Die Vollmacht, Dämonen auszutreiben - dem Teufel vom Karren gefallen

Mitbürger und Mitbürgerinnen, denen seit ihrer Kindheit die Etikette anhängt, "dem Teufel vom Karren gefallen" zu sein, brechen seit einigen Jahren das Schweigen. Manche wurden in Heimen misshandelt und gefoltert, um angebliche Dämonen auszutreiben. "Man verbot uns, zu leiden", sagt Herr S., heute knapp über 60. Er erzählt, wie er im Heim nicht nur selber misshandelt, sondern auch an der Misshandlung eines anderen Kindes beteiligt wurde: Er musste es an den Armen festhalten, damit ihm die Nonnen eine kalte Dusche verabreichen konnten. Menschen, die heute um die 50 sind, wurden als Kind mit Medikamenten vollgestopft, um Verhaltensweisen auszutreiben, mit denen sie den Schmerz über die Trennung von ihrer Familie ausdrückten. An den gesundheitlichen Folgen leiden sie bis heute.

Eine Auseinandersetzung mit dem Evangelium, in dem von der Vollmacht der Jünger, unreine Geister auszutreiben, die Rede ist, muss solchen Erfahrungen standhalten. Sonst sind wir als Kirche nicht nur unglaubwürdig, sondern laufen Gefahr, uns "über das Wesen Gottes selbst" zu täuschen.1

In der Sendung "Club" vom 16. Juni 2015 im Schweizer Fernsehen richtete Guido Fluri, Unternehmer, ehemaliges Heimkind und Urheber der Wiedergutmachungsinitiative, einen eindringlichen Appell an die Kirchgemeinden und Pfarreien, stärker den Dialog mit den Menschen aufzunehmen, die ihr Leben lang unter solchen Erfahrungen gelitten haben. Viele hätten keinen Zugang mehr zum lieben Gott, weil sie unter seinem Dach grossen Missbrauch erlebt hätten. "Wenn ich den Wanderprediger vor 2000 Jahren anschaue, der eigentlich schutzlos eine Bergpredigt gehalten hat, und dann sehe ich diese Bistümer mit ihren Mauern, dann frage ich mich, ob Jesus noch in diese Kirche passt."

Wie Jesus unreine Geister austreibt

Wenn Jesus, gemäss der Auffassung bestimmter Krankheitsbilder in der damaligen Gesellschaft, Dämonen austreibt, dann geht es nie darum, einen Menschen zu stigmatisieren oder ruhigzustellen. Vielmehr bestätigt Jesus dem angeblich "Besessenen" und seiner Umgebung dessen Würde als Sohn oder Tochter Gottes. Damit verbunden ist der Ruf zur Umkehr, zu einer Veränderung der Beziehungen in einer Gesellschaft, die ihre schutzbedürftigsten Mitglieder ausschliesst, sie zu Sündenböcken macht und ihnen damit auch den Zugang zu Gott versperrt.

Kurz vor der Aussendung der Zwölf steht im Markusevangelium die Erzählung der Heilung des Besessenen von Gerasa. Ein Mann, der in den Grabmalen lebte und den niemand fesseln konnte, sitzt auf einmal ordentlich gekleidet da und gibt vernünftig Antwort. Der Geist, den Jesus ausgetrieben hat, nennt sich "Legion" – eine Anspielung auf die römische Besatzung. War der Mann oder vielleicht seine Familie von den Besatzern misshandelt worden? Hat er es nicht ertragen, dass sich die Dorfbewohner mit diesen arrangierten und dass einige vielleicht sogar wirtschaftlich von ihnen profitierten? Der Preis für seine Heilung ist der Verlust einer Schweineherde, die mitsamt dem Geist "Legion" in den See stürzt – worauf die Dorfbewohner Jesus bitten, doch lieber an einen andern Ort zu gehen.

Die Kostenfrage

"Es soll möglichst nichts kosten." Das war die Devise, wenn Kinder aus armen Familien bis in die siebziger Jahre bei Bauern verdingt wurden oder wenn es darum ging, die Heime mit Personal und Infrastruktur auszustatten, damit sie ihrer Aufgabe zum Wohl der Kinder gerecht werden konnten. Hat sich an dieser Haltung wirklich etwas geändert? Bezüger von Sozialhilfe oder IV-Renten stehen unter dem Pauschalverdacht zu betrügen. Für das nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut 2014–2018 wurden gerade mal 9 Millionen Franken bereitgestellt. Welchen Preis sind wir heute bereit zu bezahlen, damit kein Jugendlicher auf der Strecke bleibt, wenn es um den Zugang zu einer Ausbildung, einem Beruf und zu einer Arbeit geht?

Allzu oft wird Armut nur unter dem Aspekt des Mangels betrachtet: Mangel an Nahrung, Einkommen, Wohnung, Wissen … Diese Sichtweise verharmlost die damit einhergehende Diskriminierung und Misshandlung der Betroffenen, die Verweigerung ihrer Grundrechte, die Ausgrenzung und die Verachtung oft über Generationen hinweg, die so weit gehen können, den Betroffenen das Menschsein abzusprechen. Die Anerkennung der erlittenen Gewalt ist ein unerlässlicher Schritt zum Frieden. In diesem Sinn kann die Aufarbeitung von Fremdplatzierungen und anderen Zwangsmassnahmen in der Schweiz mit den Betroffenen und ihren Organisationen auch den Weg bahnen zur Überwindung von Elend, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut und an ihren Wurzeln.

Und noch ein Buchhinweis

"Es langs, langs Warteli für es goldigs Nüteli"2 überschreibt Nelly Schenker ihre Erinnerungen. Sie erzählt, wie sie als Kind mit ihrer Mutter in extremer Armut aufwuchs, wie sie auf Betreiben des Pfarrers "versorgt" wurde und wie sie ihr Leben lang um das Recht zu existieren gekämpft hat. Sie spricht auch von ihrem Glauben und von ihrem spirituellen Weg mit Père Joseph Wresinski (1917–1988), dem Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt. Ich empfehle dieses Buch allen, die in der Kirche nach Wegen suchen, um den Dialog aufzunehmen mit Menschen, die an den Folgen von Armut, Herabsetzung und Misshandlung leiden, und mit ihnen zusammen vielleicht auch das Wesen Gottes tiefer zu ergründen.

 

 

1 Joseph Wresinski: Die Armen – Begegnung mit dem lebendigen Gott. Münster 2008, 105.

2 Nelly Schenker: "Es langs, langs Warteli für es goldigs Nüteli." Meine Erinnerungen. Niedergeschrieben unter Mithilfe von Noldi Christen; mit einem Vorw. von Ruth Dreifuss und einem Nachw. von Eugen Brand. Basel. 2014.

 

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.