Differenzierungen sind notwendig

Sind die Würde der Tiere und die Würde des Menschen einerlei? Ein Blick in die schweizerische Verfassungsgeschichte zeigt, wie der Begriff «Würde der Kreatur» für heftige Debatten sorgte.

Zunehmend ist von der Würde der Tiere die Rede. Immer mehr Menschen können dieser Rede etwas abgewinnen. Dabei denken die meisten zuerst an ihre Haustiere, allen voran Hunde und Katzen. Sie dienen nicht nur als Spielgefährten der Kinder, sondern ersetzen auch immer öfter Kinder oder Lebensgefährten, um das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und Fürsorge zu befriedigen. Haustiere werden nicht selten zur einzigen Quelle für die Erfahrung von Vertrautheit und Nähe, die heute mit anderen Menschen immer schwieriger herzustellen scheint. Liegt es da nicht nahe, den treuen tierischen Gefährten Würde zuzuschreiben, die der Mensch allzu oft zu verspielen scheint? Aber was ist mit einer Tierwürde genau gemeint?

Lauritz Smith – ein Vordenker

Tatsächlich lässt sich der Ausdruck «Würde der Tiere» schon Ende des 18. Jahrhunderts nachweisen, nämlich in der Schrift von den «Pflichten des Menschen gegen die Thiere» des dänischen protestantischen Theologen Lauritz Smith (1754–1794). Smith erklärt, dass die «Würde der Thiere» darin bestehe, zum Ganzen der Schöpfung beizutragen. Hier klingen die physikotheologischen Anfänge eines ökologischen Denkens vom «Haushalt der Natur» und vom «Netz des Lebens» an, in dem keine Tierart fehlen darf. In der nur drei Jahre später erscheinenden, viel umfangreicheren zweiten Auflage seiner Schrift entwickelt Smith diese Bemerkung zu seiner Lehre von der zweifachen Würde der Tiere weiter. Nun unterscheidet er nämlich die protoökologisch nur «relative Würde» der Tierarten von einer «absoluten Würde» der empfindungs- und somit glücksfähigen Tierindividuen. Smith behauptet sogar eine naturgegebene «Pflicht» der Tiere, «Freude und Glück und Zufriedenheit mit seinem Zustande zu suchen», wie es auch «der Natur zufolge die Pflicht des Menschen» sei, sein Glück zu suchen. Smith nähert sich der Vorstellung eines naturrechtlich begründeten Individualrechts auf die Verfolgung seines Glücks für Tiere, wie sie erstmals 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung für Menschen zu finden ist: das Recht auf «pursuit of happiness» (das Streben nach Glück). Er kann mit seiner Entfaltung der «absoluten Würde» von Tieren, obwohl er im Wortlaut noch der tradi- tionelleren Rede von «Pflichten» verhaftet bleibt, als einer der Vordenker individueller Tierrechte gelten, parallel zu der Entstehung der Idee individueller Menschenrechte. Allerdings spielte in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen im ausgehenden 18. Jahrhundert der Begriff der Menschenwürde noch keine Rolle. Erst in der Präambel der UNO- Menschenrechtserklärung von 1948 dient die Menschenwürde zur Begründung von Menschenrechten. Diese Begründungsfigur nahmen die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes 1949 erstmals in eine Verfassung auf. Seither folgten viele nationale Verfassungen dem deutschen Vorbild, 1999 auch ganz explizit die Schweiz im Zuge ihrer verfassungsrechtlichen Generalrevision.

Wie «Würde» in die Verfassung kam

Ein wichtiger Impuls für die Schweizer Juristen, die Menschenwürde vom bis dato ungeschriebenen nun auch zum geschriebenen Verfassungsgrundsatz zu machen, war, dass sich 1992 ein neuer Ausdruck in die schweizerische Bundesverfassung (SBV) eingeschrieben hatte: die «Würde der Kreatur». Wie aus dem Nichts stand dieser Begriff auf einmal in Art. 24novies Abs. 3 SBV, und zwar in unmittelbarer Nähe zu dem damals erstmals explizit in der SBV erwähnten Begriff der Menschenwürde, nämlich in Art. 24novies Abs. 2. Zur Aufnahme der beiden Würdebegriffe in die SBV kam es im Zuge einer 1989 gestarteten Volksinitiative für den Schutz der Menschenwürde vor Missbräuchen in der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie. Da potenziell Menschenwürde gefährdende Techniken an pflanzlichen und tierischen Organismen entwickelt und von dort auf den Humanbereich übertragen werden können, wurde der Schutzbereich auf Pflanzen, Tiere und andere Organismen erweitert und gefordert, der Würde der Kreatur Rechnung zu tragen (Art. 24novies Abs. 3 SBV), um so die Würde des Menschen noch effektiver zu schützen. Doch schon kurz danach entbrannte eine heftige Diskussion über die Bedeutung der «Würde der Kreatur» und ihrer Beziehung zum Begriff der Menschenwürde. Das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) gab zwei Gutachten in Auftrag, um die Frage zu klären. Das erste Gutachten kam zum Schluss, dass «Würde» in dem Artikel stets dasselbe bedeute, unabhängig ob sie nun vom Menschen oder von der Kreatur ausgesagt würde. Das zweite Gutachten behauptete das Gegenteil. Die Ratlosigkeit war gross.

