Es ist mir im deutschen Sprachraum kaum ein Kollege oder eine Kollegin bekannt, der/die sich in der Ausbildung von Studierenden in der Theologie am Modell des Katechismus orientiert hätte. Welchen Einfluss soll die kirchliche Morallehre auf alle jene ausgeübt haben, welche die Studien in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Moralgeschichte seit den 70er-Jahren, d. h. in der postkonziliaren Zeit, durchlaufen haben? Es gibt daher durchaus Stimmen (z. B. Katharina Westerhorstmann), die dafür plädieren, die Sexualmoral «tel quel» nicht für das sexuelle Fehlverhalten verantwortlich zu machen, sondern die Ursache eher in der unmittelbaren Seminarausbildung junger Theologen zu suchen, welche sie möglicherweise zu wenig auf die zölibatäre Existenzweise vorbereitet hat und möglicherweise Themen der psychosexuellen Reifung (z. B. Autoerotik, Homosexualität, pädophile Orientierung) zu wenig thematisiert hat. Hier tut sich m. E. ein weites Forschungsfeld auf.
Die quellen- und ursachenbasierte Geschichtsforschung klammert aus methodischen Gründen den anthropologischen Aspekt aus, dass eine humane, verantwortliche und personale Integration und Gestaltung der Sexualität, gerade weil sie zur starken Grundausstattung des Menschen gehört, zu einer der delikatesten Aufgaben der Lebensgestaltung gehört. Folgerungen für eine substanzielle Prävention – das ist eines der Hauptziele der Studie – werden daher umso realistischer und wirksamer, wenn sie eingebettet sind in die Reflexion dieses Grunddatums menschlicher Existenz oder sie zumindest anstossen und Pisten anzeigen. Das ist ein Grund mehr, die Humanwissenschaften miteinzubeziehen. Ein Anknüpfungspunkt für die Theologie!
Adrian Holderegger