Irgendwie hing die «Würde der Kreatur» in den Jahren der Beratungen über Art. 24novies in der Luft. 1989 tagte in Basel die europäische Versammlung des 1983 vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ausgerufenen «Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung». Umweltverschmutzung, Artensterben, Massentierhaltung u. a. m. erfüllten die Öffentlichkeit mit Sorge. Mit lauter Stimme ermahnten insbesondere die protestantischen Kirchen die Politiker zur Bewahrung der Schöpfung. Die Rückbesinnung auf schöpfungstheologische Ansätze, u. a. auch auf die Schöpfungstheologie des bedeutenden Schweizer Theo- logen Karl Barth, förderte neben der Wiedererinnerung eines Bewusstseins der Mitgeschöpflichkeit auch die bei Barth aufgehobene Rede von einer Würde der Tiere und der Pflanzen zutage. Allerdings differenziert Barth zwischen einer dem Wort Gottes verpflichteten spezifischen Würde des Menschen und der geschöpflichen Würde der nichtmenschlichen Kreaturen.

Werden diese Hinweise theologiegeschichtlich zurückverfolgt, so stösst man auf das Motiv der Spuren Gottes in der Schöpfung, mit dem der einflussreiche Kirchenvater Augustinus die in Gen 1,31 von Gott als «sehr gut» gewürdigten nichtmenschlichen Geschöpfe dem Menschen als Bild Gottes (Gen 1,26 f) gegenüberstellt. Den Ideen von der gottebenbildlichen Menschenwürde und von der kreatürlichen Würde liegen offensichtlich doch zwei voneinander zu unterscheidende theologische Begriffstraditionen zugrunde, deren positive Wertigkeit nur zufällig im Deutschen mit demselben Wort «Würde» belegt ist – ähnlich wie das Wort «Hahn» nicht dieselbe Bedeutung besitzt in den Begriffen «Hühnerhahn» und «Wasserhahn».

Von dignitas- und bonitas-Würde

Was bedeutet denn nun die spezifische Menschenwürde im Unterschied zur kreatürlichen Würde? Während Letztere die allen Kreaturen sowie der Schöpfung im Ganzen von Gott zugesprochene Gutheit zum Ausdruck bringt, akzentuiert die gottebenbildliche Menschenwürde die besondere Verantwortlichkeit des menschlichen Geschöpfs Gott gegenüber. Der Schöpfer beruft das Geschöpf Mensch zu seinem verantwortlichen Gegenüber (Gen 1,26 f), nicht zuletzt auch, um Rechenschaft zu geben über seinen Umgang mit den ihm anvertrauten Geschöpfen (Gen 1,28). Dieses menschliche Bewusstsein besonderer gottebenbildlicher Verantwortlichkeit identifizieren die Kirchenväter später mit der dignitas hominis in Ciceros Pflichtenschrift, sodass man die Würde in der Menschenwürde dann auch als Begriffstradition der dignitas-Würde (lat. Würde) identifizieren kann. Von den nichtmenschlichen Kreaturen wird eine solche Verantwortungs- fähigkeit nicht angenommen. Sie sind einfach gut, weil sie vom Schöpfer gut geschaffen worden sind und damit nach Augustinus als seine Spuren Gottes in der Schöpfung auf dessen Güte rückverweisen. Insofern kann auch von einer bonitas-Würde-Tradition (lat. Güte) gesprochen werden, die sich von Gen 1,31 über Augustinus bis hin zur «Würde der Kreatur» in der SBV verfolgen lässt und insbesondere von bestimmten Strömungen in der reformatorischen Theologie in das heutige Bewusstsein einer besonderen Verantwortung des Menschen für die Schöpfung im Ganzen und die empfindungs- und leidensfähigen Tiere im Besonderen getragen wurden – auch über Smiths Schrift der Pflichten gegen Tiere.

Verletzlich und verantwortlich

Doch der Begriff der «Würde der Kreatur» in der SBV bringt in unseren Zeiten biotechnischer Manipulationsmöglichkeiten zum Bewusstsein, dass auch der gottebenbildliche Mensch endliche, verletzbare Kreatur unter anderen Kreaturen ist und dass das, was er mit Pflanzen, Tieren und anderen Organismen macht, früher oder später auch mit Menschen gemacht werden kann. Darin besteht die gemeinsame Kreatürlichkeit. Aber nur der Mensch kann aufgrund seiner besonderen dignitas-Würde verantwortlich darüber entscheiden, ob er alles, was er technisch machen kann, auch machen darf und soll. Darin besteht der grundsätzliche Unterschied zur bonitas-Würde der Tiere, die dazu mahnt, die ursprüngliche Gutheit der Tiere als unsere Mitgeschöpfe zu respektieren. Dieser Aufgabe konkret nachzukommen, darum bemüht sich die 1998 eingesetzte Eidgenössische Kommission für Biotechnologie im Ausserhumanbereich.

Heike Baranzke

 

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«Würde der Kreatur?» Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Von Heike Baranzke. Würzburg 2001. ISBN: 978-3-8260-2333-0, CHF 86.90, www.verlag-koenigshausen-neumann.de


Heike Baranzke

Dr. Heike Baranzke (Jg. 1961) studierte katholische Theologie, Chemie, Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft und promovierte im Fach Moraltheologie an der Universität in Bonn (D). Sie lehrt theologische Ethik an der Bergischen Universität Wuppertal, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Gerontologische Pflege und Koordinatorin des DFG-Forschungsprojekts «Habitus in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz» (HALT) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar.